Empfinde, träges Herz! Des Höchsten dringende Liebe. Empfinde Lenz und Scherz: Nur nicht mit thierischem Triebe!
Frühlingssünden werden um desto gefährlicher, je unschul- diger die Reize und Gelegenheiten dazu scheinen. Was der März für die Gesundheit des Körpers ist, das ist der Mai für die Seele.
Es herschen jetzt Thorheiten, welche nahe an Sünden grän- zen, und die ein solches Bürgerrecht gewonnen haben, daß man sie kaum scheel ansehen darf. Frühlingskuren sind für Kränkliche von grossem Werth, für Gesunde von grosser Unbesonnenheit. Viele Menschen geniessen einer blühenden Gesundheit. Der Him- mel erwartet ihren brünstigen Dank dafür: aber sie lassen lieber Blut, trinken bittre Arzeneien und Brunnen, und quälen sich lie- ber mit der Diät der Kranken. Sie sind Geizigen gleich, welche nimmer genug haben: es soll ihnen auch in Zukunft kein Finger wehe thun. Sie wollen ihr Blut versüssen, flüßiger machen, verbessern, und wissen doch keinen Fehler desselben. Es gehöret aber gewiß eine Meisterhand dazu, den Gang einer künstlichen Maschine zu hemmen, hin und wieder daran zu rücken, und doch nichts zu verderben. Viele Thoren werden krank, weil sie ihre Gesundheit, zum Lobe Gottes, nicht erkennen wolten.
Müßiggang, zu grosse Sinnlichkeit und ausschweifendes Vergnügen sind noch kentlichere Sünden des Frühlings. Aller- dings locket uns die lachende Natur aus unsern dumpfigen Zim- mern heraus: aber kan sie den Auftrag haben, uns zu verführen, und zu schlüpfrigen Lustbarkeiten einzuladen? Landhaus und Gar-
ten
R 4
Der 6te Mai.
Empfinde, traͤges Herz! Des Hoͤchſten dringende Liebe. Empfinde Lenz und Scherz: Nur nicht mit thieriſchem Triebe!
Fruͤhlingsſuͤnden werden um deſto gefaͤhrlicher, je unſchul- diger die Reize und Gelegenheiten dazu ſcheinen. Was der Maͤrz fuͤr die Geſundheit des Koͤrpers iſt, das iſt der Mai fuͤr die Seele.
Es herſchen jetzt Thorheiten, welche nahe an Suͤnden graͤn- zen, und die ein ſolches Buͤrgerrecht gewonnen haben, daß man ſie kaum ſcheel anſehen darf. Fruͤhlingskuren ſind fuͤr Kraͤnkliche von groſſem Werth, fuͤr Geſunde von groſſer Unbeſonnenheit. Viele Menſchen genieſſen einer bluͤhenden Geſundheit. Der Him- mel erwartet ihren bruͤnſtigen Dank dafuͤr: aber ſie laſſen lieber Blut, trinken bittre Arzeneien und Brunnen, und quaͤlen ſich lie- ber mit der Diaͤt der Kranken. Sie ſind Geizigen gleich, welche nimmer genug haben: es ſoll ihnen auch in Zukunft kein Finger wehe thun. Sie wollen ihr Blut verſuͤſſen, fluͤßiger machen, verbeſſern, und wiſſen doch keinen Fehler deſſelben. Es gehoͤret aber gewiß eine Meiſterhand dazu, den Gang einer kuͤnſtlichen Maſchine zu hemmen, hin und wieder daran zu ruͤcken, und doch nichts zu verderben. Viele Thoren werden krank, weil ſie ihre Geſundheit, zum Lobe Gottes, nicht erkennen wolten.
