III. 4. Der Ausgang des preußischen Verfassungskampfes.
vinzialmeinungen darbieten." Voß hingegen erklärte kurzab, man dürfe "dem gesetzgebenden Willen nicht vorgreifen"; Wittgenstein und Albrecht stimmten ihm zu. Man einigte sich endlich (21. Mai) über ein schwäch- liches Compromiß: das neue Gesetz sollte weder der Verordnung vom 22. Mai noch des Wahlrechts für den Reichstag gedenken, doch dafür aus jener entscheidenden Cabinetsordre vom 11. Juni 1821 den Satz aufnehmen, welcher aussprach, das Wann und Wie der Reichsstände bleibe "Unserer landesväterlichen Fürsorge vorbehalten".
Welch ein Mißgriff! Das Gesetz befahl nicht, es versprach nicht ein- mal, es stellte nur mit schwankenden Worten in Aussicht, daß vielleicht der- einst Reichsstände erscheinen könnten! Die unbestimmte, vieldeutige Rede- wendung gab dem Zwiespalt, der unter den Gesetzgebern selber herrschte, einen getreuen Ausdruck. Voß und Wittgenstein wollten überhaupt keinen Reichstag, während der Kronprinz, Ancillon und die beiden Präsidenten noch immer daran festhielten. Dem Prinzen schwebte der Gedanke vor, daß die Monarchie in ihrem ständischen Leben denselben langsamen Entwick- lungsgang zur Einheit durchmessen sollte, den ihre Verwaltung bereits vollendet hatte. Und doch überkam ihn immer wieder der Zweifel, ob der Lauf der Geschichte sich also meistern lasse. Im October, lange nachdem die Commission schlüssig geworden, verlangte er Stein's Gutachten über die Provinzialstände und fragte den Freiherrn zugleich in einem schönen, warmherzigen Briefe, ob die Reichsstände gleichzeitig mit den Provinzial- ständen oder unmittelbar nachher oder erst nach längerer Erfahrung er- scheinen sollten. Der Brief kam zur unglücklichen Stunde. Stein war gereizt und verstimmt, er hatte sich schon allzu tief eingelassen in die alt- ständische Parteibewegung, die nach ihrem innersten Wesen den Reichs- ständen zuwiderlief. Er ermahnte den Prinzen zwar zum Vertrauen auf dies brave, treue, besonnene Volk; aber statt dem Schwankenden die schleunige Berufung der Reichsstände ans Herz zu legen, gab er ganz gegen seine Art eine halb ausweichende Antwort und begnügte sich mit der Bemerkung, die Provinzialstände böten immerhin eine nützliche Vor- übung, um Erfahrungen zu sammeln für den Reichstag. Kein Zweifel, daß dieser unselige Spruch aus solchem Munde sehr tief eingewirkt hat auf das Urtheil des Prinzen. Unter allen Staatsmännern der Zeit hat allein Humboldt die planlose Unklarheit des ganzen Unternehmens klar durch- schaut. Er blieb dabei, daß man die Arbeit an den Theilen nicht be- ginnen dürfe ohne einen Plan für das Ganze; und wie verkehrt, den Bau in der Mitte anzufangen, statt bei den Grundlagen, den Kreisen und Gemeinden!
Sodann erhob sich eine Formfrage, welche den tiefen Gegensatz der Parteien grell zu Tage treten ließ. Sollten die allgemeinen Grundsätze über die Einrichtung der Provinzialstände in einem Gesetze für die ge- sammte Monarchie verkündigt, und dann die Detailbestimmungen über
III. 4. Der Ausgang des preußiſchen Verfaſſungskampfes.
vinzialmeinungen darbieten.“ Voß hingegen erklärte kurzab, man dürfe „dem geſetzgebenden Willen nicht vorgreifen“; Wittgenſtein und Albrecht ſtimmten ihm zu. Man einigte ſich endlich (21. Mai) über ein ſchwäch- liches Compromiß: das neue Geſetz ſollte weder der Verordnung vom 22. Mai noch des Wahlrechts für den Reichstag gedenken, doch dafür aus jener entſcheidenden Cabinetsordre vom 11. Juni 1821 den Satz aufnehmen, welcher ausſprach, das Wann und Wie der Reichsſtände bleibe „Unſerer landesväterlichen Fürſorge vorbehalten“.
Welch ein Mißgriff! Das Geſetz befahl nicht, es verſprach nicht ein- mal, es ſtellte nur mit ſchwankenden Worten in Ausſicht, daß vielleicht der- einſt Reichsſtände erſcheinen könnten! Die unbeſtimmte, vieldeutige Rede- wendung gab dem Zwieſpalt, der unter den Geſetzgebern ſelber herrſchte, einen getreuen Ausdruck. Voß und Wittgenſtein wollten überhaupt keinen Reichstag, während der Kronprinz, Ancillon und die beiden Präſidenten noch immer daran feſthielten. Dem Prinzen ſchwebte der Gedanke vor, daß die Monarchie in ihrem ſtändiſchen Leben denſelben langſamen Entwick- lungsgang zur Einheit durchmeſſen ſollte, den ihre Verwaltung bereits vollendet hatte. Und doch überkam ihn immer wieder der Zweifel, ob der Lauf der Geſchichte ſich alſo meiſtern laſſe. Im October, lange nachdem die Commiſſion ſchlüſſig geworden, verlangte er Stein’s Gutachten über die Provinzialſtände und fragte den Freiherrn zugleich in einem ſchönen, warmherzigen Briefe, ob die Reichsſtände gleichzeitig mit den Provinzial- ſtänden oder unmittelbar nachher oder erſt nach längerer Erfahrung er- ſcheinen ſollten. Der Brief kam zur unglücklichen Stunde. Stein war gereizt und verſtimmt, er hatte ſich ſchon allzu tief eingelaſſen in die alt- ſtändiſche Parteibewegung, die nach ihrem innerſten Weſen den Reichs- ſtänden zuwiderlief. Er ermahnte den Prinzen zwar zum Vertrauen auf dies brave, treue, beſonnene Volk; aber ſtatt dem Schwankenden die ſchleunige Berufung der Reichsſtände ans Herz zu legen, gab er ganz gegen ſeine Art eine halb ausweichende Antwort und begnügte ſich mit der Bemerkung, die Provinzialſtände böten immerhin eine nützliche Vor- übung, um Erfahrungen zu ſammeln für den Reichstag. Kein Zweifel, daß dieſer unſelige Spruch aus ſolchem Munde ſehr tief eingewirkt hat auf das Urtheil des Prinzen. Unter allen Staatsmännern der Zeit hat allein Humboldt die planloſe Unklarheit des ganzen Unternehmens klar durch- ſchaut. Er blieb dabei, daß man die Arbeit an den Theilen nicht be- ginnen dürfe ohne einen Plan für das Ganze; und wie verkehrt, den Bau in der Mitte anzufangen, ſtatt bei den Grundlagen, den Kreiſen und Gemeinden!
