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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 2: Bis zu den Karlsbader Beschlüssen. Leipzig, 1882.

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Varnhagen v. Ense.
den Brief des Großherzogs: das Schreiben werde allgemein getadelt "als
ein unangemessenes, im besten Falle überflüssiges Vortreten, bei welchem
man nichts anders als eine Zurückweisung erwarten kann." Gleich nach-
her brach er das Amtsgeheimniß und sendete den tadelnswerthen Brief
an jene Hamburger Zeitung. Der Schlag gelang; fast die gesammte Presse
sprach sich für das gute Recht Badens aus, selbst die Augsburger Allge-
meine Zeitung nahm Partei gegen Baiern, da der kluge Cotta die Gunst
des Königs von Württemberg nicht verlieren wollte. Und nun schrieb
Varnhagen unschuldsvoll: die unbefugte Veröffentlichung errege großes
Aufsehen, der Erfolg scheine aber dem badischen Hofe günstig; "die Be-
rufung auf die öffentliche Meinung in dem Schreiben des Großherzogs
neigt deren Gunst mit Macht auf die Seite, wo sie sich geschmeichelt fühlt."*)

Sollte diese Gunst der öffentlichen Meinung der badischen Sache
erhalten bleiben, so mußte man entschlossen in das Fahrwasser der con-
stitutionellen Politik einlenken. Reitzenstein täuschte sich nicht darüber;
er sah auch ein, daß die Verkündigung der Verfassung das einzige Mittel
war um dem murrenden Volke wieder Vertrauen auf die Zukunft des
Staates einzuflößen und zugleich dem Hause Zähringen die Gnade des
Kaisers Alexander wiederzugewinnen. Der Czar zeigte sich sehr kühl
gegen das Recht seiner badischen Vettern; er war es sogar, der auf dem
Wiener Congresse den unglücklichen Gedanken des Rückfalls der Pfalz
zuerst angeregt hatte -- so versicherte wenigstens Wrede dem General
Zastrow.**) Von München aus ward nichts versäumt um den russischen
Gönner bei guter Stimmung zu halten; der Gesandte Graf Bray legte
alle die neuen Verfassungsgesetze, die für Baiern geplant wurden, dem
Czaren zur Genehmigung vor, und diesem war niemals ein Vorschlag
freisinnig genug.***) Die christlich-liberale Begeisterung des Selbstherrschers
erreichte eben in diesen Tagen ihren Siedepunkt. Für die besorgten Briefe
Metternichs, der seinem Freunde Nesselrode beständig "die schwere Krank-
heit Europas" schilderte, hatte Alexander nur ein überlegenes Lächeln;
wie viel stolzer klang es doch, wenn der bewegliche Kapodistrias, jetzt sein
nächster Vertrauter, in feuriger Rede den Kernsatz ausführte: "Institu-
tionen sind die große Forderung des Jahrhunderts!" Am 27. März 1818
eröffnete der Kaiser den ersten Reichstag des neuen Königreichs Polen
mit einer schwungvollen Thronrede, die in ganz Europa mächtig wider-
hallte. Sie forderte die Polen auf, den Zeitgenossen zu beweisen, daß
die liberalen Institutionen mit der Ordnung vereint das wahre Glück
der Völker begründen, und versprach den Russen, auch sie sollten in einiger
Zeit des gleichen Glückes theilhaftig werden.

*) Varnhagens Berichte, 18. März, 6. Mai 1818.
**) Zastrows Bericht, München 2. Nov. 1818.
***) Blittersdorffs Bericht, Petersburg 17. August 1818.
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Varnhagen v. Enſe.
den Brief des Großherzogs: das Schreiben werde allgemein getadelt „als
ein unangemeſſenes, im beſten Falle überflüſſiges Vortreten, bei welchem
man nichts anders als eine Zurückweiſung erwarten kann.“ Gleich nach-
her brach er das Amtsgeheimniß und ſendete den tadelnswerthen Brief
an jene Hamburger Zeitung. Der Schlag gelang; faſt die geſammte Preſſe
ſprach ſich für das gute Recht Badens aus, ſelbſt die Augsburger Allge-
meine Zeitung nahm Partei gegen Baiern, da der kluge Cotta die Gunſt
des Königs von Württemberg nicht verlieren wollte. Und nun ſchrieb
Varnhagen unſchuldsvoll: die unbefugte Veröffentlichung errege großes
Aufſehen, der Erfolg ſcheine aber dem badiſchen Hofe günſtig; „die Be-
rufung auf die öffentliche Meinung in dem Schreiben des Großherzogs
neigt deren Gunſt mit Macht auf die Seite, wo ſie ſich geſchmeichelt fühlt.“*)

