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Tieck, Ludwig: Franz Sternbald's Wanderungen. Bd. 2. Berlin, 1798.

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Verzeiht, antwortete der freundliche
Rustici, ich kann meine Natur nicht im¬
mer ganz beherrschen, und alle süßen Töne
der Instrumente und der Sängerin ziehen
sie zur Melancholie. Ich habe mich oft
gefragt: woher? warum? aber ich kann
mir selber keine Rechenschaft geben.

Ihr werdet vielleicht dadurch an trübse¬
lige Gegenstände erinnert, sagte Laura.

Nein, das ist es nicht, fuhr der Mah¬
ler fort, sondern mir ist im Gegentheil in¬
nerlich dann sehr wohl, meine Freude, die
wie ein gefangener Adler in Ketten gesessen
hat, schlägt nun mit einemmale die muntern,
tapfern Schwingen aus einander. Ich fühle,
wie die Kette zerreißt, die mich noch an der
Erde hielt, über die Wolken hinaus, über
die Bergspitzen hinüber, der Sonne entgegen
mein Flug gewendet. Aber nun verlieren
sich unter mir die Farben, und die Abwech¬

Verzeiht, antwortete der freundliche
Ruſtici, ich kann meine Natur nicht im¬
mer ganz beherrſchen, und alle ſüßen Töne
der Inſtrumente und der Sängerin ziehen
ſie zur Melancholie. Ich habe mich oft
gefragt: woher? warum? aber ich kann
mir ſelber keine Rechenſchaft geben.

Ihr werdet vielleicht dadurch an trübſe¬
lige Gegenſtände erinnert, ſagte Laura.

Nein, das iſt es nicht, fuhr der Mah¬
ler fort, ſondern mir iſt im Gegentheil in¬
nerlich dann ſehr wohl, meine Freude, die
wie ein gefangener Adler in Ketten geſeſſen
hat, ſchlägt nun mit einemmale die muntern,
tapfern Schwingen aus einander. Ich fühle,
wie die Kette zerreißt, die mich noch an der
Erde hielt, über die Wolken hinaus, über
die Bergſpitzen hinüber, der Sonne entgegen
mein Flug gewendet. Aber nun verlieren
ſich unter mir die Farben, und die Abwech¬

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[380/0388] Verzeiht, antwortete der freundliche Ruſtici, ich kann meine Natur nicht im¬ mer ganz beherrſchen, und alle ſüßen Töne der Inſtrumente und der Sängerin ziehen ſie zur Melancholie. Ich habe mich oft gefragt: woher? warum? aber ich kann mir ſelber keine Rechenſchaft geben. Ihr werdet vielleicht dadurch an trübſe¬ lige Gegenſtände erinnert, ſagte Laura. Nein, das iſt es nicht, fuhr der Mah¬ ler fort, ſondern mir iſt im Gegentheil in¬ nerlich dann ſehr wohl, meine Freude, die wie ein gefangener Adler in Ketten geſeſſen hat, ſchlägt nun mit einemmale die muntern, tapfern Schwingen aus einander. Ich fühle, wie die Kette zerreißt, die mich noch an der Erde hielt, über die Wolken hinaus, über die Bergſpitzen hinüber, der Sonne entgegen mein Flug gewendet. Aber nun verlieren ſich unter mir die Farben, und die Abwech¬

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Zitationshilfe: Tieck, Ludwig: Franz Sternbald's Wanderungen. Bd. 2. Berlin, 1798, S. 380. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tieck_sternbald02_1798/388>, abgerufen am 24.11.2024.