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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 2: Bis zu den Karlsbader Beschlüssen. Leipzig, 1882.

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II. 5. Die Wiederherstellung des preußischen Staates.
seitige praktische Erfahrung zu ergänzen gelernt. So ging er auch beim
Entwerfen des Zollgesetzes nicht von einer fertigen Doktrin aus, sondern
von drei Gesichtspunkten der praktischen Staatskunst. Die Aufgabe war:
zunächst in der gesammten Monarchie durch Befreiung des innern Ver-
kehrs eine lebendige Gemeinschaft der Interessen zu begründen, sodann dem
Staate neue Einnahmequellen zu eröffnen, endlich dem heimischen Ge-
werbfleiß einen mächtigen Schutz gegen die englische Uebermacht zu ge-
währen und ihm doch den heilsamen Stachel des ausländischen Wettbe-
werbs nicht gänzlich zu nehmen. Wo die Wünsche der Industrie den An-
sprüchen der Staatskassen widersprachen, da mußte das Interesse der
Finanzen vorgehen; dies gebot die Bedrängniß des Staatshaushalts.

Die beiden ersten Paragraphen des Gesetzes verkündigten die Freiheit
der Ein-, Aus- und Durchfuhr für den ganzen Umfang des Staates.
Damit wurde die volle Hälfte des nicht-österreichischen Deutschlands zu
einem freien Marktgebiete vereinigt, zu einer wirthschaftlichen Gemeinschaft,
welche, wenn sie die Probe bestand, sich auch über die andere Hälfte der
der Nation erweitern konnte. Denn die schroffsten Gegensätze unseres viel-
gestaltigen socialen Lebens lagen innerhalb der preußischen Grenzen. War
es möglich, Posen und das Rheinland ohne Schädigung ihrer wirthschaft-
lichen Eigenart derselben wirthschaftlichen Gesetzgebung zu unterwerfen, so
war schon erwiesen, daß diese Gesetze mit einigen Aenderungen auch für
Baden und Hannover genügen mußten. Preußen hatte sich -- so sagte
Maassen oftmals -- genau die nämlichen Fragen vorzulegen wie alle die
anderen deutschen Staaten, welche ernstlich nach Zolleinheit verlangten,
und konnte, wegen der Mannichfaltigkeit seiner wirthschaftlichen Interessen,
leichter als jene die richtige Antwort finden. Aber die Ausführung des
Gedankens, die Verlegung der Zölle an die Grenzen des Staats war in
Preußen schwieriger, als in irgend einem anderen Reiche; sie erschien
zuerst Vielen ganz unausführbar. Man sollte eine Zolllinie von 1073
Meilen bewachen, je eine Grenzmeile auf kaum fünf Geviertmeilen des
Staatsgebiets, und zwar unter den denkbar ungünstigsten Verhältnissen,
da die kleinen deutschen Staaten, die mit dem preußischen Gebiete im Ge-
menge lagen, zumeist noch kein geordnetes Zollwesen besaßen, ja sogar den
Schmuggel grundsätzlich begünstigten. Solche Bedrängniß veranlaßte die
preußischen Finanzmänner zur Aufstellung eines einfachen übersichtlichen
Tarifs, der die Waaren in wenige große Klassen einordnete. Eine um-
fängliche, verwickelte Zollrolle, wie sie in England oder Frankreich bestand,
erforderte ein zahlreiches Beamtenpersonal, das in Preußen den Ertrag
der Zölle verschlungen hätte. Durch denselben Grund wurde Maassen be-
wogen, die Erhebung der Zölle nach dem Gewichte der Waaren vorzu-
schlagen, während in allen anderen Staaten das von der herrschenden
Theorie allein gebilligte System der Werthzölle galt. Die Abstufung der
Zölle nach dem Werthe würde die Kosten der Zollverwaltung unverhält-

