III. 7. Altständisches Stillleben in Norddeutschland.
trug und zugleich den Grafen Münster bat, sich des Herzogthums anzu- nehmen.
Der Regent überließ die braunschweigischen Geschäfte, unter Mün- ster's Aufsicht, dem herzoglichen Geheimenraths-Collegium. Dessen Seele war Geh. Rath v. Schmidt-Phiseldeck, ein einsichtiger, gewissenhafter Be- amter, der schon das Vertrauen des verstorbenen Herzogs besessen hatte und sich bald allgemeine Achtung im Lande erwarb. Die vollständige Wiederherstellung der alten Ordnung erregte hier, wo das Königreich West- phalen unsäglich verhaßt war, keinen Unwillen. Die vormundschaftliche Regierung verfuhr nach der wohlwollenden, bedachtsamen hannoverschen Weise; doch die Dinge lagen hier einfacher, da Braunschweig keine neuen Gebiete erworben hatte, nothwendige Reformen waren leichter durchzu- setzen. In einzelnen Fällen ließ sich allerdings erkennen, daß die kalte Hand eines fremden Verwesers über dem Lande waltete. Schwerlich hätte ein eingeborner Herzog sich so gleichmüthig wie der Prinzregent entschlossen, den Braunschweigern die Georgia Augusta als Landesuniversität anzu- weisen und die ruhmvolle Helmstädter Hochschule nicht wiederherzustellen, obgleich der prächtige Thurmbau des Juleums und der reiche akademische Grundbesitz noch vorhanden waren: wie viel Segen war doch einst von dieser Stadt des Friedens, von dem kleinen Holzhause Calixt's über Deutsch- land ausgegangen! Ueberhaupt erlangte das kleine Welfenland die be- deutende Stellung, die es früherhin im deutschen Leben behauptet, nie- mals wieder. Seit die Herzöge sich der Hauptstadt bemächtigt und die Thüren des Hansesaales im Altstädtischen Rathhaus geschlossen hatten, war Braunschweig "die stolze Stadt" nur noch eine kleinbürgerliche Re- sidenz; auch ihr Carolinum, im achtzehnten Jahrhundert eine so wichtige Bildungsstätte, galt jetzt nicht mehr als andere gute Gymnasien.
Immerhin erschien die neue stille Zeit dem Volke nicht unbehaglich. Die Finanzen waren wohl geordnet, die Steuerlast mäßig, für Wegebau und Schulwesen geschah viel, und das Hausvermögen des jungen Herzogs nahm unter Schmidt-Phiseldeck's sparsamen Händen beträchtlich zu. Auf Bitten der Ritterschaft wurde 1819 der alte Landtag einberufen, dessen Privilegien zuletzt im Jahre 1770 festgestellt waren, und mit Zustimmung der Stände kam am 25. April 1820 die Erneuerte Landschaftsordnung, eine zeitge- mäße Verbesserung des alten Landesrechts zu Stande. Diese neue braun- schweigische Verfassung stand den Grundsätzen des hannoverschen Patents vom December 1819 nahe, aber sie ruhte auf unanfechtbarem Rechts- boden, und sie gewährte den freien Bauern, die sich in Hannover mit einem Versprechen begnügen mußten, sofort eine Vertretung von zwanzig Abgeordneten. Den bäuerlichen Hintersassen war auch in Braunschweig kein Wahlrecht verliehen; an diese Reform wagten überall im altständi- schen Norddeutschland nur Einzelne zu denken. Im Wesentlichen entsprach die neue Ordnung den Wünschen des Landes.
III. 7. Altſtändiſches Stillleben in Norddeutſchland.
trug und zugleich den Grafen Münſter bat, ſich des Herzogthums anzu- nehmen.
