der Revolution, den Bourbonen zu lassen, so daß "das alte Frankreich" noch immer einen Zuwachs von mehreren hunderttausend Köpfen behielt! Zwei Tage vorher hatte Talleyrand auch die Rückgabe der Kunstschätze für unzulässig erklärt, weil sie den Haß des Volks gegen die Bourbonen steigern müsse. Eine solche Sprache aus dem Munde eines völlig ent- waffneten Staates erschien doch sogar den Briten und den Russen un- erträglich. Wellington, der früher die Rückforderung der Kunstschätze bedenklich gefunden hatte, meinte jetzt: sie sei nothwendig um den Fran- zosen "eine große moralische Lection zu geben". Auf Talleyrands Note erwiderten die vier Mächte schon am folgenden Tage scharf abweisend: von Eroberungen sei überhaupt nicht die Rede, sondern nur von Maßregeln für die Sicherheit Europas; wolle der königliche Hof etwa jenen Grund- satz der Unantastbarkeit der französischen Grenzen wieder aufnehmen, der unter Napoleon so viel Unglück angerichtet habe? -- Den Deutschen gegen- über hatten England und Rußland den Grundsatz der Unverletzlichkeit Frankreichs soeben erst salbungsvoll vertheidigt; jetzt gaben sie ihn wie- der auf.
In den Tuilerien verbreitete diese Antwort tiefe Bestürzung. König Ludwig versuchte noch einmal persönlich einen Sturm auf das erregbare Gemüth des Czaren. "In der Bitterniß meines Herzens -- so schrieb er am 23. Septbr. -- nehme ich meine Zuflucht zu E. Maj., um Ihnen hingebend das peinliche Gefühl auszusprechen, das ich beim Durchlesen der Vorschläge der vier Mächte empfunden habe. Eines vor Allem er- schüttert mich tief und treibt mich zur Verzweiflung an dem Wohle des unglücklichen Frankreichs: der niederschmetternde Gedanke, daß E. Maj., auf den ich meine Hoffnung gesetzt, die mir übersendete Note gebilligt zu haben scheint. Ich zögere nicht Ihnen zu versichern, Sire: ich werde mich weigern das Werkzeug für den Untergang meines Landes zu werden, und ich werde eher vom Throne niedersteigen als der Befleckung seines alten Glanzes durch eine beispiellose Erniedrigung zustimmen!" Kaiser Franz ward gleichzeitig durch ein Handbillet auf dies verzweifelte Schreiben aufmerksam gemacht; nur den Todfeind, den König von Preußen würdigte der Bourbone keiner Mittheilung. *) Indeß die angedrohte Abdankung war doch allzu unwahrscheinlich, das theatralische Pathos des Briefes stand in einem allzu lächerlichen Mißverhältniß zu der Thatsache, daß die Verbündeten das alte Frankreich ungestört im Besitze einer erheblichen Vergrößerung lassen wollten. Selbst der Czar war über den maßlosen Jammer seines Schützlings befremdet. Ganz unerschütterlich blieb Alex- ander freilich nicht; er setzte durch, daß von den letzten Forderungen der Coalition noch ein wenig nachgelassen wurde. Die Verbündeten verzich-
*) König Ludwig an Kaiser Alexander 23. September, an Kaiser Franz 23. Sep- tember 1815.
Verhandlungen mit Frankreich.
der Revolution, den Bourbonen zu laſſen, ſo daß „das alte Frankreich“ noch immer einen Zuwachs von mehreren hunderttauſend Köpfen behielt! Zwei Tage vorher hatte Talleyrand auch die Rückgabe der Kunſtſchätze für unzuläſſig erklärt, weil ſie den Haß des Volks gegen die Bourbonen ſteigern müſſe. Eine ſolche Sprache aus dem Munde eines völlig ent- waffneten Staates erſchien doch ſogar den Briten und den Ruſſen un- erträglich. Wellington, der früher die Rückforderung der Kunſtſchätze bedenklich gefunden hatte, meinte jetzt: ſie ſei nothwendig um den Fran- zoſen „eine große moraliſche Lection zu geben“. Auf Talleyrands Note erwiderten die vier Mächte ſchon am folgenden Tage ſcharf abweiſend: von Eroberungen ſei überhaupt nicht die Rede, ſondern nur von Maßregeln für die Sicherheit Europas; wolle der königliche Hof etwa jenen Grund- ſatz der Unantaſtbarkeit der franzöſiſchen Grenzen wieder aufnehmen, der unter Napoleon ſo viel Unglück angerichtet habe? — Den Deutſchen gegen- über hatten England und Rußland den Grundſatz der Unverletzlichkeit Frankreichs ſoeben erſt ſalbungsvoll vertheidigt; jetzt gaben ſie ihn wie- der auf.
