Siebzig, "mit gutem Gedächtniß", wie der Minister versicherte; jeden Knopf und jeden Schnörkel von dem altfränkischen Hausrath verschollener Tage hatten sie doch nicht in der Erinnerung behalten. So kam denn mit red- lichem Bemühen eine lange Reihe historischer Uebersichten zu Stande. Da standen sorgsam verzeichnet das liberum veto der Polen und die precariae annuae der kurtrierschen Stände, die schlesischen Fürstentage und die Unterherrentage von Jülich, der advocatus patriae des Herzogthums Westphalen und die Bleicheroder Steuerstube der Grafschaft Hohenstein, "das Vest Recklingshausen" und der Landtag des Fürstenthums Corvey mit seinen fünf Köpfen und drei Ständen -- und am Ende war aus dem ganzen Wust nur das Eine zu lernen, daß sich nichts daraus lernen ließ für die lebendige Gegenwart.
Die Bereisung der Provinzen brachte ein dürftiges Ergebniß: ein unfruchtbares Gewirr von alten Erinnerungen und unsicheren Wünschen. Auch die wenigen Publicisten, welche sich mit der Verfassungsfrage be- schäftigten, wußten keinen Rath. Der liberale Grävell stellte in seiner Schrift: "Bedarf Preußen einer Constitution?" die unschuldige Forderung, daß die gesammte Gesetzgebung seit 1806 den Reichsständen zur Prüfung vorgelegt werden solle; er bedachte nicht, wie leicht dieser freisinnige Wunsch zur Zerstörung der Stein-Hardenbergischen Reformen führen konnte. Benzenbergs Buch "über Verfassung", das König Friedrich Wilhelm freund- lich aufnahm, immerhin eine der reifsten politischen Schriften der Epoche, hebt also an: "In einer Entfernung von 21 Millionen Meilen fliegt eine kleine Kugel um die Sonne, deren Durchmesser 1718 Meilen ist" -- und also vom Ei des Ei's beginnend wälzt die Darstellung sich weiter, bis der aufstöhnende Leser endlich auf Seite 504 bei Deutschland anlangt und über Preußen nahezu Nichts erfährt!
Die ernste Frage: ob diese stolze absolute Krone, die soeben wieder durch die Neugestaltung des Heeres, der Verwaltung, der Steuern ihre unge- brochene Lebenskraft bewährte, ihre Vollgewalt ohne Gefahr mit einer Ständeversammlung theilen dürfe -- dies große Räthsel erschien nach Vernehmung der Stimmen aus dem Volke fast noch dunkler denn zuvor. Die scheltenden liberalen Schriftsteller draußen im Reich, welche über dem Einen, was Hardenberg nicht zu Stande brachte, das Größere vergaßen was er leistete, sie ahnten nicht, welche Sorgen den Staatskanzler be- stürmten. Denn trauriger als alle die anderen Beweise kindlicher poli- tischer Unreife, welche diese Rundreise an den Tag brachte, war doch die Erfahrung, daß mindestens die Hälfte des preußischen Volks noch gar nicht über die Grenzen der heimischen Provinz hinausblickte. Durchaus richtig schilderte Graf Edmund Kesselstadt, einer der einsichtigsten Patrioten am Rhein, die Stimmung der neuen Provinzen also: "der Gedanke einem großen Staate anzugehören ist einem großen Theile der preußischen Unter- thanen fremd, da der Gedanke Deutsche zu sein ihnen gewissermaßen immer
Ergebniß der Rundreiſe.
Siebzig, „mit gutem Gedächtniß“, wie der Miniſter verſicherte; jeden Knopf und jeden Schnörkel von dem altfränkiſchen Hausrath verſchollener Tage hatten ſie doch nicht in der Erinnerung behalten. So kam denn mit red- lichem Bemühen eine lange Reihe hiſtoriſcher Ueberſichten zu Stande. Da ſtanden ſorgſam verzeichnet das liberum veto der Polen und die precariae annuae der kurtrierſchen Stände, die ſchleſiſchen Fürſtentage und die Unterherrentage von Jülich, der advocatus patriae des Herzogthums Weſtphalen und die Bleicheroder Steuerſtube der Grafſchaft Hohenſtein, „das Veſt Recklingshauſen“ und der Landtag des Fürſtenthums Corvey mit ſeinen fünf Köpfen und drei Ständen — und am Ende war aus dem ganzen Wuſt nur das Eine zu lernen, daß ſich nichts daraus lernen ließ für die lebendige Gegenwart.
Die Bereiſung der Provinzen brachte ein dürftiges Ergebniß: ein unfruchtbares Gewirr von alten Erinnerungen und unſicheren Wünſchen. Auch die wenigen Publiciſten, welche ſich mit der Verfaſſungsfrage be- ſchäftigten, wußten keinen Rath. Der liberale Grävell ſtellte in ſeiner Schrift: „Bedarf Preußen einer Conſtitution?“ die unſchuldige Forderung, daß die geſammte Geſetzgebung ſeit 1806 den Reichsſtänden zur Prüfung vorgelegt werden ſolle; er bedachte nicht, wie leicht dieſer freiſinnige Wunſch zur Zerſtörung der Stein-Hardenbergiſchen Reformen führen konnte. Benzenbergs Buch „über Verfaſſung“, das König Friedrich Wilhelm freund- lich aufnahm, immerhin eine der reifſten politiſchen Schriften der Epoche, hebt alſo an: „In einer Entfernung von 21 Millionen Meilen fliegt eine kleine Kugel um die Sonne, deren Durchmeſſer 1718 Meilen iſt“ — und alſo vom Ei des Ei’s beginnend wälzt die Darſtellung ſich weiter, bis der aufſtöhnende Leſer endlich auf Seite 504 bei Deutſchland anlangt und über Preußen nahezu Nichts erfährt!