II. 5. Die Wiederherſtellung des preußiſchen Staates.
ſeitige praktiſche Erfahrung zu ergänzen gelernt. So ging er auch beim
Entwerfen des Zollgeſetzes nicht von einer fertigen Doktrin aus, ſondern
von drei Geſichtspunkten der praktiſchen Staatskunſt. Die Aufgabe war:
zunächſt in der geſammten Monarchie durch Befreiung des innern Ver-
kehrs eine lebendige Gemeinſchaft der Intereſſen zu begründen, ſodann dem
Staate neue Einnahmequellen zu eröffnen, endlich dem heimiſchen Ge-
werbfleiß einen mächtigen Schutz gegen die engliſche Uebermacht zu ge-
währen und ihm doch den heilſamen Stachel des ausländiſchen Wettbe-
werbs nicht gänzlich zu nehmen. Wo die Wünſche der Induſtrie den An-
ſprüchen der Staatskaſſen widerſprachen, da mußte das Intereſſe der
Finanzen vorgehen; dies gebot die Bedrängniß des Staatshaushalts.

Die beiden erſten Paragraphen des Geſetzes verkündigten die Freiheit
der Ein-, Aus- und Durchfuhr für den ganzen Umfang des Staates.
Damit wurde die volle Hälfte des nicht-öſterreichiſchen Deutſchlands zu
einem freien Marktgebiete vereinigt, zu einer wirthſchaftlichen Gemeinſchaft,
welche, wenn ſie die Probe beſtand, ſich auch über die andere Hälfte der
der Nation erweitern konnte. Denn die ſchroffſten Gegenſätze unſeres viel-
geſtaltigen ſocialen Lebens lagen innerhalb der preußiſchen Grenzen. War
es möglich, Poſen und das Rheinland ohne Schädigung ihrer wirthſchaft-
lichen Eigenart derſelben wirthſchaftlichen Geſetzgebung zu unterwerfen, ſo
war ſchon erwieſen, daß dieſe Geſetze mit einigen Aenderungen auch für
Baden und Hannover genügen mußten. Preußen hatte ſich — ſo ſagte
Maaſſen oftmals — genau die nämlichen Fragen vorzulegen wie alle die
anderen deutſchen Staaten, welche ernſtlich nach Zolleinheit verlangten,
und konnte, wegen der Mannichfaltigkeit ſeiner wirthſchaftlichen Intereſſen,
leichter als jene die richtige Antwort finden. Aber die Ausführung des
Gedankens, die Verlegung der Zölle an die Grenzen des Staats war in
Preußen ſchwieriger, als in irgend einem anderen Reiche; ſie erſchien
zuerſt Vielen ganz unausführbar. Man ſollte eine Zolllinie von 1073
Meilen bewachen, je eine Grenzmeile auf kaum fünf Geviertmeilen des
Staatsgebiets, und zwar unter den denkbar ungünſtigſten Verhältniſſen,
da die kleinen deutſchen Staaten, die mit dem preußiſchen Gebiete im Ge-
menge lagen, zumeiſt noch kein geordnetes Zollweſen beſaßen, ja ſogar den
Schmuggel grundſätzlich begünſtigten. Solche Bedrängniß veranlaßte die
preußiſchen Finanzmänner zur Aufſtellung eines einfachen überſichtlichen
Tarifs, der die Waaren in wenige große Klaſſen einordnete. Eine um-
fängliche, verwickelte Zollrolle, wie ſie in England oder Frankreich beſtand,
erforderte ein zahlreiches Beamtenperſonal, das in Preußen den Ertrag
der Zölle verſchlungen hätte. Durch denſelben Grund wurde Maaſſen be-
wogen, die Erhebung der Zölle nach dem Gewichte der Waaren vorzu-
ſchlagen, während in allen anderen Staaten das von der herrſchenden
Theorie allein gebilligte Syſtem der Werthzölle galt. Die Abſtufung der
Zölle nach dem Werthe würde die Koſten der Zollverwaltung unverhält-