In den Tuilerien verbreitete dieſe Antwort tiefe Beſtürzung. König Ludwig verſuchte noch einmal perſönlich einen Sturm auf das erregbare Gemüth des Czaren. „In der Bitterniß meines Herzens — ſo ſchrieb er am 23. Septbr. — nehme ich meine Zuflucht zu E. Maj., um Ihnen hingebend das peinliche Gefühl auszuſprechen, das ich beim Durchleſen der Vorſchläge der vier Mächte empfunden habe. Eines vor Allem er- ſchüttert mich tief und treibt mich zur Verzweiflung an dem Wohle des unglücklichen Frankreichs: der niederſchmetternde Gedanke, daß E. Maj., auf den ich meine Hoffnung geſetzt, die mir überſendete Note gebilligt zu haben ſcheint. Ich zögere nicht Ihnen zu verſichern, Sire: ich werde mich weigern das Werkzeug für den Untergang meines Landes zu werden, und ich werde eher vom Throne niederſteigen als der Befleckung ſeines alten Glanzes durch eine beiſpielloſe Erniedrigung zuſtimmen!“ Kaiſer Franz ward gleichzeitig durch ein Handbillet auf dies verzweifelte Schreiben aufmerkſam gemacht; nur den Todfeind, den König von Preußen würdigte der Bourbone keiner Mittheilung. *) Indeß die angedrohte Abdankung war doch allzu unwahrſcheinlich, das theatraliſche Pathos des Briefes ſtand in einem allzu lächerlichen Mißverhältniß zu der Thatſache, daß die Verbündeten das alte Frankreich ungeſtört im Beſitze einer erheblichen Vergrößerung laſſen wollten. Selbſt der Czar war über den maßloſen Jammer ſeines Schützlings befremdet. Ganz unerſchütterlich blieb Alex- ander freilich nicht; er ſetzte durch, daß von den letzten Forderungen der Coalition noch ein wenig nachgelaſſen wurde. Die Verbündeten verzich-
*) König Ludwig an Kaiſer Alexander 23. September, an Kaiſer Franz 23. Sep- tember 1815.
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><p><pbfacs="#f0799"n="783"/><fwplace="top"type="header">Verhandlungen mit Frankreich.</fw><lb/>
der Revolution, den Bourbonen zu laſſen, ſo daß „das alte Frankreich“<lb/>
noch immer einen Zuwachs von mehreren hunderttauſend Köpfen behielt!<lb/>
Zwei Tage vorher hatte Talleyrand auch die Rückgabe der Kunſtſchätze<lb/>
für unzuläſſig erklärt, weil ſie den Haß des Volks gegen die Bourbonen<lb/>ſteigern müſſe. Eine ſolche Sprache aus dem Munde eines völlig ent-<lb/>
waffneten Staates erſchien doch ſogar den Briten und den Ruſſen un-<lb/>
erträglich. Wellington, der früher die Rückforderung der Kunſtſchätze<lb/>
bedenklich gefunden hatte, meinte jetzt: ſie ſei nothwendig um den Fran-<lb/>
zoſen „eine große moraliſche Lection zu geben“. Auf Talleyrands Note<lb/>
erwiderten die vier Mächte ſchon am folgenden Tage ſcharf abweiſend:<lb/>
von Eroberungen ſei überhaupt nicht die Rede, ſondern nur von Maßregeln<lb/>
für die Sicherheit Europas; wolle der königliche Hof etwa jenen Grund-<lb/>ſatz der Unantaſtbarkeit der franzöſiſchen Grenzen wieder aufnehmen, der<lb/>
unter Napoleon ſo viel Unglück angerichtet habe? — Den Deutſchen gegen-<lb/>
über hatten England und Rußland den Grundſatz der Unverletzlichkeit<lb/>
Frankreichs ſoeben erſt ſalbungsvoll vertheidigt; jetzt gaben ſie ihn wie-<lb/>
der auf.</p><lb/><p>In den Tuilerien verbreitete dieſe Antwort tiefe Beſtürzung. König<lb/>
Ludwig verſuchte noch einmal perſönlich einen Sturm auf das erregbare<lb/>
Gemüth des Czaren. „In der Bitterniß meines Herzens —ſo ſchrieb<lb/>
er am 23. Septbr. — nehme ich meine Zuflucht zu E. Maj., um Ihnen<lb/>
hingebend das peinliche Gefühl auszuſprechen, das ich beim Durchleſen<lb/>
der Vorſchläge der vier Mächte empfunden habe. Eines vor Allem er-<lb/>ſchüttert mich tief und treibt mich zur Verzweiflung an dem Wohle des<lb/>
unglücklichen Frankreichs: der niederſchmetternde Gedanke, daß E. Maj.,<lb/>
auf den ich meine Hoffnung geſetzt, die mir überſendete Note gebilligt zu<lb/>
haben ſcheint. Ich zögere nicht Ihnen zu verſichern, Sire: ich werde<lb/>
mich weigern das Werkzeug für den Untergang meines Landes zu werden,<lb/>
und ich werde eher vom Throne niederſteigen als der Befleckung ſeines<lb/>
alten Glanzes durch eine beiſpielloſe Erniedrigung zuſtimmen!“ Kaiſer<lb/>
Franz ward gleichzeitig durch ein Handbillet auf dies verzweifelte Schreiben<lb/>
aufmerkſam gemacht; nur den Todfeind, den König von Preußen würdigte<lb/>
der Bourbone keiner Mittheilung. <noteplace="foot"n="*)">König Ludwig an Kaiſer Alexander 23. September, an Kaiſer Franz 23. Sep-<lb/>
tember 1815.</note> Indeß die angedrohte Abdankung<lb/>
war doch allzu unwahrſcheinlich, das theatraliſche Pathos des Briefes<lb/>ſtand in einem allzu lächerlichen Mißverhältniß zu der Thatſache, daß<lb/>
die Verbündeten das alte Frankreich ungeſtört im Beſitze einer erheblichen<lb/>
Vergrößerung laſſen wollten. Selbſt der Czar war über den maßloſen<lb/>
Jammer ſeines Schützlings befremdet. Ganz unerſchütterlich blieb Alex-<lb/>
ander freilich nicht; er ſetzte durch, daß von den letzten Forderungen der<lb/>
Coalition noch ein wenig nachgelaſſen wurde. Die Verbündeten verzich-<lb/></p></div></div></div></body></text></TEI>
[783/0799]
Verhandlungen mit Frankreich.
