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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 3: Bis zur Juli-Revolution. Leipzig, 1885.

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Braunschweig.
große Krisis der Landwirthschaft schwer empfunden, nun brachte noch eine
arge Mißernte die Bauern im Harnisch.

Eine Fülle unversöhnter Gegensätze war in diesem seltsamen Staate
aufgewuchert: die Provinzialstände standen gegen die allgemeinen Stände,
die zweite Kammer gegen die erste, die Steuerkasse gegen die Kronkasse,
die Beamten gegen den Landtag, die bürgerlichen Staatsdiener gegen den
Adel, die Bauern gegen die Grundherren, die Bürger gegen die allmäch-
tigen Stadträthe, das hannoversche Ministerium gegen die deutsche Canzlei
in London. Noch war die Mißstimmung bei Weitem nicht so ernst wie
in Kurhessen; aber Graf Münster ließ sich in seinem fernen Putney-Hill
von den Beschwerden des deutschen Landes nichts träumen, und so drohten
auch diesem führerlosen Staate unberechenbare Verwicklungen. --

Der üble Ruf, dessen die Welfen seit dem Proceß der Königin Caro-
line in Deutschland genossen, verschlimmerte sich noch, als bald nachher
der alte Haß der beiden Hauptlinien des Hauses von Neuem ein öffent-
liches Aergerniß gab. Die ältere herzogliche Linie hatte aus den Länder-
theilungen der Welfen nur einige Fetzen niedersächsischen Landes davon
getragen, die von Holzminden an der Weser bis zum Magdeburgischen
hinüber zerstreut lagen. Obgleich die socialen Verhältnisse dieses Länd-
chens denen der benachbarten lüneburgischen Gebiete glichen, so gelangte
doch der Adel hier niemals zu so unumschränkter Herrschaft wie in Han-
nover, weil die Herzoge daheim blieben. Braunschweig lernte unter seinem
geistreichen Herzog Karl manche Sünden des Absolutismus, den Hofprunk,
den Soldatenhandel, die französische Verbildung gründlich kennen, aber
auch viele Wohlthaten dieser Staatsform. Unter Karl Wilhelm Ferdinand
wurde sodann der arg zerrüttete Staatshaushalt durch einen trefflichen
bürgerlichen Minister, Feronce, neu geordnet, und es begann eine Epoche
sorgsamer Verwaltung, freier Presse, blühenden Schulwesens, die von dem
Volke noch lange nachher als die gute alte Zeit gesegnet wurde. An
Talent und Heldensinn war die ältere Linie den englischen Welfen weit
überlegen. In der deutschen Politik ging sie fast immer andere Wege
als ihre königlichen Vettern. Sie verschwägerte sich mit den Hohenzollern
und schloß sich eng an Preußen an; mehrere ihrer Prinzen starben den
Heldentod unter Preußens Fahnen; auch jener Leopold, der als Menschen-
retter in den Wellen der Oder sein Grab fand, war preußischer Offizier.
Dies Verhältniß begann sich zu ändern, nachdem auch Karl Wilhelm
Ferdinand seine preußische Treue mit dem Leben bezahlt hatte. Sein
Nachfolger Friedrich Wilhelm, der Held der schwarzen Schaar, konnte als
Fürst ohne Land und Todfeind Napoleon's zunächst nur bei England Hilfe
suchen. Durch Englands Fürsprache erhielt er sodann im Befreiungs-
kriege seine Erblande zurück. Als er bei Quatrebas fiel, hinterließ er
ein Testament, das die Regentschaft sowie die Vormundschaft über seine
beiden minderjährigen Söhne dem Prinzregenten von Großbritannien über-

Braunſchweig.
große Kriſis der Landwirthſchaft ſchwer empfunden, nun brachte noch eine
arge Mißernte die Bauern im Harniſch.

Eine Fülle unverſöhnter Gegenſätze war in dieſem ſeltſamen Staate
aufgewuchert: die Provinzialſtände ſtanden gegen die allgemeinen Stände,
die zweite Kammer gegen die erſte, die Steuerkaſſe gegen die Kronkaſſe,
die Beamten gegen den Landtag, die bürgerlichen Staatsdiener gegen den
Adel, die Bauern gegen die Grundherren, die Bürger gegen die allmäch-
tigen Stadträthe, das hannoverſche Miniſterium gegen die deutſche Canzlei
in London. Noch war die Mißſtimmung bei Weitem nicht ſo ernſt wie
in Kurheſſen; aber Graf Münſter ließ ſich in ſeinem fernen Putney-Hill
von den Beſchwerden des deutſchen Landes nichts träumen, und ſo drohten
auch dieſem führerloſen Staate unberechenbare Verwicklungen. —