Die ernſte Frage: ob dieſe ſtolze abſolute Krone, die ſoeben wieder durch die Neugeſtaltung des Heeres, der Verwaltung, der Steuern ihre unge- brochene Lebenskraft bewährte, ihre Vollgewalt ohne Gefahr mit einer Ständeverſammlung theilen dürfe — dies große Räthſel erſchien nach Vernehmung der Stimmen aus dem Volke faſt noch dunkler denn zuvor. Die ſcheltenden liberalen Schriftſteller draußen im Reich, welche über dem Einen, was Hardenberg nicht zu Stande brachte, das Größere vergaßen was er leiſtete, ſie ahnten nicht, welche Sorgen den Staatskanzler be- ſtürmten. Denn trauriger als alle die anderen Beweiſe kindlicher poli- tiſcher Unreife, welche dieſe Rundreiſe an den Tag brachte, war doch die Erfahrung, daß mindeſtens die Hälfte des preußiſchen Volks noch gar nicht über die Grenzen der heimiſchen Provinz hinausblickte. Durchaus richtig ſchilderte Graf Edmund Keſſelſtadt, einer der einſichtigſten Patrioten am Rhein, die Stimmung der neuen Provinzen alſo: „der Gedanke einem großen Staate anzugehören iſt einem großen Theile der preußiſchen Unter- thanen fremd, da der Gedanke Deutſche zu ſein ihnen gewiſſermaßen immer
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Ergebniß der Rundreiſe.
Siebzig, „mit gutem Gedächtniß“, wie der Miniſter verſicherte; jeden Knopf
und jeden Schnörkel von dem altfränkiſchen Hausrath verſchollener Tage
hatten ſie doch nicht in der Erinnerung behalten. So kam denn mit red-
lichem Bemühen eine lange Reihe hiſtoriſcher Ueberſichten zu Stande. Da
ſtanden ſorgſam verzeichnet das liberum veto der Polen und die precariae
annuae der kurtrierſchen Stände, die ſchleſiſchen Fürſtentage und die
Unterherrentage von Jülich, der advocatus patriae des Herzogthums
Weſtphalen und die Bleicheroder Steuerſtube der Grafſchaft Hohenſtein,
„das Veſt Recklingshauſen“ und der Landtag des Fürſtenthums Corvey
mit ſeinen fünf Köpfen und drei Ständen — und am Ende war aus
dem ganzen Wuſt nur das Eine zu lernen, daß ſich nichts daraus lernen
ließ für die lebendige Gegenwart.
Die Bereiſung der Provinzen brachte ein dürftiges Ergebniß: ein
unfruchtbares Gewirr von alten Erinnerungen und unſicheren Wünſchen.
Auch die wenigen Publiciſten, welche ſich mit der Verfaſſungsfrage be-
ſchäftigten, wußten keinen Rath. Der liberale Grävell ſtellte in ſeiner
Schrift: „Bedarf Preußen einer Conſtitution?“ die unſchuldige Forderung,
daß die geſammte Geſetzgebung ſeit 1806 den Reichsſtänden zur Prüfung
vorgelegt werden ſolle; er bedachte nicht, wie leicht dieſer freiſinnige Wunſch
zur Zerſtörung der Stein-Hardenbergiſchen Reformen führen konnte.
Benzenbergs Buch „über Verfaſſung“, das König Friedrich Wilhelm freund-
lich aufnahm, immerhin eine der reifſten politiſchen Schriften der Epoche,
hebt alſo an: „In einer Entfernung von 21 Millionen Meilen fliegt eine
kleine Kugel um die Sonne, deren Durchmeſſer 1718 Meilen iſt“ — und
alſo vom Ei des Ei’s beginnend wälzt die Darſtellung ſich weiter, bis der
aufſtöhnende Leſer endlich auf Seite 504 bei Deutſchland anlangt und
über Preußen nahezu Nichts erfährt!
Die ernſte Frage: ob dieſe ſtolze abſolute Krone, die ſoeben wieder durch
die Neugeſtaltung des Heeres, der Verwaltung, der Steuern ihre unge-
brochene Lebenskraft bewährte, ihre Vollgewalt ohne Gefahr mit einer
Ständeverſammlung theilen dürfe — dies große Räthſel erſchien nach
Vernehmung der Stimmen aus dem Volke faſt noch dunkler denn zuvor.
Die ſcheltenden liberalen Schriftſteller draußen im Reich, welche über dem
Einen, was Hardenberg nicht zu Stande brachte, das Größere vergaßen
was er leiſtete, ſie ahnten nicht, welche Sorgen den Staatskanzler be-
ſtürmten. Denn trauriger als alle die anderen Beweiſe kindlicher poli-
tiſcher Unreife, welche dieſe Rundreiſe an den Tag brachte, war doch die
Erfahrung, daß mindeſtens die Hälfte des preußiſchen Volks noch gar
nicht über die Grenzen der heimiſchen Provinz hinausblickte. Durchaus
richtig ſchilderte Graf Edmund Keſſelſtadt, einer der einſichtigſten Patrioten
am Rhein, die Stimmung der neuen Provinzen alſo: „der Gedanke einem
großen Staate anzugehören iſt einem großen Theile der preußiſchen Unter-
thanen fremd, da der Gedanke Deutſche zu ſein ihnen gewiſſermaßen immer
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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 2: Bis zu den Karlsbader Beschlüssen. Leipzig, 1882, S. 293. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte02_1882/307>, abgerufen am 16.07.2024.
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