Die denkenden Offiziere wußten allesammt, daß eine beispiellos mattherzige Kriegsführung das Blut der Deutschen und der Russen in Strömen nutzlos vergossen hatte; die fade Schönfärberei der amtlichen Kriegsberichte des großen Hauptquartiers begann der Armee selber zum Ekel zu werden. Nun endlich war der Bann gebrochen, aller Groll verstummte vor der beseligenden Gewißheit der nahen letzten Entscheidung. Napoleon blieb in der That einige Tage lang in dem Wahne, daß die große Armee ihm gen Osten folge; als er endlich seinen Irrthum erkannte und in Gewaltmärschen herbeieilte, konnte er die bedrohte Hauptstadt nicht mehr rechtzeitig er- reichen, das Verhängniß nicht mehr wenden.
Auf dem Wege der Verbündeten standen nur noch die gelichteten Corps von Marmont und Mortier. Schwarzenbergs langsamer Marsch gewährte ihnen die Zeit Paris zu erreichen. Die beiden Marschälle be- schlossen, obgleich Marie Luise mit dem Könige von Rom an die Loire flüchtete, vor den Mauern der Hauptstadt eine letzte Schlacht zu wagen. Verstärkt durch Nationalgarden besetzten sie mit 34,000 Mann die Dörfer der Bannmeile und die steilen Anhöhen, welche die Stadttheile des rechten Seineufers auf der Nord- und Ostseite in weitem Bogen umkränzen. Marmont stand auf der Rechten bis hinüber zum Walde von Vincennes, dicht am Zusammenfluß der Seine und Marne, Mortier hielt jenseits des Ourcq-Canals und lehnte sich mit dem äußersten linken Flügel an den Hügel des Montmartre. Der Kampf gegen die 100,000 Mann der Verbündeten war, trotz der festen Positionen der Franzosen, von vorn- herein aussichtslos; gleichwohl ward er überaus blutig, Dank den un- glücklichen Anordnungen des großen Hauptquartiers, das seine Uebermacht wieder nicht rechtzeitig zur Stelle brachte. Schon seit dem Morgen des 30. März kämpfte Prinz Eugen mit seinen Russen gegen das Centrum der Franzosen, nahm das Dorf Pantin, versuchte die Hochebene von Ro- mainville zu erreichen, ward geworfen und hart bedrängt, bis endlich die russischen und die allzu lange pedantisch geschonten preußischen Garden ihm Luft machten. Die Garde erstürmte unter Oberst Alvensleben die Batterien bei Pantin, während die Russen den Bergkirchhof Pere La Chaise mit der blanken Waffe nahmen. Weit später ward das Gefecht auf dem rechten Flügel der Franzosen eröffnet; der Kronprinz von Würt- temberg setzte sich im Walde von Vincennes fest, behauptete sich dort und drang am Nachmittage bis an das Ufer des Flusses vor. Auch die schle- sische Armee gelangte erst kurz vor Mittag zum Kampfe gegen den linken Flügel des Feindes. Wer hätte dem kranken Blücher verbieten dürfen, an solchem Ehrentage dem Sturme der Deutschen auf den "Sankt Märten" beizuwohnen? Die entzündeten Augen mit einem Damenhut und Schleier bedeckt hielt er mitten im Getümmel und sah mit an, wie seine vielge- prüften Schlesier noch einmal, wie einst bei Möckern, unter dem Kreuz- feuer der feindlichen Batterien kämpften. Am Nachmittage war die ganze
I. 5. Ende der Kriegszeit.
Die denkenden Offiziere wußten alleſammt, daß eine beiſpiellos mattherzige Kriegsführung das Blut der Deutſchen und der Ruſſen in Strömen nutzlos vergoſſen hatte; die fade Schönfärberei der amtlichen Kriegsberichte des großen Hauptquartiers begann der Armee ſelber zum Ekel zu werden. Nun endlich war der Bann gebrochen, aller Groll verſtummte vor der beſeligenden Gewißheit der nahen letzten Entſcheidung. Napoleon blieb in der That einige Tage lang in dem Wahne, daß die große Armee ihm gen Oſten folge; als er endlich ſeinen Irrthum erkannte und in Gewaltmärſchen herbeieilte, konnte er die bedrohte Hauptſtadt nicht mehr rechtzeitig er- reichen, das Verhängniß nicht mehr wenden.
