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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 3: Bis zur Juli-Revolution. Leipzig, 1885.

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Dresden und Leipzig.
und werthvollere Hälfte des Landes, die dem albertinischen Staate von
jeher seinen Charakter gegeben hatte, blieb der Dynastie erhalten -- ein
Gebiet, lächerlich klein für die Ansprüche der neuen Königskrone, aber noch
immer stark genug um im Deutschen Bunde den ersten Platz hinter Baiern
zu behaupten. Welche erstaunliche Mannichfaltigkeit der Bildung und
des Verkehrs drängte sich hier auf engem Raume zusammen; fast an Allem
was Deutschlands Leben ausmachte, nahm das fleißige Land seinen Antheil.
Halb Residenz, halb Fremdenort, bewahrte sich die Hauptstadt noch fast
unverändert die harmonische Schönheit ihrer barocken Pracht, wie einst
da Canaletto sie malte. Der Saus und Braus jener polnischen Zeiten
war freilich längst verklungen, nur noch selten wurden die Damen des
Adels in altfränkischen Portechaisen zu einem Feste des ehrbaren Hofes
aufs Schloß getragen; nur noch die Kunstschätze und die Reize der Natur
lockten die Schaar der Fremden an die Elbe. Ein selbständiges Bürger-
thum hatte in dieser einschläfernden Luft niemals aufkommen können. Hier
gediehen jene göttlichen Philister, unter denen der junge Ludwig Richter
seine lustigsten Gestalten fand: die Calculatoren und Hofsecretäre, die
Nachmittags nach maßvoller Bureau-Arbeit mit Kind und Kegel in die
Baumblüthe wanderten; der Kleinadel und die höheren Beamten, die im
Frühjahr auf Sommerpläsir in ihre Loschwitzer Weinbergshäuschen zogen;
und nicht zuletzt die Hofräthe, die ästhetischen Gelehrten vom Theater und
von den Sammlungen, im alten Dresden ebenso angesehen wie die Ge-
heimen Räthe im alten Berlin -- allesammt ein seelenvergnügtes, ewig
spazierengehendes Völkchen von makelloser politischer Unschuld und Zahmheit.

Mit ähnlichen freundnachbarlichen Gefühlen wie Frankfurt auf das
goldene Mainz, blickte das reiche Leipzig auf diese höfische Nachbarin her-
unter, der andere Pol des vielgestaltigen obersächsischen Lebens, eine Stadt
des Bürgerthums, aller Schönheit baar, aber von Altersher mächtig durch
die lebendige Verbindung kaufmännischer und wissenschaftlicher Thätigkeit.
Seit dem Ausgang des siebzehnten Jahrhunderts hatte der deutsche Buch-
handel, aus Frankfurt hinweggescheucht durch die gestrenge kaiserliche Censur,
an der Pleiße seinen Markt aufgeschlagen; die Universität und die schrift-
stellerische Emsigkeit der Kursachsen arbeiteten ihm in die Hände. Um
1820 wurde fast ein Drittel aller deutschen Bücher in Leipzig gedruckt,
jeder angesehene deutsche Verleger hielt sich dort seinen Commissionär
und besuchte die Ostermesse. Unaufhaltsam wurden die kleinen Verleger
im katholischen Oberlande, die bisher ihre Schul- und Andachtsbücher
durch Reisende in die Bauernhöfe der Alpen versendet hatten, in den ge-
ordneten Geschäftsbetrieb des "protestantischen Buchhandels" hineingezogen,
und wie die Literatur einst das erste Band unserer nationalen Einheit
gewesen war, so schuf sie sich jetzt auch -- nicht durch die Hilfe der
Bundespolizei, wie einst Metternich geplant, sondern frei aus eigener
Kraft -- die erste anerkannte gesammtdeutsche Corporation. Im Jahre

