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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 1: Bis zum zweiten Pariser Frieden. Leipzig, 1879.

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I. 5. Ende der Kriegszeit.
eigentlich das Königreich Sachsen lag? Soweit die Torys über die An-
gelegenheit nachgedacht hatten, waren sie als geschworene Feinde Napo-
leons dem gefangenen Rheinbundfürsten ungünstig gesinnt. Nur der
Prinzregent empfand die natürliche Theilnahme des Welfen für den Al-
bertiner. Sehr geschickt verstanden die Agenten Friedrich Augusts solche
Stimmungen zu nähren; sie stellten dem Hofe von St. James vor:
diese conservative Macht habe die legitimen Bourbonen wiederhergestellt
und könne doch unmöglich die nicht minder legitimen Wettiner entthronen
wollen. Am letzten Ende hing Englands deutsche Politik nach wie vor von
den Rathschlägen Metternichs und Münsters ab, und Hardenberg durfte
eine nachhaltige Unterstützung seiner sächsischen Ansprüche von Seiten der
englischen Minister um so weniger erwarten, da die Verkettung der säch-
sischen und der polnischen Frage früher oder später doch selbst den harten
Köpfen dieser Torys einleuchten mußte.

In die polnischen Händel aber stürmte Castlereagh mit dem ganzen
Feuereifer der Beschränktheit hinein. Die Theilung Polens war einst von
den beiden Westmächten als eine schwere Demüthigung empfunden worden,
weil sie durch die Ostmächte allein vollzogen ward; jetzt galt es die alte
Schmach zu sühnen. Der Wille Englands, den man nach alter Gewohn-
heit für den Willen Europas ausgab, sollte an der Weichsel entscheiden.
Die Torys hatten im Sommer 1812 den klugen Rath Steins verschmäht,
der ihnen vorschlug, sich im Voraus mit Alexander über die polnische
Grenze zu verständigen; jetzt sprach man in London viel von einem un-
abhängigen Polen unter einer nationalen Dynastie. Was man sich dabei
dachte, war sicherlich den Ministern selbst nicht klar; nur so viel stand
fest, daß Castlereagh als der Wortführer Europas dem Ehrgeiz Rußlands
entgegentreten wollte. Besonders unheimlich erschien den Hochtorys die
Absicht des Czaren, den Polen eine Verfassung zu verleihen: "das sei
eine Gefahr für die Ruhe Europas," sagte Wellington in Paris zu dem
preußischen Gesandten Goltz, "besonders jetzt, wo man durch die Verbrei-
tung allzu liberaler Grundsätze von oben her in die meisten Völker einen
gewissen Gährungsstoff gelegt hat."*) England besaß bereits Alles was
sein Herz begehrte: das Cap und Ceylon, Malta und Helgoland, das
vergrößerte Hannover und den verstärkten niederländischen Gesammtstaat.
Außer den ionischen Inseln, die man in Wien noch zu erwerben hoffte,
blieb auf der weiten Welt nichts mehr zu wünschen übrig. Mit erha-
bener Uneigennützigkeit konnte man also, unter dem Beifall aller aufge-
klärten Geister, den Anwalt des europäischen Gleichgewichts spielen.

Zugleich stand Castlereagh in regem Verkehre mit den Tuilerien.
Der Czar hatte den Bourbonen schon nach wenigen Wochen seine Gunst
wieder entzogen; Ludwig XVIII., gekränkt durch Alexanders Stolz, war

*) Goltz' Bericht, Paris, 2. Sept. 1814.

I. 5. Ende der Kriegszeit.
eigentlich das Königreich Sachſen lag? Soweit die Torys über die An-
gelegenheit nachgedacht hatten, waren ſie als geſchworene Feinde Napo-
leons dem gefangenen Rheinbundfürſten ungünſtig geſinnt. Nur der
Prinzregent empfand die natürliche Theilnahme des Welfen für den Al-
bertiner. Sehr geſchickt verſtanden die Agenten Friedrich Auguſts ſolche
Stimmungen zu nähren; ſie ſtellten dem Hofe von St. James vor:
dieſe conſervative Macht habe die legitimen Bourbonen wiederhergeſtellt
und könne doch unmöglich die nicht minder legitimen Wettiner entthronen
wollen. Am letzten Ende hing Englands deutſche Politik nach wie vor von
den Rathſchlägen Metternichs und Münſters ab, und Hardenberg durfte
eine nachhaltige Unterſtützung ſeiner ſächſiſchen Anſprüche von Seiten der
engliſchen Miniſter um ſo weniger erwarten, da die Verkettung der ſäch-
ſiſchen und der polniſchen Frage früher oder ſpäter doch ſelbſt den harten
Köpfen dieſer Torys einleuchten mußte.

