Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 2: Bis zu den Karlsbader Beschlüssen. Leipzig, 1882.II. 9. Die Karlsbader Beschlüsse. daß er seinen Entschluß in voller Freiheit gefaßt habe, denn nur die auseigener Ueberzeugung entspringende That ließ er gelten; es ist aber psycho- logisch unmöglich, daß der menschenkundige Karl Follen, der mit seinem Basiliskenblick den wehrlosen Schwachkopf vollkommen beherrschte und in dieser dürftigen Seele wie in einem offenen Buche las, den Mordplan nicht bemerkt und nicht befördert haben sollte. So gewiß die Aehre dem Saatkorn entsprießt, ebenso gewiß erscheint der Prediger des politischen Mordes vor dem sittlichen Urtheil der Geschichte als der Urheber der Ermordung Kotzebues. Ob Karl Follen auch im streng juristischen Sinne als Anstifter zu betrachten sei, dies wird wohl für immer verborgen bleiben. Ein Mitwisser des gefaßten Entschlusses war er unzweifelhaft; er verschaffte, wie die Untersuchung herausstellte, dem Mörder das Reise- geld für die Wanderfahrt nach Mannheim. Auch Wit v. Dörring und wahrscheinlich noch ein Dritter aus jener radikalsten Sekte der Unbe- dingten, die man die Haarscharfen nannte, waren mit im Geheimniß; aber gewiß keine größere Anzahl, denn Karl Follen unterrichtete seine Getreuen in allen Schlichen und Kniffen des Criminalprozesses, belehrte sie sorgsam über ihr Verhalten vor dem Untersuchungsrichter und schärfte ihnen vornehmlich ein, daß der Vaterlandserretter die Genossen nicht in Gefahr bringen dürfe. *) Mit der Ruhe des guten Gewissens trat Sand seine Reise an und *) Diese Thatsachen mußten unglaubhaft erscheinen, so lange sie nur durch die Denk-
würdigkeiten des elenden Denuncianten Wit v. Dörring bezeugt waren; heute lassen sie sich nicht mehr bezweifeln, seit ein vertrauter Freund der Gebrüder Follen, der Deutsch- Amerikaner Friedrich Münch sie wiederholt auf das Bestimmteste zugegeben hat. (Münch, Erinnerungen aus Deutschlands trübster Zeit. St. Louis 1873. Derselbe in der Deut- schen Turnzeitung 1880. S. 403.) Münch beruft sich auf vertrauliche Mittheilungen seines Freundes Paul Follen; er ist wohl der einzige noch Ueberlebende aus dem engeren Kreise der Unbedingten, ein Mann von anerkannter Rechtschaffenheit, der an den Idealen seiner Jugend noch heute festhält, und ich sehe nicht ein, warum die nachdrücklichen Ver- sicherungen des ehrlichen Radikalen, die ohnehin nichts Unwahrscheinliches enthalten, unglaubhaft sein sollen. Das zur Vertheidigung Karl Follens geschriebene anonyme Büchlein "Deutschlands Jugend in weiland Burschenschaften und Turngemeinden" (von R. Wesselhöft) ist nichts weiter als eine gewandte unaufrichtige Advokatenschrift. II. 9. Die Karlsbader Beſchlüſſe. daß er ſeinen Entſchluß in voller Freiheit gefaßt habe, denn nur die auseigener Ueberzeugung entſpringende That ließ er gelten; es iſt aber pſycho- logiſch unmöglich, daß der menſchenkundige Karl Follen, der mit ſeinem Baſiliskenblick den wehrloſen Schwachkopf vollkommen beherrſchte