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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 1: Bis zum zweiten Pariser Frieden. Leipzig, 1879.

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Blüchers zweiter Marsch auf Paris.
vertragswidrigen Sonderverhandlungen mit verdächtigem Eifer ein. Wollt
Ihr noch immer, so fragte Berthier den Oberfeldherrn der Alliirten, Euer
reinstes Blut vergießen um die übel berechnete Rachsucht Rußlands und
die selbstsüchtige Politik Englands zu befriedigen? Die Angst vor der
Uebermacht des Czaren lastete schwer und schwerer auf dem Wiener Ca-
binette. Das Gleichgewicht in Osteuropa zu sichern -- dies bezeichnete
Gentz in seinen Briefen an Karadja als die Hauptaufgabe der nächsten
Zukunft; ein Friede, der den Franzosen das linke Rheinufer überlasse,
sei immer noch weniger traurig als der Sturz Napoleons. Und was
anders als die Entthronung des Schwiegersohnes konnte die Folge sein
wenn der Zug der Schlesier gelang? Die Unmöglichkeit mit diesem Manne
einen ehrlichen Frieden zu schließen ließ sich seit den Erfahrungen von
Chatillon nicht mehr verkennen. Der Mensch muß herunter! -- darüber
war nur eine Stimme in der preußischen Armee. Und schon traten seine
glücklichen Erben auf den Schauplatz; der Graf von Artois erschien in
Frankreich, im Rücken der verbündeten Heere und fand an Stein einen
warmen Fürsprecher. Der deutsche Staatsmann wußte wohl, welch ein
Wagniß es sei ein Herrscherhaus, das einer längst versunkenen Zeit an-
gehörte, zurückzuführen. Der Czar haßte die steife Hoffart der Bour-
bonen, der König liebte sie nicht; unter den verbündeten Monarchen
zeigte allein der welfische Prinzregent, als unbedingter Anhänger des
göttlichen Königsrechts, lebhaften Eifer für die alte Dynastie. Gleichwohl
gewann ihre Sache täglich an Boden, denn Niemand wußte einen anderen
Nachfolger für Napoleon vorzuschlagen.

Um so ängstlicher ging Oesterreich der Entscheidung aus dem Wege.
Hatte man den Zug Blüchers leider nicht verhindern können, so durfte
mindestens Schwarzenberg nichts Entscheidendes wagen. Seine Truppen
fühlten sich schon ganz niedergeschlagen von dem ewigen Rückzuge und
den ziellosen Hin- und Hermärschen. In der zweiten Hälfte des Decem-
bers waren die Spitzen der großen Armee in Frankreich eingerückt, und
jetzt, nach mehr als zwei Monaten, hatten diese gewaltigen Massen noch
keine einzige Schlacht geschlagen. Wie ein Nebelbild schien die nahe
Hauptstadt vor den Augen der Entmuthigten zu verschwinden. Da seht
Ihr was der Schrecken ist -- sagte Napoleon befriedigt zu seiner Garde.
Auch als am 27. Februar das Corps Oudinots, eine lächerliche Minder-
zahl, bei Bar auf den Höhen über der Aube erschien, vermied Schwarzen-
berg abermals die Schlacht, räumte Bar, ließ die Feinde sich gemächlich
in der Stadt und im Thale der Aube ausbreiten. Da verlor endlich
König Friedrich Wilhelm die Geduld, überwand seine Schüchternheit und
zeigte wieder wie bei Kulm sein gesundes militärisches Urtheil. Er
zwang den Oberfeldherrn den Angriff zu befehlen. Mit lautem Jubel
vernahmen die Soldaten die heißersehnte Kunde. Obwohl der Oester-
reicher allzuspät und nur mit einem Theile seines Heeres das Treffen

