die englisch-hannoversche Hegemonie in Norddeutschland zu verwirklichen, und warnte die kleinen Nachbarn dringend vor dem Anschluß an Preußen. In der That wurden außer den Niederländern auch die Hannoveraner, Sachsen, Nassauer und Braunschweiger dem englischen Heere Wellingtons zugetheilt; nur ein kleines norddeutsches Bundesarmeecorps, zumeist aus Kurhessen bestehend, trat unter preußischen Befehl. Die süddeutschen Truppen zogen zu den Oesterreichern und Russen am Ober- und Mittel- rhein, so daß sich auch diesmal ein Gefühl nationaler Waffengemeinschaft nicht bilden konnte.
Napoleons Heer war das beste, das er je ins Feld geführt. Die aus der Kriegsgefangenschaft und den deutschen Festungen heimgekehrten Ve- teranen bildeten den Stamm seiner Regimenter. Mit abgöttischer Ver- ehrung blickte der gemeine Mann auf seinen kleinen Corporal; noch nie- mals war die Mannschaft so ganz durchglüht gewesen von Praetorianerstolz und leidenschaftlicher Kampflust. Aber ihren Generalen traute sie nicht über den Weg, da ein Theil der Marschälle den Bourbonen treu geblieben war; und kehrte das Glück dem Imperator den Rücken, so stand von diesen tapferen Graubärten, die allesammt ihren Fahneneid gebrochen hatten und von den Bourbonen das Aergste befürchten mußten, wenig sitt- liche Widerstandskraft zu erwarten.
Wie anders die Stimmungen im preußischen Heere! Als der König in einem kräftigen Aufrufe seinen Preußen sagte: "Europa kann den Mann auf Frankreichs Thron nicht dulden, der die Weltherrschaft als den Zweck seiner stets erneuerten Kriege laut verkündigte" -- da fand er überall in dem treuen Volke williges Verständniß. Abermals wie vor zwei Jahren eilte die Jugend zu den Waffen, der Landsturm und die Detachements der freiwilligen Jäger wurden von Neuem errichtet, und abermals be- seelte die Kämpfer der feste Entschluß, daß dieser heilige Krieg nicht anders enden dürfe als mit einem ganzen und vollen Siege. Das von den ungeheuren Anstrengungen der jüngsten Jahre noch ganz erschöpfte Preußen stellte wiederum 250,000 Mann unter die Fahnen; auch die kleinen norddeutschen Nachbarn zeigten diesmal regeren Eifer, stellten etwa 70,000 Mann. An kriegerischer Erfahrung und Sicherheit kam das Volksheer freilich dem Feinde nicht gleich. Die Armee befand sich gerade in einem gefährlichen Uebergangszustande als der unerwartete Kriegsruf erscholl. Das Wehrgesetz und die Gebietserwerbungen machten eine Neu- bildung eines großen Theiles der Truppenkörper nothwendig; noch auf dem niederländischen Kriegsschauplatze mußten einzelne Bataillone von ihren alten Regimentern abgetrennt werden. Die gesammte Reiterei wurde neu formirt, der Artillerie fehlte die Mannschaft; Blücher hatte für seine 304 Kanonen nur 5303 Mann, bei einem Armeecorps gar nur 11 Mann für das Geschütz, während das Reglement 30 Mann auf das Geschütz rechnete. Die Mehrzahl der Linientruppen, die bis zum Ende
II. 2. Belle Alliance.
die engliſch-hannoverſche Hegemonie in Norddeutſchland zu verwirklichen, und warnte die kleinen Nachbarn dringend vor dem Anſchluß an Preußen. In der That wurden außer den Niederländern auch die Hannoveraner, Sachſen, Naſſauer und Braunſchweiger dem engliſchen Heere Wellingtons zugetheilt; nur ein kleines norddeutſches Bundesarmeecorps, zumeiſt aus Kurheſſen beſtehend, trat unter preußiſchen Befehl. Die ſüddeutſchen Truppen zogen zu den Oeſterreichern und Ruſſen am Ober- und Mittel- rhein, ſo daß ſich auch diesmal ein Gefühl nationaler Waffengemeinſchaft nicht bilden konnte.
Napoleons Heer war das beſte, das er je ins Feld geführt. Die aus der Kriegsgefangenſchaft und den deutſchen Feſtungen heimgekehrten Ve- teranen bildeten den Stamm ſeiner Regimenter. Mit abgöttiſcher Ver- ehrung blickte der gemeine Mann auf ſeinen kleinen Corporal; noch nie- mals war die Mannſchaft ſo ganz durchglüht geweſen von Praetorianerſtolz und leidenſchaftlicher Kampfluſt. Aber ihren Generalen traute ſie nicht über den Weg, da ein Theil der Marſchälle den Bourbonen treu geblieben war; und kehrte das Glück dem Imperator den Rücken, ſo ſtand von dieſen tapferen Graubärten, die alleſammt ihren Fahneneid gebrochen hatten und von den Bourbonen das Aergſte befürchten mußten, wenig ſitt- liche Widerſtandskraft zu erwarten.