Dresden und Leipzig.
und werthvollere Hälfte des Landes, die dem albertiniſchen Staate von
jeher ſeinen Charakter gegeben hatte, blieb der Dynaſtie erhalten — ein
Gebiet, lächerlich klein für die Anſprüche der neuen Königskrone, aber noch
immer ſtark genug um im Deutſchen Bunde den erſten Platz hinter Baiern
zu behaupten. Welche erſtaunliche Mannichfaltigkeit der Bildung und
des Verkehrs drängte ſich hier auf engem Raume zuſammen; faſt an Allem
was Deutſchlands Leben ausmachte, nahm das fleißige Land ſeinen Antheil.
Halb Reſidenz, halb Fremdenort, bewahrte ſich die Hauptſtadt noch faſt
unverändert die harmoniſche Schönheit ihrer barocken Pracht, wie einſt
da Canaletto ſie malte. Der Saus und Braus jener polniſchen Zeiten
war freilich längſt verklungen, nur noch ſelten wurden die Damen des
Adels in altfränkiſchen Portechaiſen zu einem Feſte des ehrbaren Hofes
aufs Schloß getragen; nur noch die Kunſtſchätze und die Reize der Natur
lockten die Schaar der Fremden an die Elbe. Ein ſelbſtändiges Bürger-
thum hatte in dieſer einſchläfernden Luft niemals aufkommen können. Hier
gediehen jene göttlichen Philiſter, unter denen der junge Ludwig Richter
ſeine luſtigſten Geſtalten fand: die Calculatoren und Hofſecretäre, die
Nachmittags nach maßvoller Bureau-Arbeit mit Kind und Kegel in die
Baumblüthe wanderten; der Kleinadel und die höheren Beamten, die im
Frühjahr auf Sommerpläſir in ihre Loſchwitzer Weinbergshäuschen zogen;
und nicht zuletzt die Hofräthe, die äſthetiſchen Gelehrten vom Theater und
von den Sammlungen, im alten Dresden ebenſo angeſehen wie die Ge-
heimen Räthe im alten Berlin — alleſammt ein ſeelenvergnügtes, ewig
ſpazierengehendes Völkchen von makelloſer politiſcher Unſchuld und Zahmheit.

Mit ähnlichen freundnachbarlichen Gefühlen wie Frankfurt auf das
goldene Mainz, blickte das reiche Leipzig auf dieſe höfiſche Nachbarin her-
unter, der andere Pol des vielgeſtaltigen oberſächſiſchen Lebens, eine Stadt
des Bürgerthums, aller Schönheit baar, aber von Altersher mächtig durch
die lebendige Verbindung kaufmänniſcher und wiſſenſchaftlicher Thätigkeit.
Seit dem Ausgang des ſiebzehnten Jahrhunderts hatte der deutſche Buch-
handel, aus Frankfurt hinweggeſcheucht durch die geſtrenge kaiſerliche Cenſur,
an der Pleiße ſeinen Markt aufgeſchlagen; die Univerſität und die ſchrift-
ſtelleriſche Emſigkeit der Kurſachſen arbeiteten ihm in die Hände. Um
1820 wurde faſt ein Drittel aller deutſchen Bücher in Leipzig gedruckt,
jeder angeſehene deutſche Verleger hielt ſich dort ſeinen Commiſſionär
und beſuchte die Oſtermeſſe. Unaufhaltſam wurden die kleinen Verleger
im katholiſchen Oberlande, die bisher ihre Schul- und Andachtsbücher
durch Reiſende in die Bauernhöfe der Alpen verſendet hatten, in den ge-
ordneten Geſchäftsbetrieb des „proteſtantiſchen Buchhandels“ hineingezogen,
und wie die Literatur einſt das erſte Band unſerer nationalen Einheit
geweſen war, ſo ſchuf ſie ſich jetzt auch — nicht durch die Hilfe der
Bundespolizei, wie einſt Metternich geplant, ſondern frei aus eigener
Kraft — die erſte anerkannte geſammtdeutſche Corporation. Im Jahre

