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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 2: Bis zu den Karlsbader Beschlüssen. Leipzig, 1882.

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Westphalen.
die Dörfer droben doch auch ihren Verdienst hätten von Fuhrmanns-
zehrung und Vorspann. Da der Oberpräsident die Dürftigkeit des Staats-
haushalts genugsam kannte, so versuchte er auch das Capital aus dem
Lande selbst für den Straßenbau zu gewinnen und belehrte seine West-
phalen in einer Provinzialzeitung: wie die Engländer, wenn ein neuer
Verkehrsweg, eine Brücke, ein Canal nothwendig scheine, zuerst alle Be-
theiligten zu einer Versammlung einlüden, dann einen Ausschuß wählten
und Gelder zeichneten. Aber der kühne Aufruf erschien zu früh. Für
solche Wagnisse war dies gedrückte Geschlecht verarmter Kleinbürger noch
nicht zu gewinnen; es galt schon als ein großer Erfolg, daß doch eine
Brücke, auf der Altenaer Straße, durch Actienzeichnung zu Stande kam.

Noch ärger als die kölnischen Kurfürsten hatten die letzten Bischöfe von
Paderborn ihr Land vernachlässigt. Mit Entsetzen lernte Vincke dies Irland
Westphalens kennen: überall kümmerliche Zwergwirthschaft und baufällige
Hütten, wunderbar verschieden von den stattlichen Bauernhöfen am Hell-
weg; das Volk gutartig, aber trunksüchtig, verwildert, in ewigem Kriege
mit dem Gesetze, so daß oft große Banden mit langen Wagenzügen in
die Forsten einbrachen, ganze Waldstrecken in einer Nacht entblößten; und zu
Alledem "die Pest des Landes", die Wucherjuden in jedem Dorfe.*) Auch
hier erwarb sich der Oberpräsident nach einiger Zeit stillen Kampfes das all-
gemeine Vertrauen, als er mit fester Hand die bürgerliche Ordnung wieder-
herstellte, neue Schulen anlegte, den alten Lehrern, die oft nur 30 Thlr.
Gehalt bezogen, Zuschüsse verschaffte, die Ansiedlung der Juden erschwerte
und der Hausindustrie neue Absatzwege eröffnete. Seit im Jahre 1817
die große Irrenanstalt zu Nieder-Marsberg für die Provinz erworben
ward, entstanden in langer Reihe jene stattlichen Pflegehäuser für Arme,
Kranke, Taubstumme, Blinde, die den Neid der Nachbarländer erregten.

Nur der Adel des Münsterlandes wollte die stolze Geschichte seines
reichsunmittelbaren Hochstifts nicht vergessen und bewahrte unversöhnt den
alten Groll gegen die preußische Herrschaft. Man gab wohl zu, daß West-
phalen geringere Steuerlasten trug als der Osten, und die einzige drückende
Abgabe, die von den napoleonischen Beamten sehr ungerecht vertheilte
Grundsteuer, erst nach einer langwierigen Katastrirungsarbeit umgestaltet
werden konnte; auch über den protestantischen Hochmuth der Beamten und
Offiziere, der in der bösen Zeit vor 1806 zuweilen verletzend hervorgetreten
war, konnte man jetzt nicht mehr klagen. Gleichwohl blieb der Charakter
dieses paritätischen Staates den clericalen Edelleuten des Münsterlandes
ebenso widerwärtig wie dem polnischen Adel. In dem munteren, schau-
lustigen und schönheitsfrohen Volke der rheinischen und süddeutschen Lande
hat sich die katholische Bildung stets einen gemüthlichen Zug naiver, harm-
loser Heiterkeit bewahrt; unter den schweren, grüblerischen Nordländern

*) Vincke, Uebersicht über die Verwaltung Westphalens, August 1817.