der Revolution, den Bourbonen zu laſſen, ſo daß „das alte Frankreich“
noch immer einen Zuwachs von mehreren hunderttauſend Köpfen behielt!
Zwei Tage vorher hatte Talleyrand auch die Rückgabe der Kunſtſchätze
für unzuläſſig erklärt, weil ſie den Haß des Volks gegen die Bourbonen
ſteigern müſſe. Eine ſolche Sprache aus dem Munde eines völlig ent-
waffneten Staates erſchien doch ſogar den Briten und den Ruſſen un-
erträglich. Wellington, der früher die Rückforderung der Kunſtſchätze
bedenklich gefunden hatte, meinte jetzt: ſie ſei nothwendig um den Fran-
zoſen „eine große moraliſche Lection zu geben“. Auf Talleyrands Note
erwiderten die vier Mächte ſchon am folgenden Tage ſcharf abweiſend:
von Eroberungen ſei überhaupt nicht die Rede, ſondern nur von Maßregeln
für die Sicherheit Europas; wolle der königliche Hof etwa jenen Grund-
ſatz der Unantaſtbarkeit der franzöſiſchen Grenzen wieder aufnehmen, der
unter Napoleon ſo viel Unglück angerichtet habe? — Den Deutſchen gegen-
über hatten England und Rußland den Grundſatz der Unverletzlichkeit
Frankreichs ſoeben erſt ſalbungsvoll vertheidigt; jetzt gaben ſie ihn wie-
der auf.
In den Tuilerien verbreitete dieſe Antwort tiefe Beſtürzung. König
Ludwig verſuchte noch einmal perſönlich einen Sturm auf das erregbare
Gemüth des Czaren. „In der Bitterniß meines Herzens — ſo ſchrieb
er am 23. Septbr. — nehme ich meine Zuflucht zu E. Maj., um Ihnen
hingebend das peinliche Gefühl auszuſprechen, das ich beim Durchleſen
der Vorſchläge der vier Mächte empfunden habe. Eines vor Allem er-
ſchüttert mich tief und treibt mich zur Verzweiflung an dem Wohle des
unglücklichen Frankreichs: der niederſchmetternde Gedanke, daß E. Maj.,
auf den ich meine Hoffnung geſetzt, die mir überſendete Note gebilligt zu
haben ſcheint. Ich zögere nicht Ihnen zu verſichern, Sire: ich werde
mich weigern das Werkzeug für den Untergang meines Landes zu werden,
und ich werde eher vom Throne niederſteigen als der Befleckung ſeines
alten Glanzes durch eine beiſpielloſe Erniedrigung zuſtimmen!“ Kaiſer
Franz ward gleichzeitig durch ein Handbillet auf dies verzweifelte Schreiben
aufmerkſam gemacht; nur den Todfeind, den König von Preußen würdigte
der Bourbone keiner Mittheilung. *) Indeß die angedrohte Abdankung
war doch allzu unwahrſcheinlich, das theatraliſche Pathos des Briefes
ſtand in einem allzu lächerlichen Mißverhältniß zu der Thatſache, daß
die Verbündeten das alte Frankreich ungeſtört im Beſitze einer erheblichen
Vergrößerung laſſen wollten. Selbſt der Czar war über den maßloſen
Jammer ſeines Schützlings befremdet. Ganz unerſchütterlich blieb Alex-
ander freilich nicht; er ſetzte durch, daß von den letzten Forderungen der
Coalition noch ein wenig nachgelaſſen wurde. Die Verbündeten verzich-
*) König Ludwig an Kaiſer Alexander 23. September, an Kaiſer Franz 23. Sep-
tember 1815.
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 1: Bis zum zweiten Pariser Frieden. Leipzig, 1879, S. 783. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte01_1879/799>, abgerufen am 22.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.