Der Regent überließ die braunſchweigiſchen Geſchäfte, unter Mün- ſter’s Aufſicht, dem herzoglichen Geheimenraths-Collegium. Deſſen Seele war Geh. Rath v. Schmidt-Phiſeldeck, ein einſichtiger, gewiſſenhafter Be- amter, der ſchon das Vertrauen des verſtorbenen Herzogs beſeſſen hatte und ſich bald allgemeine Achtung im Lande erwarb. Die vollſtändige Wiederherſtellung der alten Ordnung erregte hier, wo das Königreich Weſt- phalen unſäglich verhaßt war, keinen Unwillen. Die vormundſchaftliche Regierung verfuhr nach der wohlwollenden, bedachtſamen hannoverſchen Weiſe; doch die Dinge lagen hier einfacher, da Braunſchweig keine neuen Gebiete erworben hatte, nothwendige Reformen waren leichter durchzu- ſetzen. In einzelnen Fällen ließ ſich allerdings erkennen, daß die kalte Hand eines fremden Verweſers über dem Lande waltete. Schwerlich hätte ein eingeborner Herzog ſich ſo gleichmüthig wie der Prinzregent entſchloſſen, den Braunſchweigern die Georgia Auguſta als Landesuniverſität anzu- weiſen und die ruhmvolle Helmſtädter Hochſchule nicht wiederherzuſtellen, obgleich der prächtige Thurmbau des Juleums und der reiche akademiſche Grundbeſitz noch vorhanden waren: wie viel Segen war doch einſt von dieſer Stadt des Friedens, von dem kleinen Holzhauſe Calixt’s über Deutſch- land ausgegangen! Ueberhaupt erlangte das kleine Welfenland die be- deutende Stellung, die es früherhin im deutſchen Leben behauptet, nie- mals wieder. Seit die Herzöge ſich der Hauptſtadt bemächtigt und die Thüren des Hanſeſaales im Altſtädtiſchen Rathhaus geſchloſſen hatten, war Braunſchweig „die ſtolze Stadt“ nur noch eine kleinbürgerliche Re- ſidenz; auch ihr Carolinum, im achtzehnten Jahrhundert eine ſo wichtige Bildungsſtätte, galt jetzt nicht mehr als andere gute Gymnaſien.
Immerhin erſchien die neue ſtille Zeit dem Volke nicht unbehaglich. Die Finanzen waren wohl geordnet, die Steuerlaſt mäßig, für Wegebau und Schulweſen geſchah viel, und das Hausvermögen des jungen Herzogs nahm unter Schmidt-Phiſeldeck’s ſparſamen Händen beträchtlich zu. Auf Bitten der Ritterſchaft wurde 1819 der alte Landtag einberufen, deſſen Privilegien zuletzt im Jahre 1770 feſtgeſtellt waren, und mit Zuſtimmung der Stände kam am 25. April 1820 die Erneuerte Landſchaftsordnung, eine zeitge- mäße Verbeſſerung des alten Landesrechts zu Stande. Dieſe neue braun- ſchweigiſche Verfaſſung ſtand den Grundſätzen des hannoverſchen Patents vom December 1819 nahe, aber ſie ruhte auf unanfechtbarem Rechts- boden, und ſie gewährte den freien Bauern, die ſich in Hannover mit einem Verſprechen begnügen mußten, ſofort eine Vertretung von zwanzig Abgeordneten. Den bäuerlichen Hinterſaſſen war auch in Braunſchweig kein Wahlrecht verliehen; an dieſe Reform wagten überall im altſtändi- ſchen Norddeutſchland nur Einzelne zu denken. Im Weſentlichen entſprach die neue Ordnung den Wünſchen des Landes.
