Tiede, Johann Friedrich: Unterhaltungen mit Gott in den Abendstunden. Halle, 1775.Der 6te Mai. ten verlieren ihre Reize, wenn die Almosen darin verprasset wer[unleserliches Material - 1 Zeichen fehlt]den, auf welche Nothleidende angewiesen waren. Wir können mit unverletztem Gewissen nur bis auf einen gewissen Grad scherzen; was drüber ist, heißet Ausschweifung. Wer bis in den spätsten Abend der Nachtigall zugehöret, erkältet sich leicht und über- wacht sich. Das hauptsächlichste Laster aber in dieser Jahrszeit ist die Liebreicher Gott! erhalt mich dir getreu bei allen Versu- Der
Der 6te Mai. ten verlieren ihre Reize, wenn die Almoſen darin verpraſſet wer[unleserliches Material – 1 Zeichen fehlt]den, auf welche Nothleidende angewieſen waren. Wir koͤnnen mit unverletztem Gewiſſen nur bis auf einen gewiſſen Grad ſcherzen; was druͤber iſt, heißet Ausſchweifung. Wer bis in den ſpaͤtſten Abend der Nachtigall zugehoͤret, erkaͤltet ſich leicht und uͤber- wacht ſich. Das hauptſaͤchlichſte Laſter aber in dieſer Jahrszeit iſt die Liebreicher Gott! erhalt mich dir getreu bei allen Verſu- Der
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Der 6te Mai.
ten verlieren ihre Reize, wenn die Almoſen darin verpraſſet wer_
den, auf welche Nothleidende angewieſen waren. Wir koͤnnen mit
unverletztem Gewiſſen nur bis auf einen gewiſſen Grad ſcherzen;
was druͤber iſt, heißet Ausſchweifung. Wer bis in den ſpaͤtſten
Abend der Nachtigall zugehoͤret, erkaͤltet ſich leicht und uͤber-
wacht ſich.
Das hauptſaͤchlichſte Laſter aber in dieſer Jahrszeit iſt die
Undankbarkeit gegen Gott. Beim lauten frohlockenden Getuͤmmel
der Schoͤpfung ſtumm zu ſeyn, iſt Hochverrath und halsſtarrige
Fuͤhlloſigkeit. Nichts als goͤttliche Guͤte einathmen; allenthal-
ben die hoͤchſte Macht und Weisheit ſehen und fuͤhlen; im Son-
nenſchein ſich waͤrmen, und dennoch kalt und gedankenlos bleiben,
und ſich nicht ſeines Gottes freuen: hoͤher kan Undank und Suͤn-
de nicht getrieben werden. Das heißt: mit der Eule im verfall-
nen Gemaͤuer ſitzen und den Tag verſchlafen. Der Lenz bewir-
thet uns praͤchtig, aber gewiß auf unſre Koſten. Wer nicht mit
Dank bezahlet, muß kuͤnftig mit Gewiſſensbiſſen bezahlen. Aber,
wird auch wol in einem Monat mehr geſuͤndiget, als in dem, der
den meiſten Dank von uns heiſchet?
Liebreicher Gott! erhalt mich dir getreu bei allen Verſu-
chungen des Fruͤhlings! Nicht mich, ſondern deine Groͤſſe laß
mich in deinen Werken ſuchen und finden. Was hilft es dem
Miſſethaͤter, welchen man durch ſchoͤne Alleen und Blumengaͤnge
zum Schafott fuͤhret? Und was haͤlfe mirs, jetzt unter den Kon-
zerten des Waldes, unter den Wohlgeruͤchen der Gaͤrten einher-
zugehen, wenn ich dennoch zur Hoͤlle wanderte! Ohne die Liebe
meines Erloͤſers iſt alles Einoͤde und Kerker. Nim du alſo,
mein Heiland! den Fluch von mir hinweg, damit ich nicht Dor-
nen und Diſteln trage! Vertreib die Kaͤlte und Finſterniß aus
meinem Gemuͤth: alsdann wird es auch Fruͤhling in meiner Seele
werden. Jch will betend jetzt einſchlafen, und morgen aufs
neue ſchmecken und ſehen, wie freundlich der Herr ſey!
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(2023-05-24T12:24:22Z)
Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Britt-Marie Schuster, Alexander Geyken, Susanne Haaf, Christopher Georgi, Frauke Thielert, Linda Kirsten, t.evo: Die Evolution von komplexen Textmustern: Aufbau eines Korpus historischer Zeitungen zur Untersuchung der Mehrdimensionalität des Textmusterwandels
Weitere Informationen:Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.
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