Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 3: Bis zur Juli-Revolution. Leipzig, 1885.III. 4. Der Ausgang des preußischen Verfassungskampfes. Protestanten" folgen, als ob es sich nur um die subjectiven Meinungenkleiner Conventikel handele. Da er nicht zu verstehen vermochte, daß die evangelische Christenheit keinen Priesterstand kennt und mithin ihre sicht- baren Kirchen, in den Fluß der Zeit gestellt, weder selig sprechen noch die Seligkeit verweigern können, so gelangte er zu der ungeheuerlichen Behauptung, der Protestant sei mit der Kirche nur durch Vertrag ver- bunden -- wobei die Anspielung auf Rousseau's revolutionären Contrat social deutlich zwischen den Zeilen zu lesen war. Der bewegliche Gelehrte war erst vor Kurzem zu seinen streng römischen Ansichten gelangt und blieb auch fernerhin so empfänglich für die neuen Wallungen des kirch- lichen Lebens, daß er erst im Laufe der Jahre die letzten Folgerungen aus seinem kirchenpolitischen Systeme zu ziehen wagte und die verschiedenen Ausgaben seines Lehrbuchs gleich einem Barometer den wachsenden cleri- calen Luftdruck erkennen ließen. In der ersten Auflage hatte er dem Staate sogar das Placet zugestanden, späterhin erschien ihm fast jede Bethätigung der Kirchenhoheit als ein Uebergriff, der die Kirche in den Zustand der Verfolgung versetze und die Gläubigen zum Ungehorsam berechtige. Noch stand dieser neue Romanismus, dem Fernstehenden kaum bemerk- Schwach an Zahl, war die clericale Partei doch schon im Aufsteigen, III. 4. Der Ausgang des preußiſchen Verfaſſungskampfes. Proteſtanten“ folgen, als ob es ſich nur um die ſubjectiven Meinungenkleiner Conventikel handele. Da er nicht zu verſtehen vermochte, daß die evangeliſche Chriſtenheit keinen Prieſterſtand kennt und mithin ihre ſicht- baren Kirchen, in den Fluß der Zeit geſtellt, weder ſelig ſprechen noch die Seligkeit verweigern können, ſo gelangte er zu der ungeheuerlichen Behauptung, der Proteſtant ſei mit der Kirche nur durch Vertrag ver- bunden — wobei die Anſpielung auf Rouſſeau’s revolutionären Contrat social deutlich zwiſchen den Zeilen zu leſen war. Der bewegliche Gelehrte war erſt vor Kurzem zu ſeinen ſtreng römiſchen Anſichten gelangt und blieb auch fernerhin ſo empfänglich für die neuen Wallungen des kirch- lichen Lebens, daß er erſt im Laufe der Jahre die letzten Folgerungen aus ſeinem kirchenpolitiſchen Syſteme zu ziehen wagte und die verſchiedenen Ausgaben ſeines Lehrbuchs gleich einem Barometer den wachſenden cleri- calen Luftdruck erkennen ließen. In der erſten Auflage hatte er dem Staate ſogar das Placet zugeſtanden, ſpäterhin erſchien ihm faſt jede Bethätigung der Kirchenhoheit als ein Uebergriff, der die Kirche in den Zuſtand der Verfolgung verſetze und die Gläubigen zum Ungehorſam berechtige. Noch ſtand dieſer neue Romanismus, dem Fernſtehenden kaum bemerk- Schwach an Zahl, war die clericale Partei doch ſchon im Aufſteigen, <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <p><pb facs="#f0228" n="212"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#aq">III.</hi> 4. Der Ausgang des preußiſchen Verfaſſungskampfes.</fw><lb/> Proteſtanten“ folgen, als ob es ſich nur um die ſubjectiven Meinungen<lb/> kleiner Conventikel handele. 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Welch eine Hand-<lb/> habe bot ihr die Furcht vor der Revolution. Wie leicht ließ ſich die That-<lb/> ſache verdunkeln, daß die Revolution des ſechzehnten Jahrhunderts nicht<lb/> blos zerſtörend, ſondern mehr noch erhaltend gewirkt, daß Martin Luther<lb/> den urſprünglichen Geiſt des Chriſtenthums für die moderne Welt gerettet<lb/> hatte; wie verlockend klang die Lehre, daß die Wogen der Empörung allein<lb/> an der feſteſten aller Autoritäten, an dem Felſen Petri ſich brechen könnten.<lb/> Mit gründlicher Verachtung ſchaute die romantiſche Welt zurück auf „die<lb/></p> </div> </div> </body> </text> </TEI> [212/0228]