Weſtphalen.
die Dörfer droben doch auch ihren Verdienſt hätten von Fuhrmanns-
zehrung und Vorſpann. Da der Oberpräſident die Dürftigkeit des Staats-
haushalts genugſam kannte, ſo verſuchte er auch das Capital aus dem
Lande ſelbſt für den Straßenbau zu gewinnen und belehrte ſeine Weſt-
phalen in einer Provinzialzeitung: wie die Engländer, wenn ein neuer
Verkehrsweg, eine Brücke, ein Canal nothwendig ſcheine, zuerſt alle Be-
theiligten zu einer Verſammlung einlüden, dann einen Ausſchuß wählten
und Gelder zeichneten. Aber der kühne Aufruf erſchien zu früh. Für
ſolche Wagniſſe war dies gedrückte Geſchlecht verarmter Kleinbürger noch
nicht zu gewinnen; es galt ſchon als ein großer Erfolg, daß doch eine
Brücke, auf der Altenaer Straße, durch Actienzeichnung zu Stande kam.

Noch ärger als die kölniſchen Kurfürſten hatten die letzten Biſchöfe von
Paderborn ihr Land vernachläſſigt. Mit Entſetzen lernte Vincke dies Irland
Weſtphalens kennen: überall kümmerliche Zwergwirthſchaft und baufällige
Hütten, wunderbar verſchieden von den ſtattlichen Bauernhöfen am Hell-
weg; das Volk gutartig, aber trunkſüchtig, verwildert, in ewigem Kriege
mit dem Geſetze, ſo daß oft große Banden mit langen Wagenzügen in
die Forſten einbrachen, ganze Waldſtrecken in einer Nacht entblößten; und zu
Alledem „die Peſt des Landes“, die Wucherjuden in jedem Dorfe.*) Auch
hier erwarb ſich der Oberpräſident nach einiger Zeit ſtillen Kampfes das all-
gemeine Vertrauen, als er mit feſter Hand die bürgerliche Ordnung wieder-
herſtellte, neue Schulen anlegte, den alten Lehrern, die oft nur 30 Thlr.
Gehalt bezogen, Zuſchüſſe verſchaffte, die Anſiedlung der Juden erſchwerte
und der Hausinduſtrie neue Abſatzwege eröffnete. Seit im Jahre 1817
die große Irrenanſtalt zu Nieder-Marsberg für die Provinz erworben
ward, entſtanden in langer Reihe jene ſtattlichen Pflegehäuſer für Arme,
Kranke, Taubſtumme, Blinde, die den Neid der Nachbarländer erregten.

Nur der Adel des Münſterlandes wollte die ſtolze Geſchichte ſeines
reichsunmittelbaren Hochſtifts nicht vergeſſen und bewahrte unverſöhnt den
alten Groll gegen die preußiſche Herrſchaft. Man gab wohl zu, daß Weſt-
phalen geringere Steuerlaſten trug als der Oſten, und die einzige drückende
Abgabe, die von den napoleoniſchen Beamten ſehr ungerecht vertheilte
Grundſteuer, erſt nach einer langwierigen Kataſtrirungsarbeit umgeſtaltet
werden konnte; auch über den proteſtantiſchen Hochmuth der Beamten und
Offiziere, der in der böſen Zeit vor 1806 zuweilen verletzend hervorgetreten
war, konnte man jetzt nicht mehr klagen. Gleichwohl blieb der Charakter
dieſes paritätiſchen Staates den clericalen Edelleuten des Münſterlandes
ebenſo widerwärtig wie dem polniſchen Adel. In dem munteren, ſchau-
luſtigen und ſchönheitsfrohen Volke der rheiniſchen und ſüddeutſchen Lande
hat ſich die katholiſche Bildung ſtets einen gemüthlichen Zug naiver, harm-
loſer Heiterkeit bewahrt; unter den ſchweren, grübleriſchen Nordländern

