I. 1. Deutschland nach dem Westphälischen Frieden.
beschränken, aber auch -- alle bestehenden Privilegien aufheben. Der König ist nur das Oberhaupt des Staates, hat nur als solches Rechte und Pflichten -- und dies in Tagen, da Biener und andere namhafte Juristen das Privateigenthumsrecht der deutschen Fürsten an Land und Leuten noch als einen unbestreitbaren Rechtssatz verfochten. Die also über das Bereich des Privatrechts hinausgehobene Staatsgewalt greift ordnend und lehrend in alle Privatverhältnisse ein, schreibt Eltern und Kindern, Grundherren und Dienstboten ihre sittlichen Pflichten vor, sie vermißt sich durch ihre Alles vorausbedenkende gesetzgeberische Weisheit jeden möglichen Rechtsstreit der Zukunft von vornherein zu erledigen.
Mit diesem Gesetzbuche sprach der alte Absolutismus sein letztes Wort: er umgab seine Gewalt mit festen Schranken, erhob das Gemeinwesen zum Rechtsstaate; er betrat zugleich, indem er die Herrschaft des römischen Rechts zerstörte, ahnungslos den Weg, der zu einer neuen Rechtseinheit des deutschen Volkes führen mußte. Der mechanische Staatsbegriff der fride- ricianischen Tage ist bald nachher durch eine tiefer eindringende Philo- sophie, die unfertige juristische Bildung der Carmer und Suarez durch die Arbeiten der historischen Rechtswissenschaft überwunden worden; und gleichwohl blieb das Allgemeine Landrecht noch auf Jahrzehnte hinaus der kräftige Boden, dem alle weiteren Reformen des preußischen Staates entwuchsen. Der Glaube an die Herrschaft des Gesetzes, die Vorbedingung aller politischen Freiheit, ward eine lebendige Macht im Beamtenthum wie im Volke. Wenn der Staat bestand um des gemeinen Wohles willen, so führte eine unaufhaltsame Nothwendigkeit, von der Friedrich nichts ahnte, zu dem Verlangen: Aufhebung der Privilegien der höheren Stände und Theilnahme der Nation an der Staatsleitung. Und diese Schlüsse mußten früher oder später gezogen werden, da schon jetzt in dem vergrößerten Staatsgebiete nur eine geniale Manneskraft den schweren Aufgaben, welche dies Königthum sich stellte, genügen konnte.
Bei Weitem nicht in gleichem Maße hat Friedrich das geistige Leben seines Volkes gefördert. Wohl wissen wir aus Goethes Bekenntnissen, wie das Heldenthum der sieben Jahre befruchtend und befreiend auf die deutsche Bildung wirkte, wie in jenen Jahren des Waffenruhmes zuerst wieder ein nationaler Gehalt, ein schwellendes Gefühl der Lebenskraft in die ermattete Dichtung drang, wie die verarmte Sprache, die längst schon stammelnd nach dem Ausdruck mächtigen Gefühles suchte, jetzt endlich aus der Plattheit und Leere sich emporrang und das große Wort fand für die große Empfindung: recht eigentlich unter dem Trommelschlag des preußischen Kriegslagers ward das erste deutsche Lustspiel, Minna von Barnhelm, geschaffen. Preußens Volk nahm an dem wunderbaren Er- wachen der Geister seinen reichen Antheil, schenkte der literarischen Be- wegung mehrere ihrer bahnbrechenden Talente, von Winkelmann bis herab auf Hamann und Herder. Und ganz und gar von preußischem
I. 1. Deutſchland nach dem Weſtphäliſchen Frieden.
beſchränken, aber auch — alle beſtehenden Privilegien aufheben. Der König iſt nur das Oberhaupt des Staates, hat nur als ſolches Rechte und Pflichten — und dies in Tagen, da Biener und andere namhafte Juriſten das Privateigenthumsrecht der deutſchen Fürſten an Land und Leuten noch als einen unbeſtreitbaren Rechtsſatz verfochten. Die alſo über das Bereich des Privatrechts hinausgehobene Staatsgewalt greift ordnend und lehrend in alle Privatverhältniſſe ein, ſchreibt Eltern und Kindern, Grundherren und Dienſtboten ihre ſittlichen Pflichten vor, ſie vermißt ſich durch ihre Alles vorausbedenkende geſetzgeberiſche Weisheit jeden möglichen Rechtsſtreit der Zukunft von vornherein zu erledigen.
Mit dieſem Geſetzbuche ſprach der alte Abſolutismus ſein letztes Wort: er umgab ſeine Gewalt mit feſten Schranken, erhob das Gemeinweſen zum Rechtsſtaate; er betrat zugleich, indem er die Herrſchaft des römiſchen Rechts zerſtörte, ahnungslos den Weg, der zu einer neuen Rechtseinheit des deutſchen Volkes führen mußte. Der mechaniſche Staatsbegriff der fride- ricianiſchen Tage iſt bald nachher durch eine tiefer eindringende Philo- ſophie, die unfertige juriſtiſche Bildung der Carmer und Suarez durch die Arbeiten der hiſtoriſchen Rechtswiſſenſchaft überwunden worden; und gleichwohl blieb das Allgemeine Landrecht noch auf Jahrzehnte hinaus der kräftige Boden, dem alle weiteren Reformen des preußiſchen Staates entwuchſen. Der Glaube an die Herrſchaft des Geſetzes, die Vorbedingung aller politiſchen Freiheit, ward eine lebendige Macht im Beamtenthum wie im Volke. Wenn der Staat beſtand um des gemeinen Wohles willen, ſo führte eine unaufhaltſame Nothwendigkeit, von der Friedrich nichts ahnte, zu dem Verlangen: Aufhebung der Privilegien der höheren Stände und Theilnahme der Nation an der Staatsleitung. Und dieſe Schlüſſe mußten früher oder ſpäter gezogen werden, da ſchon jetzt in dem vergrößerten Staatsgebiete nur eine geniale Manneskraft den ſchweren Aufgaben, welche dies Königthum ſich ſtellte, genügen konnte.
