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Tiede, Johann Friedrich: Unterhaltungen mit Gott in den Abendstunden. Halle, 1775.

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Der 6te Mai.
Empfinde, träges Herz!
Des Höchsten dringende Liebe.
Empfinde Lenz und Scherz:
Nur nicht mit thierischem Triebe!


Frühlingssünden werden um desto gefährlicher, je unschul-
diger die Reize und Gelegenheiten dazu scheinen. Was der
März für die Gesundheit des Körpers ist, das ist der Mai für
die Seele.

Es herschen jetzt Thorheiten, welche nahe an Sünden grän-
zen, und die ein solches Bürgerrecht gewonnen haben, daß man
sie kaum scheel ansehen darf. Frühlingskuren sind für Kränkliche
von grossem Werth, für Gesunde von grosser Unbesonnenheit.
Viele Menschen geniessen einer blühenden Gesundheit. Der Him-
mel erwartet ihren brünstigen Dank dafür: aber sie lassen lieber
Blut, trinken bittre Arzeneien und Brunnen, und quälen sich lie-
ber mit der Diät der Kranken. Sie sind Geizigen gleich, welche
nimmer genug haben: es soll ihnen auch in Zukunft kein Finger
wehe thun. Sie wollen ihr Blut versüssen, flüßiger machen,
verbessern, und wissen doch keinen Fehler desselben. Es gehöret
aber gewiß eine Meisterhand dazu, den Gang einer künstlichen
Maschine zu hemmen, hin und wieder daran zu rücken, und doch
nichts zu verderben. Viele Thoren werden krank, weil sie ihre
Gesundheit, zum Lobe Gottes, nicht erkennen wolten.

Müßiggang, zu grosse Sinnlichkeit und ausschweifendes
Vergnügen sind noch kentlichere Sünden des Frühlings. Aller-
dings locket uns die lachende Natur aus unsern dumpfigen Zim-
mern heraus: aber kan sie den Auftrag haben, uns zu verführen,
und zu schlüpfrigen Lustbarkeiten einzuladen? Landhaus und Gar-

ten
R 4


Der 6te Mai.
Empfinde, traͤges Herz!
Des Hoͤchſten dringende Liebe.
Empfinde Lenz und Scherz:
Nur nicht mit thieriſchem Triebe!


Fruͤhlingsſuͤnden werden um deſto gefaͤhrlicher, je unſchul-
diger die Reize und Gelegenheiten dazu ſcheinen. Was der
Maͤrz fuͤr die Geſundheit des Koͤrpers iſt, das iſt der Mai fuͤr
die Seele.

Es herſchen jetzt Thorheiten, welche nahe an Suͤnden graͤn-
zen, und die ein ſolches Buͤrgerrecht gewonnen haben, daß man
ſie kaum ſcheel anſehen darf. Fruͤhlingskuren ſind fuͤr Kraͤnkliche
von groſſem Werth, fuͤr Geſunde von groſſer Unbeſonnenheit.
Viele Menſchen genieſſen einer bluͤhenden Geſundheit. Der Him-
mel erwartet ihren bruͤnſtigen Dank dafuͤr: aber ſie laſſen lieber
Blut, trinken bittre Arzeneien und Brunnen, und quaͤlen ſich lie-
ber mit der Diaͤt der Kranken. Sie ſind Geizigen gleich, welche
nimmer genug haben: es ſoll ihnen auch in Zukunft kein Finger
wehe thun. Sie wollen ihr Blut verſuͤſſen, fluͤßiger machen,
verbeſſern, und wiſſen doch keinen Fehler deſſelben. Es gehoͤret
aber gewiß eine Meiſterhand dazu, den Gang einer kuͤnſtlichen
Maſchine zu hemmen, hin und wieder daran zu ruͤcken, und doch
nichts zu verderben. Viele Thoren werden krank, weil ſie ihre
Geſundheit, zum Lobe Gottes, nicht erkennen wolten.

Muͤßiggang, zu groſſe Sinnlichkeit und ausſchweifendes
Vergnuͤgen ſind noch kentlichere Suͤnden des Fruͤhlings. Aller-
dings locket uns die lachende Natur aus unſern dumpfigen Zim-
mern heraus: aber kan ſie den Auftrag haben, uns zu verfuͤhren,
und zu ſchluͤpfrigen Luſtbarkeiten einzuladen? Landhaus und Gar-

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[263[293]/0300] Der 6te Mai. Empfinde, traͤges Herz! Des Hoͤchſten dringende Liebe. Empfinde Lenz und Scherz: Nur nicht mit thieriſchem Triebe! Fruͤhlingsſuͤnden werden um deſto gefaͤhrlicher, je unſchul- diger die Reize und Gelegenheiten dazu ſcheinen. Was der Maͤrz fuͤr die Geſundheit des Koͤrpers iſt, das iſt der Mai fuͤr die Seele. Es herſchen jetzt Thorheiten, welche nahe an Suͤnden graͤn- zen, und die ein ſolches Buͤrgerrecht gewonnen haben, daß man ſie kaum ſcheel anſehen darf. Fruͤhlingskuren ſind fuͤr Kraͤnkliche von groſſem Werth, fuͤr Geſunde von groſſer Unbeſonnenheit. Viele Menſchen genieſſen einer bluͤhenden Geſundheit. Der Him- mel erwartet ihren bruͤnſtigen Dank dafuͤr: aber ſie laſſen lieber Blut, trinken bittre Arzeneien und Brunnen, und quaͤlen ſich lie- ber mit der Diaͤt der Kranken. Sie ſind Geizigen gleich, welche nimmer genug haben: es ſoll ihnen auch in Zukunft kein Finger wehe thun. Sie wollen ihr Blut verſuͤſſen, fluͤßiger machen, verbeſſern, und wiſſen doch keinen Fehler deſſelben. Es gehoͤret aber gewiß eine Meiſterhand dazu, den Gang einer kuͤnſtlichen Maſchine zu hemmen, hin und wieder daran zu ruͤcken, und doch nichts zu verderben. Viele Thoren werden krank, weil ſie ihre Geſundheit, zum Lobe Gottes, nicht erkennen wolten. Muͤßiggang, zu groſſe Sinnlichkeit und ausſchweifendes Vergnuͤgen ſind noch kentlichere Suͤnden des Fruͤhlings. Aller- dings locket uns die lachende Natur aus unſern dumpfigen Zim- mern heraus: aber kan ſie den Auftrag haben, uns zu verfuͤhren, und zu ſchluͤpfrigen Luſtbarkeiten einzuladen? Landhaus und Gar- ten R 4

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Zitationshilfe: Tiede, Johann Friedrich: Unterhaltungen mit Gott in den Abendstunden. Halle, 1775, S. 263[293]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tiede_unterhaltungen01_1775/300>, abgerufen am 24.11.2024.