*) Vincke, Ueberſicht über die Verwaltung Weſtphalens, Auguſt 1817.
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[265/0279] Weſtphalen. die Dörfer droben doch auch ihren Verdienſt hätten von Fuhrmanns- zehrung und Vorſpann. Da der Oberpräſident die Dürftigkeit des Staats- haushalts genugſam kannte, ſo verſuchte er auch das Capital aus dem Lande ſelbſt für den Straßenbau zu gewinnen und belehrte ſeine Weſt- phalen in einer Provinzialzeitung: wie die Engländer, wenn ein neuer Verkehrsweg, eine Brücke, ein Canal nothwendig ſcheine, zuerſt alle Be- theiligten zu einer Verſammlung einlüden, dann einen Ausſchuß wählten und Gelder zeichneten. Aber der kühne Aufruf erſchien zu früh. Für ſolche Wagniſſe war dies gedrückte Geſchlecht verarmter Kleinbürger noch nicht zu gewinnen; es galt ſchon als ein großer Erfolg, daß doch eine Brücke, auf der Altenaer Straße, durch Actienzeichnung zu Stande kam. Noch ärger als die kölniſchen Kurfürſten hatten die letzten Biſchöfe von Paderborn ihr Land vernachläſſigt. Mit Entſetzen lernte Vincke dies Irland Weſtphalens kennen: überall kümmerliche Zwergwirthſchaft und baufällige Hütten, wunderbar verſchieden von den ſtattlichen Bauernhöfen am Hell- weg; das Volk gutartig, aber trunkſüchtig, verwildert, in ewigem Kriege mit dem Geſetze, ſo daß oft große Banden mit langen Wagenzügen in die Forſten einbrachen, ganze Waldſtrecken in einer Nacht entblößten; und zu Alledem „die Peſt des Landes“, die Wucherjuden in jedem Dorfe. *) Auch hier erwarb ſich der Oberpräſident nach einiger Zeit ſtillen Kampfes das all- gemeine Vertrauen, als er mit feſter Hand die bürgerliche Ordnung wieder- herſtellte, neue Schulen anlegte, den alten Lehrern, die oft nur 30 Thlr. Gehalt bezogen, Zuſchüſſe verſchaffte, die Anſiedlung der Juden erſchwerte und der Hausinduſtrie neue Abſatzwege eröffnete. Seit im Jahre 1817 die große Irrenanſtalt zu Nieder-Marsberg für die Provinz erworben ward, entſtanden in langer Reihe jene ſtattlichen Pflegehäuſer für Arme, Kranke, Taubſtumme, Blinde, die den Neid der Nachbarländer erregten. Nur der Adel des Münſterlandes wollte die ſtolze Geſchichte ſeines reichsunmittelbaren Hochſtifts nicht vergeſſen und bewahrte unverſöhnt den alten Groll gegen die preußiſche Herrſchaft. Man gab wohl zu, daß Weſt- phalen geringere Steuerlaſten trug als der Oſten, und die einzige drückende Abgabe, die von den napoleoniſchen Beamten ſehr ungerecht vertheilte Grundſteuer, erſt nach einer langwierigen Kataſtrirungsarbeit umgeſtaltet werden konnte; auch über den proteſtantiſchen Hochmuth der Beamten und Offiziere, der in der böſen Zeit vor 1806 zuweilen verletzend hervorgetreten war, konnte man jetzt nicht mehr klagen. Gleichwohl blieb der Charakter dieſes paritätiſchen Staates den clericalen Edelleuten des Münſterlandes ebenſo widerwärtig wie dem polniſchen Adel. In dem munteren, ſchau- luſtigen und ſchönheitsfrohen Volke der rheiniſchen und ſüddeutſchen Lande hat ſich die katholiſche Bildung ſtets einen gemüthlichen Zug naiver, harm- loſer Heiterkeit bewahrt; unter den ſchweren, grübleriſchen Nordländern *) Vincke, Ueberſicht über die Verwaltung Weſtphalens, Auguſt 1817.

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 2: Bis zu den Karlsbader Beschlüssen. Leipzig, 1882, S. 265. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte02_1882/279>, abgerufen am 24.11.2024.