Bei Weitem nicht in gleichem Maße hat Friedrich das geiſtige Leben ſeines Volkes gefördert. Wohl wiſſen wir aus Goethes Bekenntniſſen, wie das Heldenthum der ſieben Jahre befruchtend und befreiend auf die deutſche Bildung wirkte, wie in jenen Jahren des Waffenruhmes zuerſt wieder ein nationaler Gehalt, ein ſchwellendes Gefühl der Lebenskraft in die ermattete Dichtung drang, wie die verarmte Sprache, die längſt ſchon ſtammelnd nach dem Ausdruck mächtigen Gefühles ſuchte, jetzt endlich aus der Plattheit und Leere ſich emporrang und das große Wort fand für die große Empfindung: recht eigentlich unter dem Trommelſchlag des preußiſchen Kriegslagers ward das erſte deutſche Luſtſpiel, Minna von Barnhelm, geſchaffen. Preußens Volk nahm an dem wunderbaren Er- wachen der Geiſter ſeinen reichen Antheil, ſchenkte der literariſchen Be- wegung mehrere ihrer bahnbrechenden Talente, von Winkelmann bis herab auf Hamann und Herder. Und ganz und gar von preußiſchem
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I. 1. Deutſchland nach dem Weſtphäliſchen Frieden.
beſchränken, aber auch — alle beſtehenden Privilegien aufheben. Der König
iſt nur das Oberhaupt des Staates, hat nur als ſolches Rechte und
Pflichten — und dies in Tagen, da Biener und andere namhafte Juriſten
das Privateigenthumsrecht der deutſchen Fürſten an Land und Leuten
noch als einen unbeſtreitbaren Rechtsſatz verfochten. Die alſo über das
Bereich des Privatrechts hinausgehobene Staatsgewalt greift ordnend
und lehrend in alle Privatverhältniſſe ein, ſchreibt Eltern und Kindern,
Grundherren und Dienſtboten ihre ſittlichen Pflichten vor, ſie vermißt ſich
durch ihre Alles vorausbedenkende geſetzgeberiſche Weisheit jeden möglichen
Rechtsſtreit der Zukunft von vornherein zu erledigen.
Mit dieſem Geſetzbuche ſprach der alte Abſolutismus ſein letztes Wort:
er umgab ſeine Gewalt mit feſten Schranken, erhob das Gemeinweſen zum
Rechtsſtaate; er betrat zugleich, indem er die Herrſchaft des römiſchen Rechts
zerſtörte, ahnungslos den Weg, der zu einer neuen Rechtseinheit des
deutſchen Volkes führen mußte. Der mechaniſche Staatsbegriff der fride-
ricianiſchen Tage iſt bald nachher durch eine tiefer eindringende Philo-
ſophie, die unfertige juriſtiſche Bildung der Carmer und Suarez durch
die Arbeiten der hiſtoriſchen Rechtswiſſenſchaft überwunden worden; und
gleichwohl blieb das Allgemeine Landrecht noch auf Jahrzehnte hinaus
der kräftige Boden, dem alle weiteren Reformen des preußiſchen Staates
entwuchſen. Der Glaube an die Herrſchaft des Geſetzes, die Vorbedingung
aller politiſchen Freiheit, ward eine lebendige Macht im Beamtenthum
wie im Volke. Wenn der Staat beſtand um des gemeinen Wohles
willen, ſo führte eine unaufhaltſame Nothwendigkeit, von der Friedrich
nichts ahnte, zu dem Verlangen: Aufhebung der Privilegien der höheren
Stände und Theilnahme der Nation an der Staatsleitung. Und dieſe
Schlüſſe mußten früher oder ſpäter gezogen werden, da ſchon jetzt in dem
vergrößerten Staatsgebiete nur eine geniale Manneskraft den ſchweren
Aufgaben, welche dies Königthum ſich ſtellte, genügen konnte.
Bei Weitem nicht in gleichem Maße hat Friedrich das geiſtige Leben
ſeines Volkes gefördert. Wohl wiſſen wir aus Goethes Bekenntniſſen, wie
das Heldenthum der ſieben Jahre befruchtend und befreiend auf die deutſche
Bildung wirkte, wie in jenen Jahren des Waffenruhmes zuerſt wieder
ein nationaler Gehalt, ein ſchwellendes Gefühl der Lebenskraft in die
ermattete Dichtung drang, wie die verarmte Sprache, die längſt ſchon
ſtammelnd nach dem Ausdruck mächtigen Gefühles ſuchte, jetzt endlich aus
der Plattheit und Leere ſich emporrang und das große Wort fand für
die große Empfindung: recht eigentlich unter dem Trommelſchlag des
preußiſchen Kriegslagers ward das erſte deutſche Luſtſpiel, Minna von
Barnhelm, geſchaffen. Preußens Volk nahm an dem wunderbaren Er-
wachen der Geiſter ſeinen reichen Antheil, ſchenkte der literariſchen Be-
wegung mehrere ihrer bahnbrechenden Talente, von Winkelmann bis
herab auf Hamann und Herder. Und ganz und gar von preußiſchem
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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 1: Bis zum zweiten Pariser Frieden. Leipzig, 1879, S. 78. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte01_1879/94>, abgerufen am 21.11.2024.
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