und in dieſer dürftigen Seele wie in einem offenen Buche las, den Mordplan nicht bemerkt und nicht befördert haben ſollte. So gewiß die Aehre dem Saatkorn entſprießt, ebenſo gewiß erſcheint der Prediger des politiſchen Mordes vor dem ſittlichen Urtheil der Geſchichte als der Urheber der Ermordung Kotzebues. Ob Karl Follen auch im ſtreng juriſtiſchen Sinne als Anſtifter zu betrachten ſei, dies wird wohl für immer verborgen bleiben. Ein Mitwiſſer des gefaßten Entſchluſſes war er unzweifelhaft; er verſchaffte, wie die Unterſuchung herausſtellte, dem Mörder das Reiſe- geld für die Wanderfahrt nach Mannheim. Auch Wit v. Dörring und wahrſcheinlich noch ein Dritter aus jener radikalſten Sekte der Unbe- dingten, die man die Haarſcharfen nannte, waren mit im Geheimniß; aber gewiß keine größere Anzahl, denn Karl Follen unterrichtete ſeine Getreuen in allen Schlichen und Kniffen des Criminalprozeſſes, belehrte ſie ſorgſam über ihr Verhalten vor dem Unterſuchungsrichter und ſchärfte ihnen vornehmlich ein, daß der Vaterlandserretter die Genoſſen nicht in Gefahr bringen dürfe. *) Mit der Ruhe des guten Gewiſſens trat Sand ſeine Reiſe an und *) Dieſe Thatſachen mußten unglaubhaft erſcheinen, ſo lange ſie nur durch die Denk-
würdigkeiten des elenden Denuncianten Wit v. Dörring bezeugt waren; heute laſſen ſie ſich nicht mehr bezweifeln, ſeit ein vertrauter Freund der Gebrüder Follen, der Deutſch- Amerikaner Friedrich Münch ſie wiederholt auf das Beſtimmteſte zugegeben hat. (Münch, Erinnerungen aus Deutſchlands trübſter Zeit. St. Louis 1873. Derſelbe in der Deut- ſchen Turnzeitung 1880. S. 403.) Münch beruft ſich auf vertrauliche Mittheilungen ſeines Freundes Paul Follen; er iſt wohl der einzige noch Ueberlebende aus dem engeren Kreiſe der Unbedingten, ein Mann von anerkannter Rechtſchaffenheit, der an den Idealen ſeiner Jugend noch heute feſthält, und ich ſehe nicht ein, warum die nachdrücklichen Ver- ſicherungen des ehrlichen Radikalen, die ohnehin nichts Unwahrſcheinliches enthalten, unglaubhaft ſein ſollen. Das zur Vertheidigung Karl Follens geſchriebene anonyme Büchlein „Deutſchlands Jugend in weiland Burſchenſchaften und Turngemeinden“ (von R. Weſſelhöft) iſt nichts weiter als eine gewandte unaufrichtige Advokatenſchrift. <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <p><pb facs="#f0536" n="522"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#aq">II.</hi> 9. Die Karlsbader Beſchlüſſe.</fw><lb/> daß er ſeinen Entſchluß in voller Freiheit gefaßt habe, denn nur die aus<lb/> eigener Ueberzeugung entſpringende That ließ er gelten; es iſt aber pſycho-<lb/> logiſch unmöglich, daß der menſchenkundige Karl Follen, der mit ſeinem<lb/> Baſiliskenblick den wehrloſen Schwachkopf vollkommen beherrſchte und in<lb/> dieſer dürftigen Seele wie in einem offenen Buche las, den Mordplan<lb/> nicht bemerkt und nicht befördert haben ſollte. So gewiß die Aehre dem<lb/> Saatkorn entſprießt, ebenſo gewiß erſcheint der Prediger des politiſchen<lb/> Mordes vor