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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 3: Bis zur Juli-Revolution. Leipzig, 1885.

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Metternich und die preußische Verfassung.
Baiern und Baden verkündigt war, sollte der Idee der Volkssouveränität entsprungen
sein und wurde von Metternich bald demokratisch, bald revolutionär, bald demagogisch
gescholten; nur altdeutsche oder auch deutschrechtliche Landstände, wo möglich blos Pro-
vinzialstände, galten noch als vereinbar mit der monarchischen Ordnung. In diesem
Sinne äußerte sich Metternich schon zur Zeit des Aachener Congresses, als er dem
König von Preußen rieth, Provinzialstände mit einem Centralausschuß einzuführen.
Seitdem kommen alle Denkschriften und Briefe der Wiener Staatsmänner in mannich-
fachen Wendungen immer wieder auf denselben Gedanken zurück: keine demokratische
Volksvertretung, sondern Landstände. So war die Gesinnung des österreichischen Hofes,
als Metternich am 29. Juli 1819 in Teplitz mit König Friedrich Wilhelm zusammentraf.

Ueber dieses Gespräch liegt nichts vor als zwei Berichte Metternich's an Kaiser
Franz vom 30. Juli und 1. August. Nun läßt sich für den Historiker kaum eine pein-
lichere Pflicht denken, als die Aufgabe, auf Grund einer Erzählung Metternich's den
wirklichen Thatbestand einer unter vier Augen abgehaltenen Unterredung festzustellen.
Seit dem Erscheinen von Metternich's "Nachgelassenen Papieren" sind alle freimüthigen
Historiker einig in dem Urtheil, daß Metternich und Napoleon I. die beiden größten
-- oder doch beinah die größten -- Lügner des neunzehnten Jahrhunderts waren; daher
wird auch, beiläufig bemerkt, jene berühmte Unterredung, welche die Beiden im Marco-
linischen Palaste selbander hielten, wohl immer ein Lieblingsthema für unlösbare
historische Controversen bleiben. Metternich konnte es nicht lassen, in seinen Briefen
seine eigene Größe und die Jämmerlichkeit aller anderen Sterblichen wohlgefällig aus-
zumalen; die Preußen vollends betrachtete er stets durch die trübe Brille vom Jahre 1804.
Auch in Teplitz blieb er dieser üblen Gewohnheit treu. Ueber den preußischen Staats-
kanzler berichtete er am 30. Juli seinem Kaiser: "er ist übrigens, nicht im Geiste aber
im Gemüth, der Kindheit nahe;" und dies ist nachweislich eine boshafte Uebertreibung.
Die Schwächen von Hardenberg's Alter kennt Jedermann; aber dieser "der Kindheit
nahe" Greis fand wenige Tage nach der Teplitzer Unterredung den Muth, in Berlin
einen groß und frei gedachten Verfassungsplan vorzulegen; dieser selbe Mann hob einige
Monate später mit schneidiger Thatkraft und durchtriebener Schlauheit seinen Gegner
Humboldt aus dem Sattel und erzwang sodann nach schweren Kämpfen im Staats-
rathe die Annahme jener Staatsschulden- und Steuergesetze, welche zu den gediegensten
gesetzgeberischen Thaten der Epoche zählen. Ein Staatsmann, der Solches vollbringt,
mag an vielen Fehlern leiden, der Kindheit nahe ist er nicht.

Metternich hat mithin den preußischen Staatskanzler in Teplitz verleumdet, und
ich nehme mir die Freiheit zu behaupten, daß er auch gegen den König, den er ohnehin
niemals gerecht beurtheilte, nicht gewissenhafter verfahren ist. Sein Bericht vom
30. Juli ist unverkennbar theatralisch aufgeputzt, Wort für Wort darauf berechnet, die
überwältigende Größe des Briefschreibers ins rechte Licht zu stellen. Hätte König Friedrich
Wilhelm am 29. Juli genau so gesprochen, wie Metternich erzählt, so müßte man ihn
einen elenden Schwächling nennen, und dies war Friedrich Wilhelm ebenso wenig wie
Hardenberg der Kindheit nahe war. Ich habe mich daher bemüht, durch forgfältige
Vergleichung der beiden Berichte Metternich's den Thatbestand herauszufinden und bin
dabei von dem bewährten Grundsatze ausgegangen, daß man einem verdächtigen Zeugen
nur das glauben darf, was durch andere Umstände bestätigt oder doch wahrscheinlich
gemacht wird. Baumgarten aber ist naiv genug, dem Fürsten Metternich jedes Wort
zu glauben, und da er sein wohlwollendes Urtheil über mein Buch keine Stunde länger
dem Publicum vorenthalten durfte, so gönnte er sich nicht einmal die Zeit, die hier in
Betracht kommenden Quellen vollständig zu lesen. Er las in seiner freundschaftlichen
Hast nur den ersten Bericht Metternich's vom 30. Juli (Nachgel. Papiere III. 258) und
bemerkte nicht, daß dicht dahinter (III. 261) noch ein zweiter Bericht vom 1. August
steht, welcher den ersten, fragmentarischen ergänzt und erläutert. Kein Wunder also,
daß der eilfertige Kritiker den Sinn der Unterredung vom 29. Juli gründlich mißversteht.

