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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 1: Bis zum zweiten Pariser Frieden. Leipzig, 1879.

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Zustand des preußischen Heeres.
des vorigen Jahres noch am Rhein gestanden, hatte der Kriegsminister erst
vor Kurzem in die östlichen Provinzen zurückverlegt, theils weil er die
schwer heimgesuchten Rheinländer der Einquartierung entlasten wollte,
theils weil er einen Krieg mit Oesterreich befürchtete. Als nun plötzlich
das Unwetter im Westen aufstieg und der König der Niederlande drin-
gend um sofortige Hilfe bat, da mußte man was am nächsten zur Hand
war auf den Kriegsschauplatz werfen. Die 116,000 Mann, die sich in
Belgien versammelten, waren zur Hälfte Landwehren, und von diesen
wieder bestand ein großer Theil, die Elblandwehr, aus Truppen der neuen,
vormals westphälischen Provinzen -- Mannschaften, die sich erst in den
preußischen Dienst einleben mußten: hatten doch Manche darunter vor
Kurzem noch unter Napoleon gefochten.

Den Oberbefehl über die Feldarmee hatte der König schon im März
seinem greisen Feldmarschall wieder übertragen; auch Gneisenau übernahm
wieder die schwere Vertrauensstellung an Blüchers Seite. Um der Wieder-
kehr der gehässigen Streitigkeiten zwischen den Führern vorzubeugen, wurde
das Commando der drei ersten Armeecorps, welche den belgischen Feldzug
eröffnen sollten, den Generalen Zieten, Borstell und Thielmann anvertraut,
die alle drei im Dienstalter hinter Gneisenau standen. Bülow erhielt das
vierte Corps, das als Reserve dienen sollte; so kam der Eigensinnige
nicht zu häufig mit seinem Gegner Gneisenau in Berührung. Das nord-
deutsche Bundesarmeecorps, das sich am deutschen Niederrhein, im Rücken
der Blücher'schen Armee versammelte, wurde unter Kleists Befehle ge-
stellt, dessen mildes und gehaltenes Wesen sich für die diplomatischen
Aufgaben eines Bundesfeldherrn besonders eignete. York und Tauentzien
endlich erhielten das Commando der beiden Armeecorps in den östlichen
Provinzen. General Grolman trat selbst als Generalquartiermeister in
Blüchers Hauptquartier ein und wies den Corpsführern der belgischen
Armee vier seiner fähigsten Offiziere, Reiche, Aster, Clausewitz und Valen-
tini als Stabschefs zu. Der Held von Wartenburg fühlte sich in tiefster
Seele gekränkt, forderte nochmals seinen Abschied, wollte in dieser Ver-
theilung der Rollen nichts sehen als eine Parteigehässigkeit des "Tugend-
bundes". Wie York dachten alle die alten militärischen Gegner der Re-
formpartei; sie klagten, durch Boyen und Grolman kämen die Phantasten
und Demagogen in der Armee obenauf. Am Hofe begann wieder das
arge Spiel der geheimen Verdächtigung gegen das schlesische Hauptquartier.
In den Offizierskreisen versicherte man bestimmt: Herzog Karl von Meck-
lenburg, der den Feldmarschall bei der Abreise im Namen der Berliner
Garnison noch einmal begrüßte, habe vergeblich um ein Brigadecommando
in der Blücher'schen Armee gebeten; der Schwager des Königs solle dem
gefährlichen Einflusse Gneisenaus fern gehalten werden. General Knese-
beck unternahm sogar den Feldmarschall selbst zu freiwilligem Verzicht auf
den Oberbefehl zu bereden; doch kaum fing er behutsam an von Blüchers

