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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 2: Bis zu den Karlsbader Beschlüssen. Leipzig, 1882.

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II. 6. Süddeutsche Verfassungskämpfe.
den ehrwürdigen Stammesnamen bewahrte, und darum die Heimath eines
zugleich politischen und socialen Partikularismus, dessen naturwüchsige
Kraft noch heute beweist, daß die Zertrümmerung der vier großen Stammes-
herzogthümer eine rettende That unseres alten Königthums war. Der
bairische Stamm schenkte der Nation einst einen Wolfram von Eschen-
bach und Aventinus, erst die Gegenreformation drückte ihn in geistige
Dumpfheit hinab; doch war er niemals sehr reich an glänzenden Per-
sönlichkeiten, sondern verdankte seine historische Bedeutung wesentlich der
politischen Macht seines leidlich abgerundeten Gebietes und der kriegerischen
Tüchtigkeit eines rüstigen Menschenschlags, der seine nahe Verwandtschaft
mit den alten ostgermanischen Welteroberern nicht verleugnen konnte.
Von Baiern aus beherrschten Ludwig der Deutsche und seine karolingischen
Nachfolger das deutsche Reich; auch unter den Sachsen, den Saliern, den
Staufern behauptete Baiern mehrmals eine bevorzugte Stellung im
Reiche, bis endlich Kaiser Ludwig der Baier sein Stammland zur stärksten
aller deutschen Territorialmächte erhob.

Aber jenes finstere Verhängniß, das überall den Versuchen deutscher
Staatenbildung auf halbem Wege Stillstand gebot, waltete auch über
der bairischen Geschichte. Seit Tyrol an die Habsburger verloren ging
(1363), trat Baiern in die Stellung einer Binnenmacht zurück. Die junge
einst von Baiern aus besiedelte Mark Oesterreich übernahm fortan den
Vorkampf gegen die südöstlichen Nachbarvölker, welchen einst Baiern ge-
führt, und überflügelte das Mutterland also, daß die beiden stamm-
verwandten Lande bald in demselben Verhältniß zu einander standen wie
Kursachsen und Brandenburg: hier die ältere, vornehmere aber zurückge-
bliebene Macht, dort der ehrgeizige, glückliche Emporkömmling. Die Wittels-
bachische Erbsünde des häuslichen Zwistes und wiederholte Theilungen
schwächten die Macht des Fürstengeschlechts. Abgetrennt von den Landen der
pfälzischen Vettern gebot Baiern nicht mehr über ausreichende wirthschaft-
liche Kräfte, denn der Reichthum der niederbairischen Ebene ward durch
die Armuth des Gebirgs und des steinigen Alpenvorlands aufgewogen.

Gleichwohl gab das Haus Baiern noch einmal den deutschen Ge-
schicken eine entscheidende Wendung. Die Wittelsbacher versagten sich zuerst
der gemeinsamen Sache der Nation und vertrieben, den Beschlüssen des
Reichs zuwider, die evangelische Lehre aus dem bairischen Lande schon in
jenen hoffnungsvollen ersten Jahren des Reformationszeitalters, da die
friedliche Ausbreitung der neuen Lehre über das ganze Deutschland noch
möglich war; sie verschuldeten, neben den Habsburgern, die halbe Nieder-
lage der Reformation in Deutschland. Der Falkenthurm in München, wo
die ersten evangelischen Märtyrer schmachteten, war die Wiege der deutschen
Gegenreformation; und noch im Jahre 1800 pries der Papst "den alten
Ruhm" des Landes, das sich wie kein anderes auf der Welt, von der Ketzerei
immerdar freigehalten habe. Nachher verwendete der größte Sohn des

II. 6. Süddeutſche Verfaſſungskämpfe.
den ehrwürdigen Stammesnamen bewahrte, und darum die Heimath eines
zugleich politiſchen und ſocialen Partikularismus, deſſen naturwüchſige
Kraft noch heute beweiſt, daß die Zertrümmerung der vier großen Stammes-
herzogthümer eine rettende That unſeres alten Königthums war. Der
bairiſche Stamm ſchenkte der Nation einſt einen Wolfram von Eſchen-
bach und Aventinus, erſt die Gegenreformation drückte ihn in geiſtige
Dumpfheit hinab; doch war er niemals ſehr reich an glänzenden Per-
ſönlichkeiten, ſondern verdankte ſeine hiſtoriſche Bedeutung weſentlich der
politiſchen Macht ſeines leidlich abgerundeten Gebietes und der kriegeriſchen
Tüchtigkeit eines rüſtigen Menſchenſchlags, der ſeine nahe Verwandtſchaft
mit den alten oſtgermaniſchen Welteroberern nicht verleugnen konnte.
Von Baiern aus beherrſchten Ludwig der Deutſche und ſeine karolingiſchen
Nachfolger das deutſche Reich; auch unter den Sachſen, den Saliern, den
Staufern behauptete Baiern mehrmals eine bevorzugte Stellung im
Reiche, bis endlich Kaiſer Ludwig der Baier ſein Stammland zur ſtärkſten
aller deutſchen Territorialmächte erhob.

