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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 3: Bis zur Juli-Revolution. Leipzig, 1885.

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Romantik und Papismus.
Zeiten der Finsterniß, die für Licht der Wahn ausgab," wie Ludwig von
Baiern sagte; in den Kreisen der Eingeweihten erfreute man sich an dem
Ausspruch von Novalis, die Aufklärung habe das Licht geliebt wegen seines
mathematischen Gehorsams und wegen seiner Frechheit, und pries mit dem
schwärmerischen Dichter das fromme Mittelalter, das den unendlichen
Glauben dem eingeschränkten Wissen vorzog. In der That behauptete der
unendliche Glaube auch in diesem bildungsstolzen Jahrhundert noch seine
Macht, sogar die höchsten Schichten der Gesellschaft waren dem rohen
Mirakelwahn noch keineswegs entwachsen. Unter wachsendem Zulauf be-
trieb Prinz Alexander Hohenlohe in Franken seine Gebetskuren, er heilte
bereits blinde Hofdamen und gelähmte Prinzessinnen, selbst der bairische
Kronprinz glaubte einmal, daß ihn der heilige Mann von seinem Gehör-
leiden befreit habe -- was sich freilich bald als ein Irrthum herausstellte
-- und schrieb einem Freunde bedeutsam: "wir leben in mehrfacher Hin-
sicht in einer großen Zeit!"*) Viele fromme Gemüther, die sich nach der
ursprünglichen Einheit der Christenheit zurücksehnten, wiederholten gläubig
die berühmten Verse A. W. Schlegel's:

Eins war Europa in den großen Zeiten.
Für Einen Glauben wollten Alle streiten,
Die Herzen waren Einer Lieb' erschlossen.

Sie wendeten ihre hoffenden Blicke auf den römischen Stuhl als den
Hort des allgemeinen Christenthums und bemerkten in ihrem Rausche nicht
mehr, daß die Kirche der Gegenreformation jene Kräfte der evangelischen
Freiheit, welche der mittelalterlichen Kirche noch angehörten, längst von
sich gestoßen hatte.

In der historischen Wissenschaft war die harte, einseitig protestantische
Beurtheilung des Papstthums, welche im achtzehnten Jahrhundert vor-
herrschte, zuerst durch Joh. v. Müller's Reisen der Päpste erschüttert worden.
Dies Büchlein begann nun erst seine volle Wirkung zu äußern. Walter,
Hurter, Böhmer und viele Andere aus der jungen Generation verdankten
ihm die Grundgedanken ihrer kirchenpolitischen Doctrin. Der erregbare, von
allen Strömungen der Zeit fortgerissene Historiker hatte das Buch einst ver-
faßt um den Ehrgeiz Joseph's II. zu bekämpfen und dem einzigen politi-
schen Gedanken, den er in den proteischen Wandlungen seines Lebens un-
verrückbar festhielt, der Idee des Gleichgewichts, der Verwerfung jeder
Weltherrschaft einen mächtigen Ausdruck zu geben. Er sah in den Trium-
phen Gregor's VII. den Sieg des Geistes über Waffengewalt: seit jener
alte, kranke, flüchtige Papst allen abendländischen Völkern seine Seele gab
und alsdann zu den Königen sprach: bis hierher sollt Ihr herrschen! --
"von dem an war eine Freistatt wider den Zorn der Potentaten, der
Altar, es war eine Freistatt wider den Mißbrauch des geistlichen Ansehens,
der Thron, und in dem Gleichgewicht lag öffentliches Wohl."

*) Zastrow's Bericht, 17. Juli 1821.

Romantik und Papismus.
Zeiten der Finſterniß, die für Licht der Wahn ausgab,“ wie Ludwig von
Baiern ſagte; in den Kreiſen der Eingeweihten erfreute man ſich an dem
Ausſpruch von Novalis, die Aufklärung habe das Licht geliebt wegen ſeines
mathematiſchen Gehorſams und wegen ſeiner Frechheit, und pries mit dem
ſchwärmeriſchen Dichter das fromme Mittelalter, das den unendlichen
Glauben dem eingeſchränkten Wiſſen vorzog. In der That behauptete der
unendliche Glaube auch in dieſem bildungsſtolzen Jahrhundert noch ſeine
Macht, ſogar die höchſten Schichten der Geſellſchaft waren dem rohen
Mirakelwahn noch keineswegs entwachſen. Unter wachſendem Zulauf be-
trieb Prinz Alexander Hohenlohe in Franken ſeine Gebetskuren, er heilte
bereits blinde Hofdamen und gelähmte Prinzeſſinnen, ſelbſt der bairiſche
Kronprinz glaubte einmal, daß ihn der heilige Mann von ſeinem Gehör-
leiden befreit habe — was ſich freilich bald als ein Irrthum herausſtellte
— und ſchrieb einem Freunde bedeutſam: „wir leben in mehrfacher Hin-
ſicht in einer großen Zeit!“*) Viele fromme Gemüther, die ſich nach der
urſprünglichen Einheit der Chriſtenheit zurückſehnten, wiederholten gläubig
die berühmten Verſe A. W. Schlegel’s:

Eins war Europa in den großen Zeiten.
Für Einen Glauben wollten Alle ſtreiten,
Die Herzen waren Einer Lieb’ erſchloſſen.

Sie wendeten ihre hoffenden Blicke auf den römiſchen Stuhl als den
Hort des allgemeinen Chriſtenthums und bemerkten in ihrem Rauſche nicht
mehr, daß die Kirche der Gegenreformation jene Kräfte der evangeliſchen
Freiheit, welche der mittelalterlichen Kirche noch angehörten, längſt von
ſich geſtoßen hatte.