Treitschke, Deutsche Geschichte. I. 46

Zuſtand des preußiſchen Heeres.
des vorigen Jahres noch am Rhein geſtanden, hatte der Kriegsminiſter erſt
vor Kurzem in die öſtlichen Provinzen zurückverlegt, theils weil er die
ſchwer heimgeſuchten Rheinländer der Einquartierung entlaſten wollte,
theils weil er einen Krieg mit Oeſterreich befürchtete. Als nun plötzlich
das Unwetter im Weſten aufſtieg und der König der Niederlande drin-
gend um ſofortige Hilfe bat, da mußte man was am nächſten zur Hand
war auf den Kriegsſchauplatz werfen. Die 116,000 Mann, die ſich in
Belgien verſammelten, waren zur Hälfte Landwehren, und von dieſen
wieder beſtand ein großer Theil, die Elblandwehr, aus Truppen der neuen,
vormals weſtphäliſchen Provinzen — Mannſchaften, die ſich erſt in den
preußiſchen Dienſt einleben mußten: hatten doch Manche darunter vor
Kurzem noch unter Napoleon gefochten.

Den Oberbefehl über die Feldarmee hatte der König ſchon im März
ſeinem greiſen Feldmarſchall wieder übertragen; auch Gneiſenau übernahm
wieder die ſchwere Vertrauensſtellung an Blüchers Seite. Um der Wieder-
kehr der gehäſſigen Streitigkeiten zwiſchen den Führern vorzubeugen, wurde
das Commando der drei erſten Armeecorps, welche den belgiſchen Feldzug
eröffnen ſollten, den Generalen Zieten, Borſtell und Thielmann anvertraut,
die alle drei im Dienſtalter hinter Gneiſenau ſtanden. Bülow erhielt das
vierte Corps, das als Reſerve dienen ſollte; ſo kam der Eigenſinnige
nicht zu häufig mit ſeinem Gegner Gneiſenau in Berührung. Das nord-
deutſche Bundesarmeecorps, das ſich am deutſchen Niederrhein, im Rücken
der Blücher’ſchen Armee verſammelte, wurde unter Kleiſts Befehle ge-
ſtellt, deſſen mildes und gehaltenes Weſen ſich für die diplomatiſchen
Aufgaben eines Bundesfeldherrn beſonders eignete. York und Tauentzien
endlich erhielten das Commando der beiden Armeecorps in den öſtlichen
Provinzen. General Grolman trat ſelbſt als Generalquartiermeiſter in
Blüchers Hauptquartier ein und wies den Corpsführern der belgiſchen
Armee vier ſeiner fähigſten Offiziere, Reiche, Aſter, Clauſewitz und Valen-
tini als Stabschefs zu. Der Held von Wartenburg fühlte ſich in tiefſter
Seele gekränkt, forderte nochmals ſeinen Abſchied, wollte in dieſer Ver-
theilung der Rollen nichts ſehen als eine Parteigehäſſigkeit des „Tugend-
bundes“. Wie York dachten alle die alten militäriſchen Gegner der Re-
formpartei; ſie klagten, durch Boyen und Grolman kämen die Phantaſten
und Demagogen in der Armee obenauf. Am Hofe begann wieder das
arge Spiel der geheimen Verdächtigung gegen das ſchleſiſche Hauptquartier.
In den Offizierskreiſen verſicherte man beſtimmt: Herzog Karl von Meck-
lenburg, der den Feldmarſchall bei der Abreiſe im Namen der Berliner
Garniſon noch einmal begrüßte, habe vergeblich um ein Brigadecommando
in der Blücher’ſchen Armee gebeten; der Schwager des Königs ſolle dem
gefährlichen Einfluſſe Gneiſenaus fern gehalten werden. General Kneſe-
beck unternahm ſogar den Feldmarſchall ſelbſt zu freiwilligem Verzicht auf
den Oberbefehl zu bereden; doch kaum fing er behutſam an von Blüchers

