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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 3: Bis zur Juli-Revolution. Leipzig, 1885.

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III. 6. Preußische Zustände nach Hardenberg's Tod.
Landhaus und, unter einigen Beschränkungen, auch die Verwaltung des
Landarmenwesens wieder. Sie ernannte, um die Landtage zu ehren, alle
Landtagsmarschälle zu Mitgliedern des Staatsraths: so kam es, daß jetzt
endlich auch Stein die ihm längst gebührende Stellung erhielt und gleich-
zeitig mit Marwitz in den Staatsrath berufen wurde, nachdem der König
sich zuvor durch Herzog Karl behutsam hatte erkundigen lassen, ob der
stolze Freiherr den Gnadenbeweis auch annehmen wolle.*) Der letzte
Verfassungsausschuß, der die Provinzialstände geschaffen hatte, bestand in
etwas veränderter Zusammensetzung fort als "Immediat-Commission" für
die ständischen Angelegenheiten, um alle Vorlagen für die Stände, alle
Landtagsabschiede und Wahlprüfungen zu begutachten. Der Kronprinz
behielt den Vorsitz, das Protokoll führte Geh.-Rath v. Voß-Buch, des
alten Ministers gleichgesinnter Neffe, der sich das volle Vertrauen des
Thronfolgers erwarb und in der Regel mit seiner gewandten Feder die
politischen Denkschriften des Prinzen entwarf.**) Dreiundzwanzig Jahre
lang, bis nach der Berufung des Vereinigten Landtags, blieb diese Imme-
diatcommission die Vermittlerin zwischen der Krone und den Landtagen;
an Wohlwollen ließ sie es nicht fehlen, da der Kronprinz seine deutsch-
rechtlichen Stände so fest ins Herz geschlossen hatte.

Aber das Alles konnte den lebendigen Verkehr mit den Landständen
nicht ersetzen; und diesen hatte sich die Regierung selber abgeschnitten, theils
aus bureaukratischer Aengstlichkeit, theils weil das unnatürlich zersplitterte
Ständewesen zu solcher Beschränkung zwang. Es war unmöglich, daß die
Minister in acht Landtagen selbst erschienen, und ebenso unmöglich, die Ver-
theidigung der Vorlagen den Provinzialbehörden zu übertragen, da die Ge-
setzentwürfe zumeist mittelbar oder unmittelbar den ganzen Staat angingen.
Darum erhielten die Landtage nur bei der Eröffnung durch den königlichen
Commissar die Propositionen der Krone vorgelegt und blieben nachher sich
selber überlassen. Der beste Inhalt deutscher Landtagsverhandlungen,
der unmittelbare Gedankenaustausch zwischen Regierung und Ständen,
fehlte hier gänzlich. Erst nach dem Schlusse des Landtags gab die Krone
ihre Entscheidung kund, und diese Landtagsabschiede verspäteten sich unge-
bührlich, oft um ein volles Jahr und mehr, weil der König die Bitten
seiner Rheinländer oder Brandenburger nicht beantworten konnte ohne
zuvor die Ansicht der Westphalen oder der Schlesier vernommen zu haben.
So rächte sich überall jener künstelnde Doctrinarismus, der die lebendige
Staatseinheit in acht Theile zerschneiden wollte. Und wie nach oben so
hatten die Stände auch nach unten hin keine Fühlung. Die kurzen Ueber-

*) Lottum an Herzog Karl v. Mecklenburg, 29. April; Herzog Karl an Lottum,
29. April, an den König, 30. April 1827.
**) Cabinetsordres an den Kronprinzen, 5. Nov. 1824, 9. Febr. 1828; Minister
v. Massow, Promemoria über die Immediatcommission, 20. Okt. 1847.

III. 6. Preußiſche Zuſtände nach Hardenberg’s Tod.
Landhaus und, unter einigen Beſchränkungen, auch die Verwaltung des
Landarmenweſens wieder. Sie ernannte, um die Landtage zu ehren, alle
Landtagsmarſchälle zu Mitgliedern des Staatsraths: ſo kam es, daß jetzt
endlich auch Stein die ihm längſt gebührende Stellung erhielt und gleich-
zeitig mit Marwitz in den Staatsrath berufen wurde, nachdem der König
ſich zuvor durch Herzog Karl behutſam hatte erkundigen laſſen, ob der
ſtolze Freiherr den Gnadenbeweis auch annehmen wolle.*) Der letzte
Verfaſſungsausſchuß, der die Provinzialſtände geſchaffen hatte, beſtand in
etwas veränderter Zuſammenſetzung fort als „Immediat-Commiſſion“ für
die ſtändiſchen Angelegenheiten, um alle Vorlagen für die Stände, alle
Landtagsabſchiede und Wahlprüfungen zu begutachten. Der Kronprinz
behielt den Vorſitz, das Protokoll führte Geh.-Rath v. Voß-Buch, des
alten Miniſters gleichgeſinnter Neffe, der ſich das volle Vertrauen des
Thronfolgers erwarb und in der Regel mit ſeiner gewandten Feder die
politiſchen Denkſchriften des Prinzen entwarf.**) Dreiundzwanzig Jahre
lang, bis nach der Berufung des Vereinigten Landtags, blieb dieſe Imme-
diatcommiſſion die Vermittlerin zwiſchen der Krone und den Landtagen;
an Wohlwollen ließ ſie es nicht fehlen, da der Kronprinz ſeine deutſch-
rechtlichen Stände ſo feſt ins Herz geſchloſſen hatte.