III. 4. Der Ausgang des preußiſchen Verfaſſungskampfes.
Proteſtanten“ folgen, als ob es ſich nur um die ſubjectiven Meinungen
kleiner Conventikel handele. Da er nicht zu verſtehen vermochte, daß die
evangeliſche Chriſtenheit keinen Prieſterſtand kennt und mithin ihre ſicht-
baren Kirchen, in den Fluß der Zeit geſtellt, weder ſelig ſprechen noch
die Seligkeit verweigern können, ſo gelangte er zu der ungeheuerlichen
Behauptung, der Proteſtant ſei mit der Kirche nur durch Vertrag ver-
bunden — wobei die Anſpielung auf Rouſſeau’s revolutionären Contrat
social deutlich zwiſchen den Zeilen zu leſen war. Der bewegliche Gelehrte
war erſt vor Kurzem zu ſeinen ſtreng römiſchen Anſichten gelangt und
blieb auch fernerhin ſo empfänglich für die neuen Wallungen des kirch-
lichen Lebens, daß er erſt im Laufe der Jahre die letzten Folgerungen aus
ſeinem kirchenpolitiſchen Syſteme zu ziehen wagte und die verſchiedenen
Ausgaben ſeines Lehrbuchs gleich einem Barometer den wachſenden cleri-
calen Luftdruck erkennen ließen. In der erſten Auflage hatte er dem Staate
ſogar das Placet zugeſtanden, ſpäterhin erſchien ihm faſt jede Bethätigung
der Kirchenhoheit als ein Uebergriff, der die Kirche in den Zuſtand der
Verfolgung verſetze und die Gläubigen zum Ungehorſam berechtige.
Noch ſtand dieſer neue Romanismus, dem Fernſtehenden kaum bemerk-
bar, ganz in den erſten Anfängen; er gebot nur über wenige Blätter und
beſaß in den ſüddeutſchen Landtagen erſt vereinzelte Anhänger, die nur ſelten
Farbe zu bekennen wagten. Ein großer Theil der älteren Prieſter war
noch in der Schule des Rationalismus aufgewachſen oder ſtand den natio-
nalkirchlichen Ideen Weſſenberg’s nahe. In dem Breslauer Diöceſanblatt,
das während der Jahre 1803—19 dem ſchleſiſchen Clerus als Sprechſaal
diente, äußerte ſich häufig eine reformatoriſche Geſinnung, namentlich ward
die Einführung der deutſchen Sprache in den Cultus nachdrücklich gefordert,
und der junge Domherr Graf Sedlnitzky durfte ungeſtört die deutſche
Bibel unter ſeinen Gläubigen verbreiten. Aber nach dem Tode des milden
Fürſtbiſchofs v. Hohenlohe-Waldenburg (1817) zog ein anderer Geiſt in
das ſchleſiſche Kirchenregiment ein, das Diöceſanblatt ging unter, und hier
wie überall begann die ſtreng confeſſionelle Geſinnung unter dem jüngeren
Clerus überhandzunehmen.
Schwach an Zahl, war die clericale Partei doch ſchon im Aufſteigen,
ſie übertraf die letzten Vertreter der alten milderen Richtung an Talent,
Thatkraft, Zuverſicht und fand an der ganzen Weltanſchauung dieſes Zeit-
alters der Romantik einen überaus dankbaren Boden. Welch eine Hand-
habe bot ihr die Furcht vor der Revolution. Wie leicht ließ ſich die That-
ſache verdunkeln, daß die Revolution des ſechzehnten Jahrhunderts nicht
blos zerſtörend, ſondern mehr noch erhaltend gewirkt, daß Martin Luther
den urſprünglichen Geiſt des Chriſtenthums für die moderne Welt gerettet
hatte; wie verlockend klang die Lehre, daß die Wogen der Empörung allein
an der feſteſten aller Autoritäten, an dem Felſen Petri ſich brechen könnten.
Mit gründlicher Verachtung ſchaute die romantiſche Welt zurück auf „die
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