In der hiſtoriſchen Wiſſenſchaft war die harte, einſeitig proteſtantiſche
Beurtheilung des Papſtthums, welche im achtzehnten Jahrhundert vor-
herrſchte, zuerſt durch Joh. v. Müller’s Reiſen der Päpſte erſchüttert worden.
Dies Büchlein begann nun erſt ſeine volle Wirkung zu äußern. Walter,
Hurter, Böhmer und viele Andere aus der jungen Generation verdankten
ihm die Grundgedanken ihrer kirchenpolitiſchen Doctrin. Der erregbare, von
allen Strömungen der Zeit fortgeriſſene Hiſtoriker hatte das Buch einſt ver-
faßt um den Ehrgeiz Joſeph’s II. zu bekämpfen und dem einzigen politi-
ſchen Gedanken, den er in den proteiſchen Wandlungen ſeines Lebens un-
verrückbar feſthielt, der Idee des Gleichgewichts, der Verwerfung jeder
Weltherrſchaft einen mächtigen Ausdruck zu geben. Er ſah in den Trium-
phen Gregor’s VII. den Sieg des Geiſtes über Waffengewalt: ſeit jener
alte, kranke, flüchtige Papſt allen abendländiſchen Völkern ſeine Seele gab
und alsdann zu den Königen ſprach: bis hierher ſollt Ihr herrſchen! —
„von dem an war eine Freiſtatt wider den Zorn der Potentaten, der
Altar, es war eine Freiſtatt wider den Mißbrauch des geiſtlichen Anſehens,
der Thron, und in dem Gleichgewicht lag öffentliches Wohl.“

*) Zaſtrow’s Bericht, 17. Juli 1821.
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[213/0229] Romantik und Papismus. Zeiten der Finſterniß, die für Licht der Wahn ausgab,“ wie Ludwig von Baiern ſagte; in den Kreiſen der Eingeweihten erfreute man ſich an dem Ausſpruch von Novalis, die Aufklärung habe das Licht geliebt wegen ſeines mathematiſchen Gehorſams und wegen ſeiner Frechheit, und pries mit dem ſchwärmeriſchen Dichter das fromme Mittelalter, das den unendlichen Glauben dem eingeſchränkten Wiſſen vorzog. In der That behauptete der unendliche Glaube auch in dieſem bildungsſtolzen Jahrhundert noch ſeine Macht, ſogar die höchſten Schichten der Geſellſchaft waren dem rohen Mirakelwahn noch keineswegs entwachſen. Unter wachſendem Zulauf be- trieb Prinz Alexander Hohenlohe in Franken ſeine Gebetskuren, er heilte bereits blinde Hofdamen und gelähmte Prinzeſſinnen, ſelbſt der bairiſche Kronprinz glaubte einmal, daß ihn der heilige Mann von ſeinem Gehör- leiden befreit habe — was ſich freilich bald als ein Irrthum herausſtellte — und ſchrieb einem Freunde bedeutſam: „wir leben in mehrfacher Hin- ſicht in einer großen Zeit!“ *) Viele fromme Gemüther, die ſich nach der urſprünglichen Einheit der Chriſtenheit zurückſehnten, wiederholten gläubig die berühmten Verſe A. W. Schlegel’s: Eins war Europa in den großen Zeiten. Für Einen Glauben wollten Alle ſtreiten, Die Herzen waren Einer Lieb’ erſchloſſen. Sie wendeten ihre hoffenden Blicke auf den römiſchen Stuhl als den Hort des allgemeinen Chriſtenthums und bemerkten in ihrem Rauſche nicht mehr, daß die Kirche der Gegenreformation jene Kräfte der evangeliſchen Freiheit, welche der mittelalterlichen Kirche noch angehörten, längſt von ſich geſtoßen hatte. In der hiſtoriſchen Wiſſenſchaft war die harte, einſeitig proteſtantiſche Beurtheilung des Papſtthums, welche im achtzehnten Jahrhundert vor- herrſchte, zuerſt durch Joh. v. Müller’s Reiſen der Päpſte erſchüttert worden. Dies Büchlein begann nun erſt ſeine volle Wirkung zu äußern. Walter, Hurter, Böhmer und viele Andere aus der jungen Generation verdankten ihm die Grundgedanken ihrer kirchenpolitiſchen Doctrin. Der erregbare, von allen Strömungen der Zeit fortgeriſſene Hiſtoriker hatte das Buch einſt ver- faßt um den Ehrgeiz Joſeph’s II. zu bekämpfen und dem einzigen politi- ſchen Gedanken, den er in den proteiſchen Wandlungen ſeines Lebens un- verrückbar feſthielt, der Idee des Gleichgewichts, der Verwerfung jeder Weltherrſchaft einen mächtigen Ausdruck zu geben. Er ſah in den Trium- phen Gregor’s VII. den Sieg des Geiſtes über Waffengewalt: ſeit jener alte, kranke, flüchtige Papſt allen abendländiſchen Völkern ſeine Seele gab und alsdann zu den Königen ſprach: bis hierher ſollt Ihr herrſchen! — „von dem an war eine Freiſtatt wider den Zorn der Potentaten, der Altar, es war eine Freiſtatt wider den Mißbrauch des geiſtlichen Anſehens, der Thron, und in dem Gleichgewicht lag öffentliches Wohl.“ *) Zaſtrow’s Bericht, 17. Juli 1821.

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 3: Bis zur Juli-Revolution. Leipzig, 1885, S. 213. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte03_1885/229>, abgerufen am 21.11.2024.