Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 3: Bis zur Juli-Revolution. Leipzig, 1885.Die Provinzialstände. die Stimmenzahl u. dgl. durch Specialgesetze für jede einzelne Provinzfestgestellt werden? Oder sollte jede Provinz ihre eigene Verfassungs- urkunde erhalten? Offenbar sprach die Natur der Dinge wie die alte preußische Tradition für die erstere Form, die auch von den beiden Präsi- denten lebhaft vertheidigt wurde. Man war ja entschlossen, allen Pro- vinzen eine im Wesentlichen gleichförmige Verfassung zu geben; für die geringfügigen Abweichungen von der Regel genügten kurze Specialgesetze. Aber die historische Doctrin verwarf Alles, was einer preußischen Ver- fassung auch nur ähnlich sah. "Ein solches allgemeines Gesetz", meinte Ancillon, "würde den modischen, papierenen, aus dem Stegreif erschaf- fenen Verfassungen, als etwas ganz Neuem, ähnlich sein; jede Provinz soll ihre eigene vollständige Charte erhalten, eine Ehre und Wohlthat, die eine jede gewiß hoch erfreuen werden." Noch bestimmter schrieb Schuckmann: "Ein allgemeines Gesetz würde als die in der Verordnung vom 22. Mai angekündigte Verfassungsurkunde betrachtet werden und aus diesem Gesichtspunkte den bittersten Urtheilen bloßgestellt sein." Zuletzt kam wieder ein Compromiß zu Stande, im Wesentlichen der Meinung des historischen Partikularismus entsprechend. Ein allgemeines Gesetz von wenigen Zeilen, das Niemand für eine Verfassungsurkunde halten konnte, verkündigte die Errichtung der Provinzialstände; darauf folgten acht um- fängliche Provinzialverfassungen, welche, bis auf kleine Abweichungen, acht- mal dieselben Sätze wiederholten, und diese "Charten", mit Ancillon zu reden, standen leider auch auf Papier! Und waren es denn wirklich die historischen Landtage, die man wie- Treitschke, Deutsche Geschichte. III. 16
Die Provinzialſtände. die Stimmenzahl u. dgl. durch Specialgeſetze für jede einzelne Provinzfeſtgeſtellt werden? Oder ſollte jede Provinz ihre eigene Verfaſſungs- urkunde erhalten? Offenbar ſprach die Natur der Dinge wie die alte preußiſche Tradition für die erſtere Form, die auch von den beiden Präſi- denten lebhaft vertheidigt wurde. Man war ja entſchloſſen, allen Pro- vinzen eine im Weſentlichen gleichförmige Verfaſſung zu geben; für die geringfügigen Abweichungen von der Regel genügten kurze Specialgeſetze. Aber die hiſtoriſche Doctrin verwarf Alles, was einer preußiſchen Ver- faſſung auch nur ähnlich ſah. „Ein ſolches allgemeines Geſetz“, meinte Ancillon, „würde den modiſchen, papierenen, aus dem Stegreif erſchaf- fenen Verfaſſungen, als etwas ganz Neuem, ähnlich ſein; jede Provinz ſoll ihre eigene vollſtändige Charte erhalten, eine Ehre und Wohlthat, die eine jede gewiß hoch erfreuen werden.“ Noch beſtimmter ſchrieb Schuckmann: „Ein allgemeines Geſetz würde als die in der Verordnung vom 22. Mai angekündigte Verfaſſungsurkunde betrachtet werden und aus dieſem Geſichtspunkte den bitterſten Urtheilen bloßgeſtellt ſein.“ Zuletzt kam wieder ein Compromiß zu Stande, im Weſentlichen der Meinung des hiſtoriſchen Partikularismus entſprechend. Ein allgemeines Geſetz von wenigen Zeilen, das Niemand für eine Verfaſſungsurkunde halten konnte, verkündigte die Errichtung der Provinzialſtände; darauf folgten acht um- fängliche Provinzialverfaſſungen, welche, bis auf kleine Abweichungen, acht- mal dieſelben Sätze wiederholten, und dieſe „Charten“, mit Ancillon zu reden, ſtanden leider auch auf Papier! Und waren es denn wirklich die hiſtoriſchen Landtage, die man wie- Treitſchke, Deutſche Geſchichte. III. 16
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Die Provinzialſtände.