Treitschke, Deutsche Geschichte. I. 35

Blüchers zweiter Marſch auf Paris.
vertragswidrigen Sonderverhandlungen mit verdächtigem Eifer ein. Wollt
Ihr noch immer, ſo fragte Berthier den Oberfeldherrn der Alliirten, Euer
reinſtes Blut vergießen um die übel berechnete Rachſucht Rußlands und
die ſelbſtſüchtige Politik Englands zu befriedigen? Die Angſt vor der
Uebermacht des Czaren laſtete ſchwer und ſchwerer auf dem Wiener Ca-
binette. Das Gleichgewicht in Oſteuropa zu ſichern — dies bezeichnete
Gentz in ſeinen Briefen an Karadja als die Hauptaufgabe der nächſten
Zukunft; ein Friede, der den Franzoſen das linke Rheinufer überlaſſe,
ſei immer noch weniger traurig als der Sturz Napoleons. Und was
anders als die Entthronung des Schwiegerſohnes konnte die Folge ſein
wenn der Zug der Schleſier gelang? Die Unmöglichkeit mit dieſem Manne
einen ehrlichen Frieden zu ſchließen ließ ſich ſeit den Erfahrungen von
Chatillon nicht mehr verkennen. Der Menſch muß herunter! — darüber
war nur eine Stimme in der preußiſchen Armee. Und ſchon traten ſeine
glücklichen Erben auf den Schauplatz; der Graf von Artois erſchien in
Frankreich, im Rücken der verbündeten Heere und fand an Stein einen
warmen Fürſprecher. Der deutſche Staatsmann wußte wohl, welch ein
Wagniß es ſei ein Herrſcherhaus, das einer längſt verſunkenen Zeit an-
gehörte, zurückzuführen. Der Czar haßte die ſteife Hoffart der Bour-
bonen, der König liebte ſie nicht; unter den verbündeten Monarchen
zeigte allein der welfiſche Prinzregent, als unbedingter Anhänger des
göttlichen Königsrechts, lebhaften Eifer für die alte Dynaſtie. Gleichwohl
gewann ihre Sache täglich an Boden, denn Niemand wußte einen anderen
Nachfolger für Napoleon vorzuſchlagen.

Um ſo ängſtlicher ging Oeſterreich der Entſcheidung aus dem Wege.
Hatte man den Zug Blüchers leider nicht verhindern können, ſo durfte
mindeſtens Schwarzenberg nichts Entſcheidendes wagen. Seine Truppen
fühlten ſich ſchon ganz niedergeſchlagen von dem ewigen Rückzuge und
den zielloſen Hin- und Hermärſchen. In der zweiten Hälfte des Decem-
bers waren die Spitzen der großen Armee in Frankreich eingerückt, und
jetzt, nach mehr als zwei Monaten, hatten dieſe gewaltigen Maſſen noch
keine einzige Schlacht geſchlagen. Wie ein Nebelbild ſchien die nahe
Hauptſtadt vor den Augen der Entmuthigten zu verſchwinden. Da ſeht
Ihr was der Schrecken iſt — ſagte Napoleon befriedigt zu ſeiner Garde.
Auch als am 27. Februar das Corps Oudinots, eine lächerliche Minder-
zahl, bei Bar auf den Höhen über der Aube erſchien, vermied Schwarzen-
berg abermals die Schlacht, räumte Bar, ließ die Feinde ſich gemächlich
in der Stadt und im Thale der Aube ausbreiten. Da verlor endlich
König Friedrich Wilhelm die Geduld, überwand ſeine Schüchternheit und
zeigte wieder wie bei Kulm ſein geſundes militäriſches Urtheil. Er
zwang den Oberfeldherrn den Angriff zu befehlen. Mit lautem Jubel
vernahmen die Soldaten die heißerſehnte Kunde. Obwohl der Oeſter-
reicher allzuſpät und nur mit einem Theile ſeines Heeres das Treffen