Der üble Ruf, deſſen die Welfen ſeit dem Proceß der Königin Caro-
line in Deutſchland genoſſen, verſchlimmerte ſich noch, als bald nachher
der alte Haß der beiden Hauptlinien des Hauſes von Neuem ein öffent-
liches Aergerniß gab. Die ältere herzogliche Linie hatte aus den Länder-
theilungen der Welfen nur einige Fetzen niederſächſiſchen Landes davon
getragen, die von Holzminden an der Weſer bis zum Magdeburgiſchen
hinüber zerſtreut lagen. Obgleich die ſocialen Verhältniſſe dieſes Länd-
chens denen der benachbarten lüneburgiſchen Gebiete glichen, ſo gelangte
doch der Adel hier niemals zu ſo unumſchränkter Herrſchaft wie in Han-
nover, weil die Herzoge daheim blieben. Braunſchweig lernte unter ſeinem
geiſtreichen Herzog Karl manche Sünden des Abſolutismus, den Hofprunk,
den Soldatenhandel, die franzöſiſche Verbildung gründlich kennen, aber
auch viele Wohlthaten dieſer Staatsform. Unter Karl Wilhelm Ferdinand
wurde ſodann der arg zerrüttete Staatshaushalt durch einen trefflichen
bürgerlichen Miniſter, Feronce, neu geordnet, und es begann eine Epoche
ſorgſamer Verwaltung, freier Preſſe, blühenden Schulweſens, die von dem
Volke noch lange nachher als die gute alte Zeit geſegnet wurde. An
Talent und Heldenſinn war die ältere Linie den engliſchen Welfen weit
überlegen. In der deutſchen Politik ging ſie faſt immer andere Wege
als ihre königlichen Vettern. Sie verſchwägerte ſich mit den Hohenzollern
und ſchloß ſich eng an Preußen an; mehrere ihrer Prinzen ſtarben den
Heldentod unter Preußens Fahnen; auch jener Leopold, der als Menſchen-
retter in den Wellen der Oder ſein Grab fand, war preußiſcher Offizier.
Dies Verhältniß begann ſich zu ändern, nachdem auch Karl Wilhelm
Ferdinand ſeine preußiſche Treue mit dem Leben bezahlt hatte. Sein
Nachfolger Friedrich Wilhelm, der Held der ſchwarzen Schaar, konnte als
Fürſt ohne Land und Todfeind Napoleon’s zunächſt nur bei England Hilfe
ſuchen. Durch Englands Fürſprache erhielt er ſodann im Befreiungs-
kriege ſeine Erblande zurück. Als er bei Quatrebas fiel, hinterließ er
ein Teſtament, das die Regentſchaft ſowie die Vormundſchaft über ſeine
beiden minderjährigen Söhne dem Prinzregenten von Großbritannien über-

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[557/0573] Braunſchweig. große Kriſis der Landwirthſchaft ſchwer empfunden, nun brachte noch eine arge Mißernte die Bauern im Harniſch. Eine Fülle unverſöhnter Gegenſätze war in dieſem ſeltſamen Staate aufgewuchert: die Provinzialſtände ſtanden gegen die allgemeinen Stände, die zweite Kammer gegen die erſte, die Steuerkaſſe gegen die Kronkaſſe, die Beamten gegen den Landtag, die bürgerlichen Staatsdiener gegen den Adel, die Bauern gegen die Grundherren, die Bürger gegen die allmäch- tigen Stadträthe, das hannoverſche Miniſterium gegen die deutſche Canzlei in London. Noch war die Mißſtimmung bei Weitem nicht ſo ernſt wie in Kurheſſen; aber Graf Münſter ließ ſich in ſeinem fernen Putney-Hill von den Beſchwerden des deutſchen Landes nichts träumen, und ſo drohten auch dieſem führerloſen Staate unberechenbare Verwicklungen. — Der üble Ruf, deſſen die Welfen ſeit dem Proceß der Königin Caro- line in Deutſchland genoſſen, verſchlimmerte ſich noch, als bald nachher der alte Haß der beiden Hauptlinien des Hauſes von Neuem ein öffent- liches Aergerniß gab. Die ältere herzogliche Linie hatte aus den Länder- theilungen der Welfen nur einige Fetzen niederſächſiſchen Landes davon getragen, die von Holzminden an der Weſer bis zum Magdeburgiſchen hinüber zerſtreut lagen. Obgleich die ſocialen Verhältniſſe dieſes Länd- chens denen der benachbarten lüneburgiſchen Gebiete glichen, ſo gelangte doch der Adel hier niemals zu ſo unumſchränkter Herrſchaft wie in Han- nover, weil die Herzoge daheim blieben. Braunſchweig lernte unter ſeinem geiſtreichen Herzog Karl manche Sünden des Abſolutismus, den Hofprunk, den Soldatenhandel, die franzöſiſche Verbildung gründlich kennen, aber auch viele Wohlthaten dieſer Staatsform. Unter Karl Wilhelm Ferdinand wurde ſodann der arg zerrüttete Staatshaushalt durch einen trefflichen bürgerlichen Miniſter, Feronce, neu geordnet, und es begann eine Epoche ſorgſamer Verwaltung, freier Preſſe, blühenden Schulweſens, die von dem Volke noch lange nachher als die gute alte Zeit geſegnet wurde. An Talent und Heldenſinn war die ältere Linie den engliſchen Welfen weit überlegen. In der deutſchen Politik ging ſie faſt immer andere Wege als ihre königlichen Vettern. Sie verſchwägerte ſich mit den Hohenzollern und ſchloß ſich eng an Preußen an; mehrere ihrer Prinzen ſtarben den Heldentod unter Preußens Fahnen; auch jener Leopold, der als Menſchen- retter in den Wellen der Oder ſein Grab fand, war preußiſcher Offizier. Dies Verhältniß begann ſich zu ändern, nachdem auch Karl Wilhelm Ferdinand ſeine preußiſche Treue mit dem Leben bezahlt hatte. Sein Nachfolger Friedrich Wilhelm, der Held der ſchwarzen Schaar, konnte als Fürſt ohne Land und Todfeind Napoleon’s zunächſt nur bei England Hilfe ſuchen. Durch Englands Fürſprache erhielt er ſodann im Befreiungs- kriege ſeine Erblande zurück. Als er bei Quatrebas fiel, hinterließ er ein Teſtament, das die Regentſchaft ſowie die Vormundſchaft über ſeine beiden minderjährigen Söhne dem Prinzregenten von Großbritannien über-

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 3: Bis zur Juli-Revolution. Leipzig, 1885, S. 557. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte03_1885/573>, abgerufen am 22.11.2024.