dem ſittlichen Urtheil der Geſchichte als der Urheber der<lb/> Ermordung Kotzebues. Ob Karl Follen auch im ſtreng juriſtiſchen Sinne<lb/> als Anſtifter zu betrachten ſei, dies wird wohl für immer verborgen<lb/> bleiben. Ein Mitwiſſer des gefaßten Entſchluſſes war er unzweifelhaft;<lb/> er verſchaffte, wie die Unterſuchung herausſtellte, dem Mörder das Reiſe-<lb/> geld für die Wanderfahrt nach Mannheim. Auch Wit v. Dörring und<lb/> wahrſcheinlich noch ein Dritter aus jener radikalſten Sekte der Unbe-<lb/> dingten, die man die Haarſcharfen nannte, waren mit im Geheimniß;<lb/> aber gewiß keine größere Anzahl, denn Karl Follen unterrichtete ſeine<lb/> Getreuen in allen Schlichen und Kniffen des Criminalprozeſſes, belehrte<lb/> ſie ſorgſam über ihr Verhalten vor dem Unterſuchungsrichter und ſchärfte<lb/> ihnen vornehmlich ein, daß der Vaterlandserretter die Genoſſen nicht in<lb/> Gefahr bringen dürfe. <note place="foot" n="*)">Dieſe Thatſachen mußten unglaubhaft erſcheinen, ſo lange ſie nur durch die Denk-<lb/> würdigkeiten des elenden Denuncianten Wit v. Dörring bezeugt waren; heute laſſen ſie<lb/> ſich nicht mehr bezweifeln, ſeit ein vertrauter Freund der Gebrüder Follen, der Deutſch-<lb/> Amerikaner Friedrich Münch ſie wiederholt auf das Beſtimmteſte zugegeben hat. (Münch,<lb/> Erinnerungen aus Deutſchlands trübſter Zeit. St. Louis 1873. Derſelbe in der Deut-<lb/> ſchen Turnzeitung 1880. S. 403.) Münch beruft ſich auf vertrauliche Mittheilungen<lb/> ſeines Freundes Paul Follen; er iſt wohl der einzige noch Ueberlebende aus dem engeren<lb/> Kreiſe der Unbedingten, ein Mann von anerkannter Rechtſchaffenheit, der an den Idealen<lb/> ſeiner Jugend noch heute feſthält, und ich ſehe nicht ein, warum die nachdrücklichen Ver-<lb/> ſicherungen des ehrlichen Radikalen, die ohnehin nichts Unwahrſcheinliches enthalten,<lb/> unglaubhaft ſein ſollen. Das zur Vertheidigung Karl Follens geſchriebene anonyme<lb/> Büchlein „Deutſchlands Jugend in weiland Burſchenſchaften und Turngemeinden“ (von<lb/> R. Weſſelhöft) iſt nichts weiter als eine gewandte unaufrichtige Advokatenſchrift.</note></p><lb/> <p>Mit der Ruhe des guten Gewiſſens trat Sand ſeine Reiſe an und<lb/> betrachtete unterwegs wißbegierig alle Sehenswürdigkeiten. In Mann-<lb/> heim fand er ohne Mühe Zutritt bei ſeinem argloſen Opfer, nach einigen<lb/> gleichgiltigen Worten ſtieß er dem alten Manne plötzlich mit einem wilden<lb/> Anruf den Dolch in die Kehle. Er war darauf gefaßt, ſich durch Selbſt-<lb/> mord der Strafe zu entziehen, aber auch die Flucht hielt er ſich bis zu-<lb/> letzt offen. Erſt da Kotzebue in ſeinem Blute ſchwamm und der kleine<lb/> Sohn des Ermordeten zu der Leiche des Vaters heranſtürzte, überfiel den<lb/> Mörder auf einen Augenblick die Scham, und mit unſicherer Hand führte<lb/> er einen Dolchſtoß gegen ſeine eigene Bruſt — „dem Sohne gleichſam<lb/> zum Erſatze“, wie er nachher geſtand. Als man den Schwerverwundeten<lb/></p> </div> </div> </body> </text> </TEI> [522/0536]