Aber jenes finſtere Verhängniß, das überall den Verſuchen deutſcher
Staatenbildung auf halbem Wege Stillſtand gebot, waltete auch über
der bairiſchen Geſchichte. Seit Tyrol an die Habsburger verloren ging
(1363), trat Baiern in die Stellung einer Binnenmacht zurück. Die junge
einſt von Baiern aus beſiedelte Mark Oeſterreich übernahm fortan den
Vorkampf gegen die ſüdöſtlichen Nachbarvölker, welchen einſt Baiern ge-
führt, und überflügelte das Mutterland alſo, daß die beiden ſtamm-
verwandten Lande bald in demſelben Verhältniß zu einander ſtanden wie
Kurſachſen und Brandenburg: hier die ältere, vornehmere aber zurückge-
bliebene Macht, dort der ehrgeizige, glückliche Emporkömmling. Die Wittels-
bachiſche Erbſünde des häuslichen Zwiſtes und wiederholte Theilungen
ſchwächten die Macht des Fürſtengeſchlechts. Abgetrennt von den Landen der
pfälziſchen Vettern gebot Baiern nicht mehr über ausreichende wirthſchaft-
liche Kräfte, denn der Reichthum der niederbairiſchen Ebene ward durch
die Armuth des Gebirgs und des ſteinigen Alpenvorlands aufgewogen.

Gleichwohl gab das Haus Baiern noch einmal den deutſchen Ge-
ſchicken eine entſcheidende Wendung. Die Wittelsbacher verſagten ſich zuerſt
der gemeinſamen Sache der Nation und vertrieben, den Beſchlüſſen des
Reichs zuwider, die evangeliſche Lehre aus dem bairiſchen Lande ſchon in
jenen hoffnungsvollen erſten Jahren des Reformationszeitalters, da die
friedliche Ausbreitung der neuen Lehre über das ganze Deutſchland noch
möglich war; ſie verſchuldeten, neben den Habsburgern, die halbe Nieder-
lage der Reformation in Deutſchland. Der Falkenthurm in München, wo
die erſten evangeliſchen Märtyrer ſchmachteten, war die Wiege der deutſchen
Gegenreformation; und noch im Jahre 1800 pries der Papſt „den alten
Ruhm“ des Landes, das ſich wie kein anderes auf der Welt, von der Ketzerei
immerdar freigehalten habe. Nachher verwendete der größte Sohn des

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[324/0338] II. 6. Süddeutſche Verfaſſungskämpfe. den ehrwürdigen Stammesnamen bewahrte, und darum die Heimath eines zugleich politiſchen und ſocialen Partikularismus, deſſen naturwüchſige Kraft noch heute beweiſt, daß die Zertrümmerung der vier großen Stammes- herzogthümer eine rettende That unſeres alten Königthums war. Der bairiſche Stamm ſchenkte der Nation einſt einen Wolfram von Eſchen- bach und Aventinus, erſt die Gegenreformation drückte ihn in geiſtige Dumpfheit hinab; doch war er niemals ſehr reich an glänzenden Per- ſönlichkeiten, ſondern verdankte ſeine hiſtoriſche Bedeutung weſentlich der politiſchen Macht ſeines leidlich abgerundeten Gebietes und der kriegeriſchen Tüchtigkeit eines rüſtigen Menſchenſchlags, der ſeine nahe Verwandtſchaft mit den alten oſtgermaniſchen Welteroberern nicht verleugnen konnte. Von Baiern aus beherrſchten Ludwig der Deutſche und ſeine karolingiſchen Nachfolger das deutſche Reich; auch unter den Sachſen, den Saliern, den Staufern behauptete Baiern mehrmals eine bevorzugte Stellung im Reiche, bis endlich Kaiſer Ludwig der Baier ſein Stammland zur ſtärkſten aller deutſchen Territorialmächte erhob. Aber jenes finſtere Verhängniß, das überall den Verſuchen deutſcher Staatenbildung auf halbem Wege Stillſtand gebot, waltete auch über der bairiſchen Geſchichte. Seit Tyrol an die Habsburger verloren ging (1363), trat Baiern in die Stellung einer Binnenmacht zurück. Die junge einſt von Baiern aus beſiedelte Mark Oeſterreich übernahm fortan den Vorkampf gegen die ſüdöſtlichen Nachbarvölker, welchen einſt Baiern ge- führt, und überflügelte das Mutterland alſo, daß die beiden ſtamm- verwandten Lande bald in demſelben Verhältniß zu einander ſtanden wie Kurſachſen und Brandenburg: hier die ältere, vornehmere aber zurückge- bliebene Macht, dort der ehrgeizige, glückliche Emporkömmling. Die Wittels- bachiſche Erbſünde des häuslichen Zwiſtes und wiederholte Theilungen ſchwächten die Macht des Fürſtengeſchlechts. Abgetrennt von den Landen der pfälziſchen Vettern gebot Baiern nicht mehr über ausreichende wirthſchaft- liche Kräfte, denn der Reichthum der niederbairiſchen Ebene ward durch die Armuth des Gebirgs und des ſteinigen Alpenvorlands aufgewogen. Gleichwohl gab das Haus Baiern noch einmal den deutſchen Ge- ſchicken eine entſcheidende Wendung. Die Wittelsbacher verſagten ſich zuerſt der gemeinſamen Sache der Nation und vertrieben, den Beſchlüſſen des Reichs zuwider, die evangeliſche Lehre aus dem bairiſchen Lande ſchon in jenen hoffnungsvollen erſten Jahren des Reformationszeitalters, da die friedliche Ausbreitung der neuen Lehre über das ganze Deutſchland noch möglich war; ſie verſchuldeten, neben den Habsburgern, die halbe Nieder- lage der Reformation in Deutſchland. Der Falkenthurm in München, wo die erſten evangeliſchen Märtyrer ſchmachteten, war die Wiege der deutſchen Gegenreformation; und noch im Jahre 1800 pries der Papſt „den alten Ruhm“ des Landes, das ſich wie kein anderes auf der Welt, von der Ketzerei immerdar freigehalten habe. Nachher verwendete der größte Sohn des

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 2: Bis zu den Karlsbader Beschlüssen. Leipzig, 1882, S. 324. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte02_1882/338>, abgerufen am 22.11.2024.