Sodann erhob ſich eine Formfrage, welche den tiefen Gegenſatz der Parteien grell zu Tage treten ließ. Sollten die allgemeinen Grundſätze über die Einrichtung der Provinzialſtände in einem Geſetze für die ge- ſammte Monarchie verkündigt, und dann die Detailbeſtimmungen über
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III. 4. Der Ausgang des preußiſchen Verfaſſungskampfes.
vinzialmeinungen darbieten.“ Voß hingegen erklärte kurzab, man dürfe
„dem geſetzgebenden Willen nicht vorgreifen“; Wittgenſtein und Albrecht
ſtimmten ihm zu. Man einigte ſich endlich (21. Mai) über ein ſchwäch-
liches Compromiß: das neue Geſetz ſollte weder der Verordnung vom
22. Mai noch des Wahlrechts für den Reichstag gedenken, doch dafür
aus jener entſcheidenden Cabinetsordre vom 11. Juni 1821 den Satz
aufnehmen, welcher ausſprach, das Wann und Wie der Reichsſtände bleibe
„Unſerer landesväterlichen Fürſorge vorbehalten“.
Welch ein Mißgriff! Das Geſetz befahl nicht, es verſprach nicht ein-
mal, es ſtellte nur mit ſchwankenden Worten in Ausſicht, daß vielleicht der-
einſt Reichsſtände erſcheinen könnten! Die unbeſtimmte, vieldeutige Rede-
wendung gab dem Zwieſpalt, der unter den Geſetzgebern ſelber herrſchte,
einen getreuen Ausdruck. Voß und Wittgenſtein wollten überhaupt keinen
Reichstag, während der Kronprinz, Ancillon und die beiden Präſidenten
noch immer daran feſthielten. Dem Prinzen ſchwebte der Gedanke vor, daß
die Monarchie in ihrem ſtändiſchen Leben denſelben langſamen Entwick-
lungsgang zur Einheit durchmeſſen ſollte, den ihre Verwaltung bereits
vollendet hatte. Und doch überkam ihn immer wieder der Zweifel, ob der
Lauf der Geſchichte ſich alſo meiſtern laſſe. Im October, lange nachdem
die Commiſſion ſchlüſſig geworden, verlangte er Stein’s Gutachten über
die Provinzialſtände und fragte den Freiherrn zugleich in einem ſchönen,
warmherzigen Briefe, ob die Reichsſtände gleichzeitig mit den Provinzial-
ſtänden oder unmittelbar nachher oder erſt nach längerer Erfahrung er-
ſcheinen ſollten. Der Brief kam zur unglücklichen Stunde. Stein war
gereizt und verſtimmt, er hatte ſich ſchon allzu tief eingelaſſen in die alt-
ſtändiſche Parteibewegung, die nach ihrem innerſten Weſen den Reichs-
ſtänden zuwiderlief. Er ermahnte den Prinzen zwar zum Vertrauen auf
dies brave, treue, beſonnene Volk; aber ſtatt dem Schwankenden die
ſchleunige Berufung der Reichsſtände ans Herz zu legen, gab er ganz
gegen ſeine Art eine halb ausweichende Antwort und begnügte ſich mit
der Bemerkung, die Provinzialſtände böten immerhin eine nützliche Vor-
übung, um Erfahrungen zu ſammeln für den Reichstag. Kein Zweifel,
daß dieſer unſelige Spruch aus ſolchem Munde ſehr tief eingewirkt hat auf
das Urtheil des Prinzen. Unter allen Staatsmännern der Zeit hat allein
Humboldt die planloſe Unklarheit des ganzen Unternehmens klar durch-
ſchaut. Er blieb dabei, daß man die Arbeit an den Theilen nicht be-
ginnen dürfe ohne einen Plan für das Ganze; und wie verkehrt, den
Bau in der Mitte anzufangen, ſtatt bei den Grundlagen, den Kreiſen
und Gemeinden!
Sodann erhob ſich eine Formfrage, welche den tiefen Gegenſatz der
Parteien grell zu Tage treten ließ. Sollten die allgemeinen Grundſätze
über die Einrichtung der Provinzialſtände in einem Geſetze für die ge-
ſammte Monarchie verkündigt, und dann die Detailbeſtimmungen über
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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 3: Bis zur Juli-Revolution. Leipzig, 1885, S. 240. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte03_1885/256>, abgerufen am 22.11.2024.
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