II. 9. Die Karlsbader Beſchlüſſe.
daß er ſeinen Entſchluß in voller Freiheit gefaßt habe, denn nur die aus
eigener Ueberzeugung entſpringende That ließ er gelten; es iſt aber pſycho-
logiſch unmöglich, daß der menſchenkundige Karl Follen, der mit ſeinem
Baſiliskenblick den wehrloſen Schwachkopf vollkommen beherrſchte und in
dieſer dürftigen Seele wie in einem offenen Buche las, den Mordplan
nicht bemerkt und nicht befördert haben ſollte. So gewiß die Aehre dem
Saatkorn entſprießt, ebenſo gewiß erſcheint der Prediger des politiſchen
Mordes vor dem ſittlichen Urtheil der Geſchichte als der Urheber der
Ermordung Kotzebues. Ob Karl Follen auch im ſtreng juriſtiſchen Sinne
als Anſtifter zu betrachten ſei, dies wird wohl für immer verborgen
bleiben. Ein Mitwiſſer des gefaßten Entſchluſſes war er unzweifelhaft;
er verſchaffte, wie die Unterſuchung herausſtellte, dem Mörder das Reiſe-
geld für die Wanderfahrt nach Mannheim. Auch Wit v. Dörring und
wahrſcheinlich noch ein Dritter aus jener radikalſten Sekte der Unbe-
dingten, die man die Haarſcharfen nannte, waren mit im Geheimniß;
aber gewiß keine größere Anzahl, denn Karl Follen unterrichtete ſeine
Getreuen in allen Schlichen und Kniffen des Criminalprozeſſes, belehrte
ſie ſorgſam über ihr Verhalten vor dem Unterſuchungsrichter und ſchärfte
ihnen vornehmlich ein, daß der Vaterlandserretter die Genoſſen nicht in
Gefahr bringen dürfe. *)
Mit der Ruhe des guten Gewiſſens trat Sand ſeine Reiſe an und
betrachtete unterwegs wißbegierig alle Sehenswürdigkeiten. In Mann-
heim fand er ohne Mühe Zutritt bei ſeinem argloſen Opfer, nach einigen
gleichgiltigen Worten ſtieß er dem alten Manne plötzlich mit einem wilden
Anruf den Dolch in die Kehle. Er war darauf gefaßt, ſich durch Selbſt-
mord der Strafe zu entziehen, aber auch die Flucht hielt er ſich bis zu-
letzt offen. Erſt da Kotzebue in ſeinem Blute ſchwamm und der kleine
Sohn des Ermordeten zu der Leiche des Vaters heranſtürzte, überfiel den
Mörder auf einen Augenblick die Scham, und mit unſicherer Hand führte
er einen Dolchſtoß gegen ſeine eigene Bruſt — „dem Sohne gleichſam
zum Erſatze“, wie er nachher geſtand. Als man den Schwerverwundeten
*) Dieſe Thatſachen mußten unglaubhaft erſcheinen, ſo lange ſie nur durch die Denk-
würdigkeiten des elenden Denuncianten Wit v. Dörring bezeugt waren; heute laſſen ſie
ſich nicht mehr bezweifeln, ſeit ein vertrauter Freund der Gebrüder Follen, der Deutſch-
Amerikaner Friedrich Münch ſie wiederholt auf das Beſtimmteſte zugegeben hat. (Münch,
Erinnerungen aus Deutſchlands trübſter Zeit. St. Louis 1873. Derſelbe in der Deut-
ſchen Turnzeitung 1880. S. 403.) Münch beruft ſich auf vertrauliche Mittheilungen
ſeines Freundes Paul Follen; er iſt wohl der einzige noch Ueberlebende aus dem engeren
Kreiſe der Unbedingten, ein Mann von anerkannter Rechtſchaffenheit, der an den Idealen
ſeiner Jugend noch heute feſthält, und ich ſehe nicht ein, warum die nachdrücklichen Ver-
ſicherungen des ehrlichen Radikalen, die ohnehin nichts Unwahrſcheinliches enthalten,
unglaubhaft ſein ſollen. Das zur Vertheidigung Karl Follens geſchriebene anonyme
Büchlein „Deutſchlands Jugend in weiland Burſchenſchaften und Turngemeinden“ (von
R. Weſſelhöft) iſt nichts weiter als eine gewandte unaufrichtige Advokatenſchrift.
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