Sollte dieſe Gunſt der öffentlichen Meinung der badiſchen Sache
erhalten bleiben, ſo mußte man entſchloſſen in das Fahrwaſſer der con-
ſtitutionellen Politik einlenken. Reitzenſtein täuſchte ſich nicht darüber;
er ſah auch ein, daß die Verkündigung der Verfaſſung das einzige Mittel
war um dem murrenden Volke wieder Vertrauen auf die Zukunft des
Staates einzuflößen und zugleich dem Hauſe Zähringen die Gnade des
Kaiſers Alexander wiederzugewinnen. Der Czar zeigte ſich ſehr kühl
gegen das Recht ſeiner badiſchen Vettern; er war es ſogar, der auf dem
Wiener Congreſſe den unglücklichen Gedanken des Rückfalls der Pfalz
zuerſt angeregt hatte — ſo verſicherte wenigſtens Wrede dem General
Zaſtrow.**) Von München aus ward nichts verſäumt um den ruſſiſchen
Gönner bei guter Stimmung zu halten; der Geſandte Graf Bray legte
alle die neuen Verfaſſungsgeſetze, die für Baiern geplant wurden, dem
Czaren zur Genehmigung vor, und dieſem war niemals ein Vorſchlag
freiſinnig genug.***) Die chriſtlich-liberale Begeiſterung des Selbſtherrſchers
erreichte eben in dieſen Tagen ihren Siedepunkt. Für die beſorgten Briefe
Metternichs, der ſeinem Freunde Neſſelrode beſtändig „die ſchwere Krank-
heit Europas“ ſchilderte, hatte Alexander nur ein überlegenes Lächeln;
wie viel ſtolzer klang es doch, wenn der bewegliche Kapodiſtrias, jetzt ſein
nächſter Vertrauter, in feuriger Rede den Kernſatz ausführte: „Inſtitu-
tionen ſind die große Forderung des Jahrhunderts!“ Am 27. März 1818
eröffnete der Kaiſer den erſten Reichstag des neuen Königreichs Polen
mit einer ſchwungvollen Thronrede, die in ganz Europa mächtig wider-
hallte. Sie forderte die Polen auf, den Zeitgenoſſen zu beweiſen, daß
die liberalen Inſtitutionen mit der Ordnung vereint das wahre Glück
der Völker begründen, und verſprach den Ruſſen, auch ſie ſollten in einiger
Zeit des gleichen Glückes theilhaftig werden.

*) Varnhagens Berichte, 18. März, 6. Mai 1818.
**) Zaſtrows Bericht, München 2. Nov. 1818.
***) Blittersdorffs Bericht, Petersburg 17. Auguſt 1818.
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[371/0385] Varnhagen v. Enſe. den Brief des Großherzogs: das Schreiben werde allgemein getadelt „als ein unangemeſſenes, im beſten Falle überflüſſiges Vortreten, bei welchem man nichts anders als eine Zurückweiſung erwarten kann.“ Gleich nach- her brach er das Amtsgeheimniß und ſendete den tadelnswerthen Brief an jene Hamburger Zeitung. Der Schlag gelang; faſt die geſammte Preſſe ſprach ſich für das gute Recht Badens aus, ſelbſt die Augsburger Allge- meine Zeitung nahm Partei gegen Baiern, da der kluge Cotta die Gunſt des Königs von Württemberg nicht verlieren wollte. Und nun ſchrieb Varnhagen unſchuldsvoll: die unbefugte Veröffentlichung errege großes Aufſehen, der Erfolg ſcheine aber dem badiſchen Hofe günſtig; „die Be- rufung auf die öffentliche Meinung in dem Schreiben des Großherzogs neigt deren Gunſt mit Macht auf die Seite, wo ſie ſich geſchmeichelt fühlt.“ *) Sollte dieſe Gunſt der öffentlichen Meinung der badiſchen Sache erhalten bleiben, ſo mußte man entſchloſſen in das Fahrwaſſer der con- ſtitutionellen Politik einlenken. Reitzenſtein täuſchte ſich nicht darüber; er ſah auch ein, daß die Verkündigung der Verfaſſung das einzige Mittel war um dem murrenden Volke wieder Vertrauen auf die Zukunft des Staates einzuflößen und zugleich dem Hauſe Zähringen die Gnade des Kaiſers Alexander wiederzugewinnen. Der Czar zeigte ſich ſehr kühl gegen das Recht ſeiner badiſchen Vettern; er war es ſogar, der auf dem Wiener Congreſſe den unglücklichen Gedanken des Rückfalls der Pfalz zuerſt angeregt hatte — ſo verſicherte wenigſtens Wrede dem General Zaſtrow. **) Von München aus ward nichts verſäumt um den ruſſiſchen Gönner bei guter Stimmung zu halten; der Geſandte Graf Bray legte alle die neuen Verfaſſungsgeſetze, die für Baiern geplant wurden, dem Czaren zur Genehmigung vor, und dieſem war niemals ein Vorſchlag freiſinnig genug. ***) Die chriſtlich-liberale Begeiſterung des Selbſtherrſchers erreichte eben in dieſen Tagen ihren Siedepunkt. Für die beſorgten Briefe Metternichs, der ſeinem Freunde Neſſelrode beſtändig „die ſchwere Krank- heit Europas“ ſchilderte, hatte Alexander nur ein überlegenes Lächeln; wie viel ſtolzer klang es doch, wenn der bewegliche Kapodiſtrias, jetzt ſein nächſter Vertrauter, in feuriger Rede den Kernſatz ausführte: „Inſtitu- tionen ſind die große Forderung des Jahrhunderts!“ Am 27. März 1818 eröffnete der Kaiſer den erſten Reichstag des neuen Königreichs Polen mit einer ſchwungvollen Thronrede, die in ganz Europa mächtig wider- hallte. Sie forderte die Polen auf, den Zeitgenoſſen zu beweiſen, daß die liberalen Inſtitutionen mit der Ordnung vereint das wahre Glück der Völker begründen, und verſprach den Ruſſen, auch ſie ſollten in einiger Zeit des gleichen Glückes theilhaftig werden. *) Varnhagens Berichte, 18. März, 6. Mai 1818. **) Zaſtrows Bericht, München 2. Nov. 1818. ***) Blittersdorffs Bericht, Petersburg 17. Auguſt 1818. 24*

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 2: Bis zu den Karlsbader Beschlüssen. Leipzig, 1882, S. 371. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte02_1882/385>, abgerufen am 22.11.2024.