Wie anders die Stimmungen im preußiſchen Heere! Als der König in einem kräftigen Aufrufe ſeinen Preußen ſagte: „Europa kann den Mann auf Frankreichs Thron nicht dulden, der die Weltherrſchaft als den Zweck ſeiner ſtets erneuerten Kriege laut verkündigte“ — da fand er überall in dem treuen Volke williges Verſtändniß. Abermals wie vor zwei Jahren eilte die Jugend zu den Waffen, der Landſturm und die Detachements der freiwilligen Jäger wurden von Neuem errichtet, und abermals be- ſeelte die Kämpfer der feſte Entſchluß, daß dieſer heilige Krieg nicht anders enden dürfe als mit einem ganzen und vollen Siege. Das von den ungeheuren Anſtrengungen der jüngſten Jahre noch ganz erſchöpfte Preußen ſtellte wiederum 250,000 Mann unter die Fahnen; auch die kleinen norddeutſchen Nachbarn zeigten diesmal regeren Eifer, ſtellten etwa 70,000 Mann. An kriegeriſcher Erfahrung und Sicherheit kam das Volksheer freilich dem Feinde nicht gleich. Die Armee befand ſich gerade in einem gefährlichen Uebergangszuſtande als der unerwartete Kriegsruf erſcholl. Das Wehrgeſetz und die Gebietserwerbungen machten eine Neu- bildung eines großen Theiles der Truppenkörper nothwendig; noch auf dem niederländiſchen Kriegsſchauplatze mußten einzelne Bataillone von ihren alten Regimentern abgetrennt werden. Die geſammte Reiterei wurde neu formirt, der Artillerie fehlte die Mannſchaft; Blücher hatte für ſeine 304 Kanonen nur 5303 Mann, bei einem Armeecorps gar nur 11 Mann für das Geſchütz, während das Reglement 30 Mann auf das Geſchütz rechnete. Die Mehrzahl der Linientruppen, die bis zum Ende
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und warnte die kleinen Nachbarn dringend vor dem Anſchluß an Preußen.
In der That wurden außer den Niederländern auch die Hannoveraner,
Sachſen, Naſſauer und Braunſchweiger dem engliſchen Heere Wellingtons
zugetheilt; nur ein kleines norddeutſches Bundesarmeecorps, zumeiſt aus
Kurheſſen beſtehend, trat unter preußiſchen Befehl. Die ſüddeutſchen
Truppen zogen zu den Oeſterreichern und Ruſſen am Ober- und Mittel-
rhein, ſo daß ſich auch diesmal ein Gefühl nationaler Waffengemeinſchaft
nicht bilden konnte.
Napoleons Heer war das beſte, das er je ins Feld geführt. Die aus
der Kriegsgefangenſchaft und den deutſchen Feſtungen heimgekehrten Ve-
teranen bildeten den Stamm ſeiner Regimenter. Mit abgöttiſcher Ver-
ehrung blickte der gemeine Mann auf ſeinen kleinen Corporal; noch nie-
mals war die Mannſchaft ſo ganz durchglüht geweſen von Praetorianerſtolz
und leidenſchaftlicher Kampfluſt. Aber ihren Generalen traute ſie nicht
über den Weg, da ein Theil der Marſchälle den Bourbonen treu geblieben
war; und kehrte das Glück dem Imperator den Rücken, ſo ſtand von
dieſen tapferen Graubärten, die alleſammt ihren Fahneneid gebrochen
hatten und von den Bourbonen das Aergſte befürchten mußten, wenig ſitt-
liche Widerſtandskraft zu erwarten.
Wie anders die Stimmungen im preußiſchen Heere! Als der König
in einem kräftigen Aufrufe ſeinen Preußen ſagte: „Europa kann den Mann
auf Frankreichs Thron nicht dulden, der die Weltherrſchaft als den Zweck
ſeiner ſtets erneuerten Kriege laut verkündigte“ — da fand er überall in
dem treuen Volke williges Verſtändniß. Abermals wie vor zwei Jahren
eilte die Jugend zu den Waffen, der Landſturm und die Detachements
der freiwilligen Jäger wurden von Neuem errichtet, und abermals be-
ſeelte die Kämpfer der feſte Entſchluß, daß dieſer heilige Krieg nicht
anders enden dürfe als mit einem ganzen und vollen Siege. Das von
den ungeheuren Anſtrengungen der jüngſten Jahre noch ganz erſchöpfte
Preußen ſtellte wiederum 250,000 Mann unter die Fahnen; auch die
kleinen norddeutſchen Nachbarn zeigten diesmal regeren Eifer, ſtellten
etwa 70,000 Mann. An kriegeriſcher Erfahrung und Sicherheit kam das
Volksheer freilich dem Feinde nicht gleich. Die Armee befand ſich gerade
in einem gefährlichen Uebergangszuſtande als der unerwartete Kriegsruf
erſcholl. Das Wehrgeſetz und die Gebietserwerbungen machten eine Neu-
bildung eines großen Theiles der Truppenkörper nothwendig; noch auf
dem niederländiſchen Kriegsſchauplatze mußten einzelne Bataillone von
ihren alten Regimentern abgetrennt werden. Die geſammte Reiterei
wurde neu formirt, der Artillerie fehlte die Mannſchaft; Blücher hatte
für ſeine 304 Kanonen nur 5303 Mann, bei einem Armeecorps gar nur
11 Mann für das Geſchütz, während das Reglement 30 Mann auf das
Geſchütz rechnete. Die Mehrzahl der Linientruppen, die bis zum Ende
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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 1: Bis zum zweiten Pariser Frieden. Leipzig, 1879, S. 720. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte01_1879/736>, abgerufen am 22.11.2024.
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