In die polniſchen Händel aber ſtürmte Caſtlereagh mit dem ganzen
Feuereifer der Beſchränktheit hinein. Die Theilung Polens war einſt von
den beiden Weſtmächten als eine ſchwere Demüthigung empfunden worden,
weil ſie durch die Oſtmächte allein vollzogen ward; jetzt galt es die alte
Schmach zu ſühnen. Der Wille Englands, den man nach alter Gewohn-
heit für den Willen Europas ausgab, ſollte an der Weichſel entſcheiden.
Die Torys hatten im Sommer 1812 den klugen Rath Steins verſchmäht,
der ihnen vorſchlug, ſich im Voraus mit Alexander über die polniſche
Grenze zu verſtändigen; jetzt ſprach man in London viel von einem un-
abhängigen Polen unter einer nationalen Dynaſtie. Was man ſich dabei
dachte, war ſicherlich den Miniſtern ſelbſt nicht klar; nur ſo viel ſtand
feſt, daß Caſtlereagh als der Wortführer Europas dem Ehrgeiz Rußlands
entgegentreten wollte. Beſonders unheimlich erſchien den Hochtorys die
Abſicht des Czaren, den Polen eine Verfaſſung zu verleihen: „das ſei
eine Gefahr für die Ruhe Europas,“ ſagte Wellington in Paris zu dem
preußiſchen Geſandten Goltz, „beſonders jetzt, wo man durch die Verbrei-
tung allzu liberaler Grundſätze von oben her in die meiſten Völker einen
gewiſſen Gährungsſtoff gelegt hat.“*) England beſaß bereits Alles was
ſein Herz begehrte: das Cap und Ceylon, Malta und Helgoland, das
vergrößerte Hannover und den verſtärkten niederländiſchen Geſammtſtaat.
Außer den ioniſchen Inſeln, die man in Wien noch zu erwerben hoffte,
blieb auf der weiten Welt nichts mehr zu wünſchen übrig. Mit erha-
bener Uneigennützigkeit konnte man alſo, unter dem Beifall aller aufge-
klärten Geiſter, den Anwalt des europäiſchen Gleichgewichts ſpielen.

Zugleich ſtand Caſtlereagh in regem Verkehre mit den Tuilerien.
Der Czar hatte den Bourbonen ſchon nach wenigen Wochen ſeine Gunſt
wieder entzogen; Ludwig XVIII., gekränkt durch Alexanders Stolz, war

*) Goltz’ Bericht, Paris, 2. Sept. 1814.
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[574/0590] I. 5. Ende der Kriegszeit. eigentlich das Königreich Sachſen lag? Soweit die Torys über die An- gelegenheit nachgedacht hatten, waren ſie als geſchworene Feinde Napo- leons dem gefangenen Rheinbundfürſten ungünſtig geſinnt. Nur der Prinzregent empfand die natürliche Theilnahme des Welfen für den Al- bertiner. Sehr geſchickt verſtanden die Agenten Friedrich Auguſts ſolche Stimmungen zu nähren; ſie ſtellten dem Hofe von St. James vor: dieſe conſervative Macht habe die legitimen Bourbonen wiederhergeſtellt und könne doch unmöglich die nicht minder legitimen Wettiner entthronen wollen. Am letzten Ende hing Englands deutſche Politik nach wie vor von den Rathſchlägen Metternichs und Münſters ab, und Hardenberg durfte eine nachhaltige Unterſtützung ſeiner ſächſiſchen Anſprüche von Seiten der engliſchen Miniſter um ſo weniger erwarten, da die Verkettung der ſäch- ſiſchen und der polniſchen Frage früher oder ſpäter doch ſelbſt den harten Köpfen dieſer Torys einleuchten mußte. In die polniſchen Händel aber ſtürmte Caſtlereagh mit dem ganzen Feuereifer der Beſchränktheit hinein. Die Theilung Polens war einſt von den beiden Weſtmächten als eine ſchwere Demüthigung empfunden worden, weil ſie durch die Oſtmächte allein vollzogen ward; jetzt galt es die alte Schmach zu ſühnen. Der Wille Englands, den man nach alter Gewohn- heit für den Willen Europas ausgab, ſollte an der Weichſel entſcheiden. Die Torys hatten im Sommer 1812 den klugen Rath Steins verſchmäht, der ihnen vorſchlug, ſich im Voraus mit Alexander über die polniſche Grenze zu verſtändigen; jetzt ſprach man in London viel von einem un- abhängigen Polen unter einer nationalen Dynaſtie. Was man ſich dabei dachte, war ſicherlich den Miniſtern ſelbſt nicht klar; nur ſo viel ſtand feſt, daß Caſtlereagh als der Wortführer Europas dem Ehrgeiz Rußlands entgegentreten wollte. Beſonders unheimlich erſchien den Hochtorys die Abſicht des Czaren, den Polen eine Verfaſſung zu verleihen: „das ſei eine Gefahr für die Ruhe Europas,“ ſagte Wellington in Paris zu dem preußiſchen Geſandten Goltz, „beſonders jetzt, wo man durch die Verbrei- tung allzu liberaler Grundſätze von oben her in die meiſten Völker einen gewiſſen Gährungsſtoff gelegt hat.“ *) England beſaß bereits Alles was ſein Herz begehrte: das Cap und Ceylon, Malta und Helgoland, das vergrößerte Hannover und den verſtärkten niederländiſchen Geſammtſtaat. Außer den ioniſchen Inſeln, die man in Wien noch zu erwerben hoffte, blieb auf der weiten Welt nichts mehr zu wünſchen übrig. Mit erha- bener Uneigennützigkeit konnte man alſo, unter dem Beifall aller aufge- klärten Geiſter, den Anwalt des europäiſchen Gleichgewichts ſpielen. Zugleich ſtand Caſtlereagh in regem Verkehre mit den Tuilerien. Der Czar hatte den Bourbonen ſchon nach wenigen Wochen ſeine Gunſt wieder entzogen; Ludwig XVIII., gekränkt durch Alexanders Stolz, war *) Goltz’ Bericht, Paris, 2. Sept. 1814.

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 1: Bis zum zweiten Pariser Frieden. Leipzig, 1879, S. 574. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte01_1879/590>, abgerufen am 22.11.2024.