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Tiede, Johann Friedrich: Unterhaltungen mit Gott in den Abendstunden. Halle, 1775.

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Der 5te Mai.
walter! und fodert mir den Himmel ein. -- Ach! meine beste
Handlungen schrumpfen, bei der Sonne des göttlichen Worts,
wie abgestreiftes Laub zusammen. Jhre schöne Farbe wird un-
gestalt und immer falber, je länger ich sie an dieser Sonne be-
trachte. Jch war jenen Tag rechtschaffen: aber gab mir Gott
das Wollen und Vollbringen dazu nur auf Einen Tag? Sind die
übrigen schlechter verwandten Tage nicht meine künftige Richter?
Jch half Einem Armen redlich aus: aber hinter ihm stand ja noch
ein eben so Hülfsbedürftiger, und daneben noch zehn andre, die
übersah ich! Einen Thaler gebe ich Almosen: aber zehn bring ich
unverantwortlich durch, und zwanzig würde ich mich vieleicht nicht
schämen, auch mit halbem Rechte an mich zu bringen, das heißt:
halb und halb zu stehlen. Nur eine Frage an alle meine Tugen-
den: (und Gott wird diese Frage dereinst thun!) Warum übte
ich sie aus? War es auf Gottes, oder meinen Befehl? Ver-
langte ich den Himmel oder die Erde dafür? Waren sie Folgen
der Liebe und des Gehorsams gegen Gott: oder waren es Ränke
meiner Leidenschaften, welche die Tugend für eine Medaille hiel-
ten, die man mit Vortheil umsetzen könne? Ach! meine Men-
schenliebe ist meistens Marktgeld, das ich öffentlich da ausgebe,
wo ich die beste Waare auf der stelle zu bekommen hoffe.

Mittler zwischen dem Allerheiligsten und mir schnödem Sün-
der! verbirg mich mit allen meinen Sünden und Tugenden in dei-
ne blutige Wunden! Nicht mir, Herr! nicht mir, sondern deinem
göttlichen Verdienste sey Ehre und Anbetung. Wer sich vor dir
erniedriget, der wird erhöhet werden. Ach! könte ich doch mei-
nem Stolze jederzeit wehren; daß ich mir nie zueignete, was Got-
tes ist! Meine jetzige Abendandacht ist nur in so ferne Tugend,
als sie mit schamhafter Bereuung meiner Sünden verknüpfet ist.
Sollen meine Seufzer in den Himmel dringen, so mußt du sie,
mein Fürsprecher, erst geltend machen. Thu es, o Jesu! und
reinige meine besten Werke von ihren Flecken.

Der

Der 5te Mai.
walter! und fodert mir den Himmel ein. — Ach! meine beſte
Handlungen ſchrumpfen, bei der Sonne des goͤttlichen Worts,
wie abgeſtreiftes Laub zuſammen. Jhre ſchoͤne Farbe wird un-
geſtalt und immer falber, je laͤnger ich ſie an dieſer Sonne be-
trachte. Jch war jenen Tag rechtſchaffen: aber gab mir Gott
das Wollen und Vollbringen dazu nur auf Einen Tag? Sind die
uͤbrigen ſchlechter verwandten Tage nicht meine kuͤnftige Richter?
Jch half Einem Armen redlich aus: aber hinter ihm ſtand ja noch
ein eben ſo Huͤlfsbeduͤrftiger, und daneben noch zehn andre, die
uͤberſah ich! Einen Thaler gebe ich Almoſen: aber zehn bring ich
unverantwortlich durch, und zwanzig wuͤrde ich mich vieleicht nicht
ſchaͤmen, auch mit halbem Rechte an mich zu bringen, das heißt:
halb und halb zu ſtehlen. Nur eine Frage an alle meine Tugen-
den: (und Gott wird dieſe Frage dereinſt thun!) Warum uͤbte
ich ſie aus? War es auf Gottes, oder meinen Befehl? Ver-
langte ich den Himmel oder die Erde dafuͤr? Waren ſie Folgen
der Liebe und des Gehorſams gegen Gott: oder waren es Raͤnke
meiner Leidenſchaften, welche die Tugend fuͤr eine Medaille hiel-
ten, die man mit Vortheil umſetzen koͤnne? Ach! meine Men-
ſchenliebe iſt meiſtens Marktgeld, das ich oͤffentlich da ausgebe,
wo ich die beſte Waare auf der ſtelle zu bekommen hoffe.