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[503/0519] Dresden und Leipzig. und werthvollere Hälfte des Landes, die dem albertiniſchen Staate von jeher ſeinen Charakter gegeben hatte, blieb der Dynaſtie erhalten — ein Gebiet, lächerlich klein für die Anſprüche der neuen Königskrone, aber noch immer ſtark genug um im Deutſchen Bunde den erſten Platz hinter Baiern zu behaupten. Welche erſtaunliche Mannichfaltigkeit der Bildung und des Verkehrs drängte ſich hier auf engem Raume zuſammen; faſt an Allem was Deutſchlands Leben ausmachte, nahm das fleißige Land ſeinen Antheil. Halb Reſidenz, halb Fremdenort, bewahrte ſich die Hauptſtadt noch faſt unverändert die harmoniſche Schönheit ihrer barocken Pracht, wie einſt da Canaletto ſie malte. Der Saus und Braus jener polniſchen Zeiten war freilich längſt verklungen, nur noch ſelten wurden die Damen des Adels in altfränkiſchen Portechaiſen zu einem Feſte des ehrbaren Hofes aufs Schloß getragen; nur noch die Kunſtſchätze und die Reize der Natur lockten die Schaar der Fremden an die Elbe. Ein ſelbſtändiges Bürger- thum hatte in dieſer einſchläfernden Luft niemals aufkommen können. Hier gediehen jene göttlichen Philiſter, unter denen der junge Ludwig Richter ſeine luſtigſten Geſtalten fand: die Calculatoren und Hofſecretäre, die Nachmittags nach maßvoller Bureau-Arbeit mit Kind und Kegel in die Baumblüthe wanderten; der Kleinadel und die höheren Beamten, die im Frühjahr auf Sommerpläſir in ihre Loſchwitzer Weinbergshäuschen zogen; und nicht zuletzt die Hofräthe, die äſthetiſchen Gelehrten vom Theater und von den Sammlungen, im alten Dresden ebenſo angeſehen wie die Ge- heimen Räthe im alten Berlin — alleſammt ein ſeelenvergnügtes, ewig ſpazierengehendes Völkchen von makelloſer politiſcher Unſchuld und Zahmheit. Mit ähnlichen freundnachbarlichen Gefühlen wie Frankfurt auf das goldene Mainz, blickte das reiche Leipzig auf dieſe höfiſche Nachbarin her- unter, der andere Pol des vielgeſtaltigen oberſächſiſchen Lebens, eine Stadt des Bürgerthums, aller Schönheit baar, aber von Altersher mächtig durch die lebendige Verbindung kaufmänniſcher und wiſſenſchaftlicher Thätigkeit. Seit dem Ausgang des ſiebzehnten Jahrhunderts hatte der deutſche Buch- handel, aus Frankfurt hinweggeſcheucht durch die geſtrenge kaiſerliche Cenſur, an der Pleiße ſeinen Markt aufgeſchlagen; die Univerſität und die ſchrift- ſtelleriſche Emſigkeit der Kurſachſen arbeiteten ihm in die Hände. Um 1820 wurde faſt ein Drittel aller deutſchen Bücher in Leipzig gedruckt, jeder angeſehene deutſche Verleger hielt ſich dort ſeinen Commiſſionär und beſuchte die Oſtermeſſe. Unaufhaltſam wurden die kleinen Verleger im katholiſchen Oberlande, die bisher ihre Schul- und Andachtsbücher durch Reiſende in die Bauernhöfe der Alpen verſendet hatten, in den ge- ordneten Geſchäftsbetrieb des „proteſtantiſchen Buchhandels“ hineingezogen, und wie die Literatur einſt das erſte Band unſerer nationalen Einheit geweſen war, ſo ſchuf ſie ſich jetzt auch — nicht durch die Hilfe der Bundespolizei, wie einſt Metternich geplant, ſondern frei aus eigener Kraft — die erſte anerkannte geſammtdeutſche Corporation. Im Jahre

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 3: Bis zur Juli-Revolution. Leipzig, 1885, S. 503. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte03_1885/519>, abgerufen am 22.11.2024.