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[545/0561] Blüchers zweiter Marſch auf Paris. vertragswidrigen Sonderverhandlungen mit verdächtigem Eifer ein. Wollt Ihr noch immer, ſo fragte Berthier den Oberfeldherrn der Alliirten, Euer reinſtes Blut vergießen um die übel berechnete Rachſucht Rußlands und die ſelbſtſüchtige Politik Englands zu befriedigen? Die Angſt vor der Uebermacht des Czaren laſtete ſchwer und ſchwerer auf dem Wiener Ca- binette. Das Gleichgewicht in Oſteuropa zu ſichern — dies bezeichnete Gentz in ſeinen Briefen an Karadja als die Hauptaufgabe der nächſten Zukunft; ein Friede, der den Franzoſen das linke Rheinufer überlaſſe, ſei immer noch weniger traurig als der Sturz Napoleons. Und was anders als die Entthronung des Schwiegerſohnes konnte die Folge ſein wenn der Zug der Schleſier gelang? Die Unmöglichkeit mit dieſem Manne einen ehrlichen Frieden zu ſchließen ließ ſich ſeit den Erfahrungen von Chatillon nicht mehr verkennen. Der Menſch muß herunter! — darüber war nur eine Stimme in der preußiſchen Armee. Und ſchon traten ſeine glücklichen Erben auf den Schauplatz; der Graf von Artois erſchien in Frankreich, im Rücken der verbündeten Heere und fand an Stein einen warmen Fürſprecher. Der deutſche Staatsmann wußte wohl, welch ein Wagniß es ſei ein Herrſcherhaus, das einer längſt verſunkenen Zeit an- gehörte, zurückzuführen. Der Czar haßte die ſteife Hoffart der Bour- bonen, der König liebte ſie nicht; unter den verbündeten Monarchen zeigte allein der welfiſche Prinzregent, als unbedingter Anhänger des göttlichen Königsrechts, lebhaften Eifer für die alte Dynaſtie. Gleichwohl gewann ihre Sache täglich an Boden, denn Niemand wußte einen anderen Nachfolger für Napoleon vorzuſchlagen. Um ſo ängſtlicher ging Oeſterreich der Entſcheidung aus dem Wege. Hatte man den Zug Blüchers leider nicht verhindern können, ſo durfte mindeſtens Schwarzenberg nichts Entſcheidendes wagen. Seine Truppen fühlten ſich ſchon ganz niedergeſchlagen von dem ewigen Rückzuge und den zielloſen Hin- und Hermärſchen. In der zweiten Hälfte des Decem- bers waren die Spitzen der großen Armee in Frankreich eingerückt, und jetzt, nach mehr als zwei Monaten, hatten dieſe gewaltigen Maſſen noch keine einzige Schlacht geſchlagen. Wie ein Nebelbild ſchien die nahe Hauptſtadt vor den Augen der Entmuthigten zu verſchwinden. Da ſeht Ihr was der Schrecken iſt — ſagte Napoleon befriedigt zu ſeiner Garde. Auch als am 27. Februar das Corps Oudinots, eine lächerliche Minder- zahl, bei Bar auf den Höhen über der Aube erſchien, vermied Schwarzen- berg abermals die Schlacht, räumte Bar, ließ die Feinde ſich gemächlich in der Stadt und im Thale der Aube ausbreiten. Da verlor endlich König Friedrich Wilhelm die Geduld, überwand ſeine Schüchternheit und zeigte wieder wie bei Kulm ſein geſundes militäriſches Urtheil. Er zwang den Oberfeldherrn den Angriff zu befehlen. Mit lautem Jubel vernahmen die Soldaten die heißerſehnte Kunde. Obwohl der Oeſter- reicher allzuſpät und nur mit einem Theile ſeines Heeres das Treffen Treitſchke, Deutſche Geſchichte. I. 35

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 1: Bis zum zweiten Pariser Frieden. Leipzig, 1879, S. 545. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte01_1879/561>, abgerufen am 22.11.2024.