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><p><pbfacs="#f0574"n="558"/><fwplace="top"type="header"><hirendition="#aq">III.</hi> 7. Altſtändiſches Stillleben in Norddeutſchland.</fw><lb/>
trug und zugleich den Grafen Münſter bat, ſich des Herzogthums anzu-<lb/>
nehmen.</p><lb/><p>Der Regent überließ die braunſchweigiſchen Geſchäfte, unter Mün-<lb/>ſter’s Aufſicht, dem herzoglichen Geheimenraths-Collegium. Deſſen Seele<lb/>
war Geh. Rath v. Schmidt-Phiſeldeck, ein einſichtiger, gewiſſenhafter Be-<lb/>
amter, der ſchon das Vertrauen des verſtorbenen Herzogs beſeſſen hatte<lb/>
und ſich bald allgemeine Achtung im Lande erwarb. Die vollſtändige<lb/>
Wiederherſtellung der alten Ordnung erregte hier, wo das Königreich Weſt-<lb/>
phalen unſäglich verhaßt war, keinen Unwillen. Die vormundſchaftliche<lb/>
Regierung verfuhr nach der wohlwollenden, bedachtſamen hannoverſchen<lb/>
Weiſe; doch die Dinge lagen hier einfacher, da Braunſchweig keine neuen<lb/>
Gebiete erworben hatte, nothwendige Reformen waren leichter durchzu-<lb/>ſetzen. In einzelnen Fällen ließ ſich allerdings erkennen, daß die kalte<lb/>
Hand eines fremden Verweſers über dem Lande waltete. Schwerlich hätte<lb/>
ein eingeborner Herzog ſich ſo gleichmüthig wie der Prinzregent entſchloſſen,<lb/>
den Braunſchweigern die Georgia Auguſta als Landesuniverſität anzu-<lb/>
weiſen und die ruhmvolle Helmſtädter Hochſchule nicht wiederherzuſtellen,<lb/>
obgleich der prächtige Thurmbau des Juleums und der reiche akademiſche<lb/>
Grundbeſitz noch vorhanden waren: wie viel Segen war doch einſt von<lb/>
dieſer Stadt des Friedens, von dem kleinen Holzhauſe Calixt’s über Deutſch-<lb/>
land ausgegangen! Ueberhaupt erlangte das kleine Welfenland die be-<lb/>
deutende Stellung, die es früherhin im deutſchen Leben behauptet, nie-<lb/>
mals wieder. Seit die Herzöge ſich der Hauptſtadt bemächtigt und die<lb/>
Thüren des Hanſeſaales im Altſtädtiſchen Rathhaus geſchloſſen hatten,<lb/>
war Braunſchweig „die ſtolze Stadt“ nur noch eine kleinbürgerliche Re-<lb/>ſidenz; auch ihr Carolinum, im achtzehnten Jahrhundert eine ſo wichtige<lb/>
Bildungsſtätte, galt jetzt nicht mehr als andere gute Gymnaſien.</p><lb/><p>Immerhin erſchien die neue ſtille Zeit dem Volke nicht unbehaglich. Die<lb/>
Finanzen waren wohl geordnet, die Steuerlaſt mäßig, für Wegebau und<lb/>
Schulweſen geſchah viel, und das Hausvermögen des jungen Herzogs nahm<lb/>
unter Schmidt-Phiſeldeck’s ſparſamen Händen beträchtlich zu. Auf Bitten<lb/>
der Ritterſchaft wurde 1819 der alte Landtag einberufen, deſſen Privilegien<lb/>
zuletzt im Jahre 1770 feſtgeſtellt waren, und mit Zuſtimmung der Stände<lb/>
kam am 25. April 1820 die Erneuerte Landſchaftsordnung, eine zeitge-<lb/>
mäße Verbeſſerung des alten Landesrechts zu Stande. Dieſe neue braun-<lb/>ſchweigiſche Verfaſſung ſtand den Grundſätzen des hannoverſchen Patents<lb/>
vom December 1819 nahe, aber ſie ruhte auf unanfechtbarem Rechts-<lb/>
boden, und ſie gewährte den freien Bauern, die ſich in Hannover mit<lb/>
einem Verſprechen begnügen mußten, ſofort eine Vertretung von zwanzig<lb/>
Abgeordneten. Den bäuerlichen Hinterſaſſen war auch in Braunſchweig<lb/>
kein Wahlrecht verliehen; an dieſe Reform wagten überall im altſtändi-<lb/>ſchen Norddeutſchland nur Einzelne zu denken. Im Weſentlichen entſprach<lb/>
die neue Ordnung den Wünſchen des Landes.</p><lb/></div></div></body></text></TEI>
[558/0574]
III. 7. Altſtändiſches Stillleben in Norddeutſchland.
trug und zugleich den Grafen Münſter bat, ſich des Herzogthums anzu-
nehmen.