Auf dem Wege der Verbündeten ſtanden nur noch die gelichteten Corps von Marmont und Mortier. Schwarzenbergs langſamer Marſch gewährte ihnen die Zeit Paris zu erreichen. Die beiden Marſchälle be- ſchloſſen, obgleich Marie Luiſe mit dem Könige von Rom an die Loire flüchtete, vor den Mauern der Hauptſtadt eine letzte Schlacht zu wagen. Verſtärkt durch Nationalgarden beſetzten ſie mit 34,000 Mann die Dörfer der Bannmeile und die ſteilen Anhöhen, welche die Stadttheile des rechten Seineufers auf der Nord- und Oſtſeite in weitem Bogen umkränzen. Marmont ſtand auf der Rechten bis hinüber zum Walde von Vincennes, dicht am Zuſammenfluß der Seine und Marne, Mortier hielt jenſeits des Ourcq-Canals und lehnte ſich mit dem äußerſten linken Flügel an den Hügel des Montmartre. Der Kampf gegen die 100,000 Mann der Verbündeten war, trotz der feſten Poſitionen der Franzoſen, von vorn- herein ausſichtslos; gleichwohl ward er überaus blutig, Dank den un- glücklichen Anordnungen des großen Hauptquartiers, das ſeine Uebermacht wieder nicht rechtzeitig zur Stelle brachte. Schon ſeit dem Morgen des 30. März kämpfte Prinz Eugen mit ſeinen Ruſſen gegen das Centrum der Franzoſen, nahm das Dorf Pantin, verſuchte die Hochebene von Ro- mainville zu erreichen, ward geworfen und hart bedrängt, bis endlich die ruſſiſchen und die allzu lange pedantiſch geſchonten preußiſchen Garden ihm Luft machten. Die Garde erſtürmte unter Oberſt Alvensleben die Batterien bei Pantin, während die Ruſſen den Bergkirchhof Père La Chaiſe mit der blanken Waffe nahmen. Weit ſpäter ward das Gefecht auf dem rechten Flügel der Franzoſen eröffnet; der Kronprinz von Würt- temberg ſetzte ſich im Walde von Vincennes feſt, behauptete ſich dort und drang am Nachmittage bis an das Ufer des Fluſſes vor. Auch die ſchle- ſiſche Armee gelangte erſt kurz vor Mittag zum Kampfe gegen den linken Flügel des Feindes. Wer hätte dem kranken Blücher verbieten dürfen, an ſolchem Ehrentage dem Sturme der Deutſchen auf den „Sankt Märten“ beizuwohnen? Die entzündeten Augen mit einem Damenhut und Schleier bedeckt hielt er mitten im Getümmel und ſah mit an, wie ſeine vielge- prüften Schleſier noch einmal, wie einſt bei Möckern, unter dem Kreuz- feuer der feindlichen Batterien kämpften. Am Nachmittage war die ganze
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[550/0566]
I. 5. Ende der Kriegszeit.
Die denkenden Offiziere wußten alleſammt, daß eine beiſpiellos mattherzige
Kriegsführung das Blut der Deutſchen und der Ruſſen in Strömen nutzlos
vergoſſen hatte; die fade Schönfärberei der amtlichen Kriegsberichte des
großen Hauptquartiers begann der Armee ſelber zum Ekel zu werden. Nun
endlich war der Bann gebrochen, aller Groll verſtummte vor der beſeligenden
Gewißheit der nahen letzten Entſcheidung. Napoleon blieb in der That
einige Tage lang in dem Wahne, daß die große Armee ihm gen Oſten
folge; als er endlich ſeinen Irrthum erkannte und in Gewaltmärſchen
herbeieilte, konnte er die bedrohte Hauptſtadt nicht mehr rechtzeitig er-
reichen, das Verhängniß nicht mehr wenden.
Auf dem Wege der Verbündeten ſtanden nur noch die gelichteten
Corps von Marmont und Mortier. Schwarzenbergs langſamer Marſch
gewährte ihnen die Zeit Paris zu erreichen. Die beiden Marſchälle be-
ſchloſſen, obgleich Marie Luiſe mit dem Könige von Rom an die Loire
flüchtete, vor den Mauern der Hauptſtadt eine letzte Schlacht zu wagen.
Verſtärkt durch Nationalgarden beſetzten ſie mit 34,000 Mann die Dörfer
der Bannmeile und die ſteilen Anhöhen, welche die Stadttheile des rechten
Seineufers auf der Nord- und Oſtſeite in weitem Bogen umkränzen.
Marmont ſtand auf der Rechten bis hinüber zum Walde von Vincennes,
dicht am Zuſammenfluß der Seine und Marne, Mortier hielt jenſeits
des Ourcq-Canals und lehnte ſich mit dem äußerſten linken Flügel an
den Hügel des Montmartre. Der Kampf gegen die 100,000 Mann der
Verbündeten war, trotz der feſten Poſitionen der Franzoſen, von vorn-
herein ausſichtslos; gleichwohl ward er überaus blutig, Dank den un-
glücklichen Anordnungen des großen Hauptquartiers, das ſeine Uebermacht
wieder nicht rechtzeitig zur Stelle brachte. Schon ſeit dem Morgen des
30. März kämpfte Prinz Eugen mit ſeinen Ruſſen gegen das Centrum
der Franzoſen, nahm das Dorf Pantin, verſuchte die Hochebene von Ro-
mainville zu erreichen, ward geworfen und hart bedrängt, bis endlich die
ruſſiſchen und die allzu lange pedantiſch geſchonten preußiſchen Garden
ihm Luft machten. Die Garde erſtürmte unter Oberſt Alvensleben die
Batterien bei Pantin, während die Ruſſen den Bergkirchhof Père La
Chaiſe mit der blanken Waffe nahmen. Weit ſpäter ward das Gefecht
auf dem rechten Flügel der Franzoſen eröffnet; der Kronprinz von Würt-
temberg ſetzte ſich im Walde von Vincennes feſt, behauptete ſich dort und
drang am Nachmittage bis an das Ufer des Fluſſes vor. Auch die ſchle-
ſiſche Armee gelangte erſt kurz vor Mittag zum Kampfe gegen den linken
Flügel des Feindes. Wer hätte dem kranken Blücher verbieten dürfen,
an ſolchem Ehrentage dem Sturme der Deutſchen auf den „Sankt Märten“
beizuwohnen? Die entzündeten Augen mit einem Damenhut und Schleier
bedeckt hielt er mitten im Getümmel und ſah mit an, wie ſeine vielge-
prüften Schleſier noch einmal, wie einſt bei Möckern, unter dem Kreuz-
feuer der feindlichen Batterien kämpften. Am Nachmittage war die ganze
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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 1: Bis zum zweiten Pariser Frieden. Leipzig, 1879, S. 550. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte01_1879/566>, abgerufen am 22.11.2024.
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