Treitſchke, Deutſche Geſchichte. I. 46
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[721/0737] Zuſtand des preußiſchen Heeres. des vorigen Jahres noch am Rhein geſtanden, hatte der Kriegsminiſter erſt vor Kurzem in die öſtlichen Provinzen zurückverlegt, theils weil er die ſchwer heimgeſuchten Rheinländer der Einquartierung entlaſten wollte, theils weil er einen Krieg mit Oeſterreich befürchtete. Als nun plötzlich das Unwetter im Weſten aufſtieg und der König der Niederlande drin- gend um ſofortige Hilfe bat, da mußte man was am nächſten zur Hand war auf den Kriegsſchauplatz werfen. Die 116,000 Mann, die ſich in Belgien verſammelten, waren zur Hälfte Landwehren, und von dieſen wieder beſtand ein großer Theil, die Elblandwehr, aus Truppen der neuen, vormals weſtphäliſchen Provinzen — Mannſchaften, die ſich erſt in den preußiſchen Dienſt einleben mußten: hatten doch Manche darunter vor Kurzem noch unter Napoleon gefochten. Den Oberbefehl über die Feldarmee hatte der König ſchon im März ſeinem greiſen Feldmarſchall wieder übertragen; auch Gneiſenau übernahm wieder die ſchwere Vertrauensſtellung an Blüchers Seite. Um der Wieder- kehr der gehäſſigen Streitigkeiten zwiſchen den Führern vorzubeugen, wurde das Commando der drei erſten Armeecorps, welche den belgiſchen Feldzug eröffnen ſollten, den Generalen Zieten, Borſtell und Thielmann anvertraut, die alle drei im Dienſtalter hinter Gneiſenau ſtanden. Bülow erhielt das vierte Corps, das als Reſerve dienen ſollte; ſo kam der Eigenſinnige nicht zu häufig mit ſeinem Gegner Gneiſenau in Berührung. Das nord- deutſche Bundesarmeecorps, das ſich am deutſchen Niederrhein, im Rücken der Blücher’ſchen Armee verſammelte, wurde unter Kleiſts Befehle ge- ſtellt, deſſen mildes und gehaltenes Weſen ſich für die diplomatiſchen Aufgaben eines Bundesfeldherrn beſonders eignete. York und Tauentzien endlich erhielten das Commando der beiden Armeecorps in den öſtlichen Provinzen. General Grolman trat ſelbſt als Generalquartiermeiſter in Blüchers Hauptquartier ein und wies den Corpsführern der belgiſchen Armee vier ſeiner fähigſten Offiziere, Reiche, Aſter, Clauſewitz und Valen- tini als Stabschefs zu. Der Held von Wartenburg fühlte ſich in tiefſter Seele gekränkt, forderte nochmals ſeinen Abſchied, wollte in dieſer Ver- theilung der Rollen nichts ſehen als eine Parteigehäſſigkeit des „Tugend- bundes“. Wie York dachten alle die alten militäriſchen Gegner der Re- formpartei; ſie klagten, durch Boyen und Grolman kämen die Phantaſten und Demagogen in der Armee obenauf. Am Hofe begann wieder das arge Spiel der geheimen Verdächtigung gegen das ſchleſiſche Hauptquartier. In den Offizierskreiſen verſicherte man beſtimmt: Herzog Karl von Meck- lenburg, der den Feldmarſchall bei der Abreiſe im Namen der Berliner Garniſon noch einmal begrüßte, habe vergeblich um ein Brigadecommando in der Blücher’ſchen Armee gebeten; der Schwager des Königs ſolle dem gefährlichen Einfluſſe Gneiſenaus fern gehalten werden. General Kneſe- beck unternahm ſogar den Feldmarſchall ſelbſt zu freiwilligem Verzicht auf den Oberbefehl zu bereden; doch kaum fing er behutſam an von Blüchers Treitſchke, Deutſche Geſchichte. I. 46

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 1: Bis zum zweiten Pariser Frieden. Leipzig, 1879, S. 721. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte01_1879/737>, abgerufen am 22.11.2024.