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[214/0228] II. 5. Die Wiederherſtellung des preußiſchen Staates. ſeitige praktiſche Erfahrung zu ergänzen gelernt. So ging er auch beim Entwerfen des Zollgeſetzes nicht von einer fertigen Doktrin aus, ſondern von drei Geſichtspunkten der praktiſchen Staatskunſt. Die Aufgabe war: zunächſt in der geſammten Monarchie durch Befreiung des innern Ver- kehrs eine lebendige Gemeinſchaft der Intereſſen zu begründen, ſodann dem Staate neue Einnahmequellen zu eröffnen, endlich dem heimiſchen Ge- werbfleiß einen mächtigen Schutz gegen die engliſche Uebermacht zu ge- währen und ihm doch den heilſamen Stachel des ausländiſchen Wettbe- werbs nicht gänzlich zu nehmen. Wo die Wünſche der Induſtrie den An- ſprüchen der Staatskaſſen widerſprachen, da mußte das Intereſſe der Finanzen vorgehen; dies gebot die Bedrängniß des Staatshaushalts. Die beiden erſten Paragraphen des Geſetzes verkündigten die Freiheit der Ein-, Aus- und Durchfuhr für den ganzen Umfang des Staates. Damit wurde die volle Hälfte des nicht-öſterreichiſchen Deutſchlands zu einem freien Marktgebiete vereinigt, zu einer wirthſchaftlichen Gemeinſchaft, welche, wenn ſie die Probe beſtand, ſich auch über die andere Hälfte der der Nation erweitern konnte. Denn die ſchroffſten Gegenſätze unſeres viel- geſtaltigen ſocialen Lebens lagen innerhalb der preußiſchen Grenzen. War es möglich, Poſen und das Rheinland ohne Schädigung ihrer wirthſchaft- lichen Eigenart derſelben wirthſchaftlichen Geſetzgebung zu unterwerfen, ſo war ſchon erwieſen, daß dieſe Geſetze mit einigen Aenderungen auch für Baden und Hannover genügen mußten. Preußen hatte ſich — ſo ſagte Maaſſen oftmals — genau die nämlichen Fragen vorzulegen wie alle die anderen deutſchen Staaten, welche ernſtlich nach Zolleinheit verlangten, und konnte, wegen der Mannichfaltigkeit ſeiner wirthſchaftlichen Intereſſen, leichter als jene die richtige Antwort finden. Aber die Ausführung des Gedankens, die Verlegung der Zölle an die Grenzen des Staats war in Preußen ſchwieriger, als in irgend einem anderen Reiche; ſie erſchien zuerſt Vielen ganz unausführbar. Man ſollte eine Zolllinie von 1073 Meilen bewachen, je eine Grenzmeile auf kaum fünf Geviertmeilen des Staatsgebiets, und zwar unter den denkbar ungünſtigſten Verhältniſſen, da die kleinen deutſchen Staaten, die mit dem preußiſchen Gebiete im Ge- menge lagen, zumeiſt noch kein geordnetes Zollweſen beſaßen, ja ſogar den Schmuggel grundſätzlich begünſtigten. Solche Bedrängniß veranlaßte die preußiſchen Finanzmänner zur Aufſtellung eines einfachen überſichtlichen Tarifs, der die Waaren in wenige große Klaſſen einordnete. Eine um- fängliche, verwickelte Zollrolle, wie ſie in England oder Frankreich beſtand, erforderte ein zahlreiches Beamtenperſonal, das in Preußen den Ertrag der Zölle verſchlungen hätte. Durch denſelben Grund wurde Maaſſen be- wogen, die Erhebung der Zölle nach dem Gewichte der Waaren vorzu- ſchlagen, während in allen anderen Staaten das von der herrſchenden Theorie allein gebilligte Syſtem der Werthzölle galt. Die Abſtufung der Zölle nach dem Werthe würde die Koſten der Zollverwaltung unverhält-

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 2: Bis zu den Karlsbader Beschlüssen. Leipzig, 1882, S. 214. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte02_1882/228>, abgerufen am 24.11.2024.