Der Regent überließ die braunſchweigiſchen Geſchäfte, unter Mün-
ſter’s Aufſicht, dem herzoglichen Geheimenraths-Collegium. Deſſen Seele
war Geh. Rath v. Schmidt-Phiſeldeck, ein einſichtiger, gewiſſenhafter Be-
amter, der ſchon das Vertrauen des verſtorbenen Herzogs beſeſſen hatte
und ſich bald allgemeine Achtung im Lande erwarb. Die vollſtändige
Wiederherſtellung der alten Ordnung erregte hier, wo das Königreich Weſt-
phalen unſäglich verhaßt war, keinen Unwillen. Die vormundſchaftliche
Regierung verfuhr nach der wohlwollenden, bedachtſamen hannoverſchen
Weiſe; doch die Dinge lagen hier einfacher, da Braunſchweig keine neuen
Gebiete erworben hatte, nothwendige Reformen waren leichter durchzu-
ſetzen. In einzelnen Fällen ließ ſich allerdings erkennen, daß die kalte
Hand eines fremden Verweſers über dem Lande waltete. Schwerlich hätte
ein eingeborner Herzog ſich ſo gleichmüthig wie der Prinzregent entſchloſſen,
den Braunſchweigern die Georgia Auguſta als Landesuniverſität anzu-
weiſen und die ruhmvolle Helmſtädter Hochſchule nicht wiederherzuſtellen,
obgleich der prächtige Thurmbau des Juleums und der reiche akademiſche
Grundbeſitz noch vorhanden waren: wie viel Segen war doch einſt von
dieſer Stadt des Friedens, von dem kleinen Holzhauſe Calixt’s über Deutſch-
land ausgegangen! Ueberhaupt erlangte das kleine Welfenland die be-
deutende Stellung, die es früherhin im deutſchen Leben behauptet, nie-
mals wieder. Seit die Herzöge ſich der Hauptſtadt bemächtigt und die
Thüren des Hanſeſaales im Altſtädtiſchen Rathhaus geſchloſſen hatten,
war Braunſchweig „die ſtolze Stadt“ nur noch eine kleinbürgerliche Re-
ſidenz; auch ihr Carolinum, im achtzehnten Jahrhundert eine ſo wichtige
Bildungsſtätte, galt jetzt nicht mehr als andere gute Gymnaſien.
Immerhin erſchien die neue ſtille Zeit dem Volke nicht unbehaglich. Die
Finanzen waren wohl geordnet, die Steuerlaſt mäßig, für Wegebau und
Schulweſen geſchah viel, und das Hausvermögen des jungen Herzogs nahm
unter Schmidt-Phiſeldeck’s ſparſamen Händen beträchtlich zu. Auf Bitten
der Ritterſchaft wurde 1819 der alte Landtag einberufen, deſſen Privilegien
zuletzt im Jahre 1770 feſtgeſtellt waren, und mit Zuſtimmung der Stände
kam am 25. April 1820 die Erneuerte Landſchaftsordnung, eine zeitge-
mäße Verbeſſerung des alten Landesrechts zu Stande. Dieſe neue braun-
ſchweigiſche Verfaſſung ſtand den Grundſätzen des hannoverſchen Patents
vom December 1819 nahe, aber ſie ruhte auf unanfechtbarem Rechts-
boden, und ſie gewährte den freien Bauern, die ſich in Hannover mit
einem Verſprechen begnügen mußten, ſofort eine Vertretung von zwanzig
Abgeordneten. Den bäuerlichen Hinterſaſſen war auch in Braunſchweig
kein Wahlrecht verliehen; an dieſe Reform wagten überall im altſtändi-
ſchen Norddeutſchland nur Einzelne zu denken. Im Weſentlichen entſprach
die neue Ordnung den Wünſchen des Landes.
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 3: Bis zur Juli-Revolution. Leipzig, 1885, S. 558. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte03_1885/574>, abgerufen am 22.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.