Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 2: Bis zu den Karlsbader Beschlüssen. Leipzig, 1882.Varnhagen v. Ense. den Brief des Großherzogs: das Schreiben werde allgemein getadelt "alsein unangemessenes, im besten Falle überflüssiges Vortreten, bei welchem man nichts anders als eine Zurückweisung erwarten kann." Gleich nach- her brach er das Amtsgeheimniß und sendete den tadelnswerthen Brief an jene Hamburger Zeitung. Der Schlag gelang; fast die gesammte Presse sprach sich für das gute Recht Badens aus, selbst die Augsburger Allge- meine Zeitung nahm Partei gegen Baiern, da der kluge Cotta die Gunst des Königs von Württemberg nicht verlieren wollte. Und nun schrieb Varnhagen unschuldsvoll: die unbefugte Veröffentlichung errege großes Aufsehen, der Erfolg scheine aber dem badischen Hofe günstig; "die Be- rufung auf die öffentliche Meinung in dem Schreiben des Großherzogs neigt deren Gunst mit Macht auf die Seite, wo sie sich geschmeichelt fühlt."*) Sollte diese Gunst der öffentlichen Meinung der badischen Sache *) Varnhagens Berichte, 18. März, 6. Mai 1818. **) Zastrows Bericht, München 2. Nov. 1818. ***) Blittersdorffs Bericht, Petersburg 17. August 1818. 24*
Varnhagen v. Enſe. den Brief des Großherzogs: das Schreiben werde allgemein getadelt „alsein unangemeſſenes, im beſten Falle überflüſſiges Vortreten, bei welchem man nichts anders als eine Zurückweiſung erwarten kann.“ Gleich nach- her brach er das Amtsgeheimniß und ſendete den tadelnswerthen Brief an jene Hamburger Zeitung. Der Schlag gelang; faſt die geſammte Preſſe ſprach ſich für das gute Recht Badens aus, ſelbſt die Augsburger Allge- meine Zeitung nahm Partei gegen Baiern, da der kluge Cotta die Gunſt des Königs von Württemberg nicht verlieren wollte. Und nun ſchrieb Varnhagen unſchuldsvoll: die unbefugte Veröffentlichung errege großes Aufſehen, der Erfolg ſcheine aber dem badiſchen Hofe günſtig; „die Be- rufung auf die öffentliche Meinung in dem Schreiben des Großherzogs neigt deren Gunſt mit Macht auf die Seite, wo ſie ſich geſchmeichelt fühlt.“*) Sollte dieſe Gunſt der öffentlichen Meinung der badiſchen Sache *) Varnhagens Berichte, 18. März, 6. Mai 1818. **) Zaſtrows Bericht, München 2. Nov. 1818. ***) Blittersdorffs Bericht, Petersburg 17. Auguſt 1818. 24*
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Varnhagen v. Enſe.
den Brief des Großherzogs: das Schreiben werde allgemein getadelt „als
ein unangemeſſenes, im beſten Falle überflüſſiges Vortreten, bei welchem
man nichts anders als eine Zurückweiſung erwarten kann.“ Gleich nach-
her brach er das Amtsgeheimniß und ſendete den tadelnswerthen Brief
an jene Hamburger Zeitung. Der Schlag gelang; faſt die geſammte Preſſe
ſprach ſich für das gute Recht Badens aus, ſelbſt die Augsburger Allge-
meine Zeitung nahm Partei gegen Baiern, da der kluge Cotta die Gunſt
des Königs von Württemberg nicht verlieren wollte. Und nun ſchrieb
Varnhagen unſchuldsvoll: die unbefugte Veröffentlichung errege großes
Aufſehen, der Erfolg ſcheine aber dem badiſchen Hofe günſtig; „die Be-
rufung auf die öffentliche Meinung in dem Schreiben des Großherzogs
neigt deren Gunſt mit Macht auf die Seite, wo ſie ſich geſchmeichelt fühlt.“ *)
Sollte dieſe Gunſt der öffentlichen Meinung der badiſchen Sache
erhalten bleiben, ſo mußte man entſchloſſen in das Fahrwaſſer der con-
ſtitutionellen Politik einlenken. Reitzenſtein täuſchte ſich nicht darüber;
er ſah auch ein, daß die Verkündigung der Verfaſſung das einzige Mittel
war um dem murrenden Volke wieder Vertrauen auf die Zukunft des
Staates einzuflößen und zugleich dem Hauſe Zähringen die Gnade des
Kaiſers Alexander wiederzugewinnen. Der Czar zeigte ſich ſehr kühl
gegen das Recht ſeiner badiſchen Vettern; er war es ſogar, der auf dem
Wiener Congreſſe den unglücklichen Gedanken des Rückfalls der Pfalz
zuerſt angeregt hatte — ſo verſicherte wenigſtens Wrede dem General
Zaſtrow. **) Von München aus ward nichts verſäumt um den ruſſiſchen
Gönner bei guter Stimmung zu halten; der Geſandte Graf Bray legte
alle die neuen Verfaſſungsgeſetze, die für Baiern geplant wurden, dem
Czaren zur Genehmigung vor, und dieſem war niemals ein Vorſchlag
freiſinnig genug. ***) Die chriſtlich-liberale Begeiſterung des Selbſtherrſchers
erreichte eben in dieſen Tagen ihren Siedepunkt. Für die beſorgten Briefe
Metternichs, der ſeinem Freunde Neſſelrode beſtändig „die ſchwere Krank-
heit Europas“ ſchilderte, hatte Alexander nur ein überlegenes Lächeln;
wie viel ſtolzer klang es doch, wenn der bewegliche Kapodiſtrias, jetzt ſein
nächſter Vertrauter, in feuriger Rede den Kernſatz ausführte: „Inſtitu-
tionen ſind die große Forderung des Jahrhunderts!“ Am 27. März 1818
eröffnete der Kaiſer den erſten Reichstag des neuen Königreichs Polen
mit einer ſchwungvollen Thronrede, die in ganz Europa mächtig wider-
hallte. Sie forderte die Polen auf, den Zeitgenoſſen zu beweiſen, daß
die liberalen Inſtitutionen mit der Ordnung vereint das wahre Glück
der Völker begründen, und verſprach den Ruſſen, auch ſie ſollten in einiger
Zeit des gleichen Glückes theilhaftig werden.
*) Varnhagens Berichte, 18. März, 6. Mai 1818.
**) Zaſtrows Bericht, München 2. Nov. 1818.
***) Blittersdorffs Bericht, Petersburg 17. Auguſt 1818.
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