die Stimmenzahl u. dgl. durch Specialgeſetze für jede einzelne Provinz
feſtgeſtellt werden? Oder ſollte jede Provinz ihre eigene Verfaſſungs-
urkunde erhalten? Offenbar ſprach die Natur der Dinge wie die alte
preußiſche Tradition für die erſtere Form, die auch von den beiden Präſi-
denten lebhaft vertheidigt wurde. Man war ja entſchloſſen, allen Pro-
vinzen eine im Weſentlichen gleichförmige Verfaſſung zu geben; für die
geringfügigen Abweichungen von der Regel genügten kurze Specialgeſetze.
Aber die hiſtoriſche Doctrin verwarf Alles, was einer preußiſchen Ver-
faſſung auch nur ähnlich ſah. „Ein ſolches allgemeines Geſetz“, meinte
Ancillon, „würde den modiſchen, papierenen, aus dem Stegreif erſchaf-
fenen Verfaſſungen, als etwas ganz Neuem, ähnlich ſein; jede Provinz
ſoll ihre eigene vollſtändige Charte erhalten, eine Ehre und Wohlthat,
die eine jede gewiß hoch erfreuen werden.“ Noch beſtimmter ſchrieb
Schuckmann: „Ein allgemeines Geſetz würde als die in der Verordnung
vom 22. Mai angekündigte Verfaſſungsurkunde betrachtet werden und aus
dieſem Geſichtspunkte den bitterſten Urtheilen bloßgeſtellt ſein.“ Zuletzt
kam wieder ein Compromiß zu Stande, im Weſentlichen der Meinung
des hiſtoriſchen Partikularismus entſprechend. Ein allgemeines Geſetz von
wenigen Zeilen, das Niemand für eine Verfaſſungsurkunde halten konnte,
verkündigte die Errichtung der Provinzialſtände; darauf folgten acht um-
fängliche Provinzialverfaſſungen, welche, bis auf kleine Abweichungen, acht-
mal dieſelben Sätze wiederholten, und dieſe „Charten“, mit Ancillon zu
reden, ſtanden leider auch auf Papier!
Und waren es denn wirklich die hiſtoriſchen Landtage, die man wie-
derherſtellte? So lange es nur galt die Pläne des Staatskanzlers zu
durchkreuzen, war es ein Leichtes, für die unantaſtbaren Rechte althiſtori-
ſcher ſtändiſcher Verbände ſich zu begeiſtern. Sobald man ſelber an das
Schaffen ging, drängten ſich die Bedürfniſſe des modernen Staats auch den
hiſtoriſchen Doktrinären unabweisbar auf. Die Geſchichte des neuen Jahr-
hunderts forderte ihr Recht vor der älteren Geſchichte. Alle Inſtitutionen
des Staates hingen feſt mit der neuen Provinzialeintheilung zuſammen,
vornehmlich das Steuerſyſtem. Der Antheil der Altmark an der Klaſſen-
ſteuer war bereits in der Geſammt-Steuerſumme der Provinz Sachſen
verrechnet; riß man nun, nach dem „hiſtoriſchen Prinzip“, die altmärki-
ſchen Stände aus dem ſächſiſchen Provinziallandtage heraus, um ſie dem
brandenburgiſchen einzufügen, wie ſollten dann die brandenburgiſchen Pro-
vinzialſtände für die Repartition der altmärkiſchen Steuern ſorgen? Schon
die Verordnung vom 30. April 1815 hatte die provinzialſtändiſchen An-
gelegenheiten für Provinzialſachen erklärt und ſie der Aufſicht der Ober-
präſidenten unterſtellt. Darin lag keineswegs Willkür; denn die neuen
Provinzen durften mit beſſerem Recht hiſtoriſche Körper heißen als die
alten Territorien, ſie ruhten auf der lebendigen Gemeinſchaft der Stam-
mesart und Sitte, der Erinnerungen und des Verkehrs. Mit dieſen
Treitſchke, Deutſche Geſchichte. III. 16
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