Aber das Alles konnte den lebendigen Verkehr mit den Landſtänden
nicht erſetzen; und dieſen hatte ſich die Regierung ſelber abgeſchnitten, theils
aus bureaukratiſcher Aengſtlichkeit, theils weil das unnatürlich zerſplitterte
Ständeweſen zu ſolcher Beſchränkung zwang. Es war unmöglich, daß die
Miniſter in acht Landtagen ſelbſt erſchienen, und ebenſo unmöglich, die Ver-
theidigung der Vorlagen den Provinzialbehörden zu übertragen, da die Ge-
ſetzentwürfe zumeiſt mittelbar oder unmittelbar den ganzen Staat angingen.
Darum erhielten die Landtage nur bei der Eröffnung durch den königlichen
Commiſſar die Propoſitionen der Krone vorgelegt und blieben nachher ſich
ſelber überlaſſen. Der beſte Inhalt deutſcher Landtagsverhandlungen,
der unmittelbare Gedankenaustauſch zwiſchen Regierung und Ständen,
fehlte hier gänzlich. Erſt nach dem Schluſſe des Landtags gab die Krone
ihre Entſcheidung kund, und dieſe Landtagsabſchiede verſpäteten ſich unge-
bührlich, oft um ein volles Jahr und mehr, weil der König die Bitten
ſeiner Rheinländer oder Brandenburger nicht beantworten konnte ohne
zuvor die Anſicht der Weſtphalen oder der Schleſier vernommen zu haben.
So rächte ſich überall jener künſtelnde Doctrinarismus, der die lebendige
Staatseinheit in acht Theile zerſchneiden wollte. Und wie nach oben ſo
hatten die Stände auch nach unten hin keine Fühlung. Die kurzen Ueber-

*) Lottum an Herzog Karl v. Mecklenburg, 29. April; Herzog Karl an Lottum,
29. April, an den König, 30. April 1827.
**) Cabinetsordres an den Kronprinzen, 5. Nov. 1824, 9. Febr. 1828; Miniſter
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[366/0382] III. 6. Preußiſche Zuſtände nach Hardenberg’s Tod. Landhaus und, unter einigen Beſchränkungen, auch die Verwaltung des Landarmenweſens wieder. Sie ernannte, um die Landtage zu ehren, alle Landtagsmarſchälle zu Mitgliedern des Staatsraths: ſo kam es, daß jetzt endlich auch Stein die ihm längſt gebührende Stellung erhielt und gleich- zeitig mit Marwitz in den Staatsrath berufen wurde, nachdem der König ſich zuvor durch Herzog Karl behutſam hatte erkundigen laſſen, ob der ſtolze Freiherr den Gnadenbeweis auch annehmen wolle. *) Der letzte Verfaſſungsausſchuß, der die Provinzialſtände geſchaffen hatte, beſtand in etwas veränderter Zuſammenſetzung fort als „Immediat-Commiſſion“ für die ſtändiſchen Angelegenheiten, um alle Vorlagen für die Stände, alle Landtagsabſchiede und Wahlprüfungen zu begutachten. Der Kronprinz behielt den Vorſitz, das Protokoll führte Geh.-Rath v. Voß-Buch, des alten Miniſters gleichgeſinnter Neffe, der ſich das volle Vertrauen des Thronfolgers erwarb und in der Regel mit ſeiner gewandten Feder die politiſchen Denkſchriften des Prinzen entwarf. **) Dreiundzwanzig Jahre lang, bis nach der Berufung des Vereinigten Landtags, blieb dieſe Imme- diatcommiſſion die Vermittlerin zwiſchen der Krone und den Landtagen; an Wohlwollen ließ ſie es nicht fehlen, da der Kronprinz ſeine deutſch- rechtlichen Stände ſo feſt ins Herz geſchloſſen hatte. Aber das Alles konnte den lebendigen Verkehr mit den Landſtänden nicht erſetzen; und dieſen hatte ſich die Regierung ſelber abgeſchnitten, theils aus bureaukratiſcher Aengſtlichkeit, theils weil das unnatürlich zerſplitterte Ständeweſen zu ſolcher Beſchränkung zwang. Es war unmöglich, daß die Miniſter in acht Landtagen ſelbſt erſchienen, und ebenſo unmöglich, die Ver- theidigung der Vorlagen den Provinzialbehörden zu übertragen, da die Ge- ſetzentwürfe zumeiſt mittelbar oder unmittelbar den ganzen Staat angingen. Darum erhielten die Landtage nur bei der Eröffnung durch den königlichen Commiſſar die Propoſitionen der Krone vorgelegt und blieben nachher ſich ſelber überlaſſen. Der beſte Inhalt deutſcher Landtagsverhandlungen, der unmittelbare Gedankenaustauſch zwiſchen Regierung und Ständen, fehlte hier gänzlich. Erſt nach dem Schluſſe des Landtags gab die Krone ihre Entſcheidung kund, und dieſe Landtagsabſchiede verſpäteten ſich unge- bührlich, oft um ein volles Jahr und mehr, weil der König die Bitten ſeiner Rheinländer oder Brandenburger nicht beantworten konnte ohne zuvor die Anſicht der Weſtphalen oder der Schleſier vernommen zu haben. So rächte ſich überall jener künſtelnde Doctrinarismus, der die lebendige Staatseinheit in acht Theile zerſchneiden wollte. Und wie nach oben ſo hatten die Stände auch nach unten hin keine Fühlung. Die kurzen Ueber- *) Lottum an Herzog Karl v. Mecklenburg, 29. April; Herzog Karl an Lottum, 29. April, an den König, 30. April 1827. **) Cabinetsordres an den Kronprinzen, 5. Nov. 1824, 9. Febr. 1828; Miniſter v. Maſſow, Promemoria über die Immediatcommiſſion, 20. Okt. 1847.

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 3: Bis zur Juli-Revolution. Leipzig, 1885, S. 366. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte03_1885/382>, abgerufen am 24.11.2024.