Muͤßiggang, zu groſſe Sinnlichkeit und ausſchweifendes Vergnuͤgen ſind noch kentlichere Suͤnden des Fruͤhlings. Aller- dings locket uns die lachende Natur aus unſern dumpfigen Zim- mern heraus: aber kan ſie den Auftrag haben, uns zu verfuͤhren, und zu ſchluͤpfrigen Luſtbarkeiten einzuladen? Landhaus und Gar-
ten
R 4
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><pbfacs="#f0300"n="263[293]"/><milestonerendition="#hr"unit="section"/><lb/><divn="3"><head><hirendition="#b">Der 6<hirendition="#sup">te</hi> Mai.</hi></head><lb/><lgtype="poem"><l><hirendition="#in">E</hi>mpfinde, traͤges Herz!</l><lb/><l>Des Hoͤchſten dringende Liebe.</l><lb/><l>Empfinde Lenz und Scherz:</l><lb/><l>Nur nicht mit thieriſchem Triebe!</l></lg><lb/><milestonerendition="#hr"unit="section"/><lb/><p><hirendition="#in">F</hi><hirendition="#fr">ruͤhlingsſuͤnden</hi> werden um deſto gefaͤhrlicher, je unſchul-<lb/>
diger die Reize und Gelegenheiten dazu ſcheinen. Was der<lb/>
Maͤrz fuͤr die Geſundheit des Koͤrpers iſt, das iſt der Mai fuͤr<lb/>
die Seele.</p><lb/><p>Es herſchen jetzt Thorheiten, welche nahe an Suͤnden graͤn-<lb/>
zen, und die ein ſolches Buͤrgerrecht gewonnen haben, daß man<lb/>ſie kaum ſcheel anſehen darf. Fruͤhlingskuren ſind fuͤr Kraͤnkliche<lb/>
von groſſem Werth, fuͤr Geſunde von groſſer Unbeſonnenheit.<lb/>
Viele Menſchen genieſſen einer bluͤhenden Geſundheit. Der Him-<lb/>
mel erwartet ihren bruͤnſtigen Dank dafuͤr: aber ſie laſſen lieber<lb/>
Blut, trinken bittre Arzeneien und Brunnen, und quaͤlen ſich lie-<lb/>
ber mit der Diaͤt der Kranken. Sie ſind Geizigen gleich, welche<lb/>
nimmer genug haben: es ſoll ihnen auch in Zukunft kein Finger<lb/>
wehe thun. Sie wollen ihr Blut verſuͤſſen, fluͤßiger machen,<lb/>
verbeſſern, und wiſſen doch keinen Fehler deſſelben. Es gehoͤret<lb/>
aber gewiß eine Meiſterhand dazu, den Gang einer kuͤnſtlichen<lb/>
Maſchine zu hemmen, hin und wieder daran zu ruͤcken, und doch<lb/>
nichts zu verderben. Viele Thoren werden krank, weil ſie ihre<lb/>
Geſundheit, zum Lobe Gottes, nicht erkennen wolten.</p><lb/><p>Muͤßiggang, zu groſſe Sinnlichkeit und ausſchweifendes<lb/>
Vergnuͤgen ſind noch kentlichere Suͤnden des Fruͤhlings. Aller-<lb/>
dings locket uns die lachende Natur aus unſern dumpfigen Zim-<lb/>
mern heraus: aber kan ſie den Auftrag haben, uns zu verfuͤhren,<lb/>
und zu ſchluͤpfrigen Luſtbarkeiten einzuladen? Landhaus und Gar-<lb/><fwplace="bottom"type="sig">R 4</fw><fwplace="bottom"type="catch">ten</fw><lb/></p></div></div></div></body></text></TEI>
[263[293]/0300]
Der 6te Mai.
Empfinde, traͤges Herz!
Des Hoͤchſten dringende Liebe.
Empfinde Lenz und Scherz:
Nur nicht mit thieriſchem Triebe!
Fruͤhlingsſuͤnden werden um deſto gefaͤhrlicher, je unſchul-
diger die Reize und Gelegenheiten dazu ſcheinen. Was der
Maͤrz fuͤr die Geſundheit des Koͤrpers iſt, das iſt der Mai fuͤr
die Seele.
Es herſchen jetzt Thorheiten, welche nahe an Suͤnden graͤn-
zen, und die ein ſolches Buͤrgerrecht gewonnen haben, daß man
ſie kaum ſcheel anſehen darf. Fruͤhlingskuren ſind fuͤr Kraͤnkliche
von groſſem Werth, fuͤr Geſunde von groſſer Unbeſonnenheit.
Viele Menſchen genieſſen einer bluͤhenden Geſundheit. Der Him-
mel erwartet ihren bruͤnſtigen Dank dafuͤr: aber ſie laſſen lieber
Blut, trinken bittre Arzeneien und Brunnen, und quaͤlen ſich lie-
ber mit der Diaͤt der Kranken. Sie ſind Geizigen gleich, welche
nimmer genug haben: es ſoll ihnen auch in Zukunft kein Finger
wehe thun. Sie wollen ihr Blut verſuͤſſen, fluͤßiger machen,
verbeſſern, und wiſſen doch keinen Fehler deſſelben. Es gehoͤret
aber gewiß eine Meiſterhand dazu, den Gang einer kuͤnſtlichen
Maſchine zu hemmen, hin und wieder daran zu ruͤcken, und doch
nichts zu verderben. Viele Thoren werden krank, weil ſie ihre
Geſundheit, zum Lobe Gottes, nicht erkennen wolten.
Muͤßiggang, zu groſſe Sinnlichkeit und ausſchweifendes
Vergnuͤgen ſind noch kentlichere Suͤnden des Fruͤhlings. Aller-
dings locket uns die lachende Natur aus unſern dumpfigen Zim-
mern heraus: aber kan ſie den Auftrag haben, uns zu verfuͤhren,
und zu ſchluͤpfrigen Luſtbarkeiten einzuladen? Landhaus und Gar-
ten
R 4
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert.
Weitere Informationen …
Matthias Boenig, Benjamin Fiechter, Susanne Haaf, Li Xang: Bearbeitung und strukturelle Auszeichnung der durch die Grepect GmbH bereitgestellten Texttranskription.
(2023-05-24T12:24:22Z)
Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Tiede, Johann Friedrich: Unterhaltungen mit Gott in den Abendstunden. Halle, 1775, S. 263[293]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tiede_unterhaltungen01_1775/300>, abgerufen am 24.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.