Mittler zwiſchen dem Allerheiligſten und mir ſchnoͤdem Suͤn-
der! verbirg mich mit allen meinen Suͤnden und Tugenden in dei-
ne blutige Wunden! Nicht mir, Herr! nicht mir, ſondern deinem
goͤttlichen Verdienſte ſey Ehre und Anbetung. Wer ſich vor dir
erniedriget, der wird erhoͤhet werden. Ach! koͤnte ich doch mei-
nem Stolze jederzeit wehren; daß ich mir nie zueignete, was Got-
tes iſt! Meine jetzige Abendandacht iſt nur in ſo ferne Tugend,
als ſie mit ſchamhafter Bereuung meiner Suͤnden verknuͤpfet iſt.
Sollen meine Seufzer in den Himmel dringen, ſo mußt du ſie,
mein Fuͤrſprecher, erſt geltend machen. Thu es, o Jeſu! und
reinige meine beſten Werke von ihren Flecken.

Der
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[262[292]/0299] Der 5te Mai. walter! und fodert mir den Himmel ein. — Ach! meine beſte Handlungen ſchrumpfen, bei der Sonne des goͤttlichen Worts, wie abgeſtreiftes Laub zuſammen. Jhre ſchoͤne Farbe wird un- geſtalt und immer falber, je laͤnger ich ſie an dieſer Sonne be- trachte. Jch war jenen Tag rechtſchaffen: aber gab mir Gott das Wollen und Vollbringen dazu nur auf Einen Tag? Sind die uͤbrigen ſchlechter verwandten Tage nicht meine kuͤnftige Richter? Jch half Einem Armen redlich aus: aber hinter ihm ſtand ja noch ein eben ſo Huͤlfsbeduͤrftiger, und daneben noch zehn andre, die uͤberſah ich! Einen Thaler gebe ich Almoſen: aber zehn bring ich unverantwortlich durch, und zwanzig wuͤrde ich mich vieleicht nicht ſchaͤmen, auch mit halbem Rechte an mich zu bringen, das heißt: halb und halb zu ſtehlen. Nur eine Frage an alle meine Tugen- den: (und Gott wird dieſe Frage dereinſt thun!) Warum uͤbte ich ſie aus? War es auf Gottes, oder meinen Befehl? Ver- langte ich den Himmel oder die Erde dafuͤr? Waren ſie Folgen der Liebe und des Gehorſams gegen Gott: oder waren es Raͤnke meiner Leidenſchaften, welche die Tugend fuͤr eine Medaille hiel- ten, die man mit Vortheil umſetzen koͤnne? Ach! meine Men- ſchenliebe iſt meiſtens Marktgeld, das ich oͤffentlich da ausgebe, wo ich die beſte Waare auf der ſtelle zu bekommen hoffe. Mittler zwiſchen dem Allerheiligſten und mir ſchnoͤdem Suͤn- der! verbirg mich mit allen meinen Suͤnden und Tugenden in dei- ne blutige Wunden! Nicht mir, Herr! nicht mir, ſondern deinem goͤttlichen Verdienſte ſey Ehre und Anbetung. Wer ſich vor dir erniedriget, der wird erhoͤhet werden. Ach! koͤnte ich doch mei- nem Stolze jederzeit wehren; daß ich mir nie zueignete, was Got- tes iſt! Meine jetzige Abendandacht iſt nur in ſo ferne Tugend, als ſie mit ſchamhafter Bereuung meiner Suͤnden verknuͤpfet iſt. Sollen meine Seufzer in den Himmel dringen, ſo mußt du ſie, mein Fuͤrſprecher, erſt geltend machen. Thu es, o Jeſu! und reinige meine beſten Werke von ihren Flecken. Der

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Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




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Zitationshilfe: Tiede, Johann Friedrich: Unterhaltungen mit Gott in den Abendstunden. Halle, 1775, S. 262[292]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tiede_unterhaltungen01_1775/299>, abgerufen am 21.11.2024.