Metternich und die preußiſche Verfaſſung.
Baiern und Baden verkündigt war, ſollte der Idee der Volksſouveränität entſprungen
ſein und wurde von Metternich bald demokratiſch, bald revolutionär, bald demagogiſch
geſcholten; nur altdeutſche oder auch deutſchrechtliche Landſtände, wo möglich blos Pro-
vinzialſtände, galten noch als vereinbar mit der monarchiſchen Ordnung. In dieſem
Sinne äußerte ſich Metternich ſchon zur Zeit des Aachener Congreſſes, als er dem
König von Preußen rieth, Provinzialſtände mit einem Centralausſchuß einzuführen.
Seitdem kommen alle Denkſchriften und Briefe der Wiener Staatsmänner in mannich-
fachen Wendungen immer wieder auf denſelben Gedanken zurück: keine demokratiſche
Volksvertretung, ſondern Landſtände. So war die Geſinnung des öſterreichiſchen Hofes,
als Metternich am 29. Juli 1819 in Teplitz mit König Friedrich Wilhelm zuſammentraf.

Ueber dieſes Geſpräch liegt nichts vor als zwei Berichte Metternich’s an Kaiſer
Franz vom 30. Juli und 1. Auguſt. Nun läßt ſich für den Hiſtoriker kaum eine pein-
lichere Pflicht denken, als die Aufgabe, auf Grund einer Erzählung Metternich’s den
wirklichen Thatbeſtand einer unter vier Augen abgehaltenen Unterredung feſtzuſtellen.
Seit dem Erſcheinen von Metternich’s „Nachgelaſſenen Papieren“ ſind alle freimüthigen
Hiſtoriker einig in dem Urtheil, daß Metternich und Napoleon I. die beiden größten
— oder doch beinah die größten — Lügner des neunzehnten Jahrhunderts waren; daher
wird auch, beiläufig bemerkt, jene berühmte Unterredung, welche die Beiden im Marco-
liniſchen Palaſte ſelbander hielten, wohl immer ein Lieblingsthema für unlösbare
hiſtoriſche Controverſen bleiben. Metternich konnte es nicht laſſen, in ſeinen Briefen
ſeine eigene Größe und die Jämmerlichkeit aller anderen Sterblichen wohlgefällig aus-
zumalen; die Preußen vollends betrachtete er ſtets durch die trübe Brille vom Jahre 1804.
Auch in Teplitz blieb er dieſer üblen Gewohnheit treu. Ueber den preußiſchen Staats-
kanzler berichtete er am 30. Juli ſeinem Kaiſer: „er iſt übrigens, nicht im Geiſte aber
im Gemüth, der Kindheit nahe;“ und dies iſt nachweislich eine boshafte Uebertreibung.
Die Schwächen von Hardenberg’s Alter kennt Jedermann; aber dieſer „der Kindheit
nahe“ Greis fand wenige Tage nach der Teplitzer Unterredung den Muth, in Berlin
einen groß und frei gedachten Verfaſſungsplan vorzulegen; dieſer ſelbe Mann hob einige
Monate ſpäter mit ſchneidiger Thatkraft und durchtriebener Schlauheit ſeinen Gegner
Humboldt aus dem Sattel und erzwang ſodann nach ſchweren Kämpfen im Staats-
rathe die Annahme jener Staatsſchulden- und Steuergeſetze, welche zu den gediegenſten
geſetzgeberiſchen Thaten der Epoche zählen. Ein Staatsmann, der Solches vollbringt,
mag an vielen Fehlern leiden, der Kindheit nahe iſt er nicht.

Metternich hat mithin den preußiſchen Staatskanzler in Teplitz verleumdet, und
ich nehme mir die Freiheit zu behaupten, daß er auch gegen den König, den er ohnehin
niemals gerecht beurtheilte, nicht gewiſſenhafter verfahren iſt. Sein Bericht vom
30. Juli iſt unverkennbar theatraliſch aufgeputzt, Wort für Wort darauf berechnet, die
überwältigende Größe des Briefſchreibers ins rechte Licht zu ſtellen. Hätte König Friedrich
Wilhelm am 29. Juli genau ſo geſprochen, wie Metternich erzählt, ſo müßte man ihn
einen elenden Schwächling nennen, und dies war Friedrich Wilhelm ebenſo wenig wie
Hardenberg der Kindheit nahe war. Ich habe mich daher bemüht, durch forgfältige
Vergleichung der beiden Berichte Metternich’s den Thatbeſtand herauszufinden und bin
dabei von dem bewährten Grundſatze ausgegangen, daß man einem verdächtigen Zeugen
nur das glauben darf, was durch andere Umſtände beſtätigt oder doch wahrſcheinlich
gemacht wird. Baumgarten aber iſt naiv genug, dem Fürſten Metternich jedes Wort
zu glauben, und da er ſein wohlwollendes Urtheil über mein Buch keine Stunde länger
dem Publicum vorenthalten durfte, ſo gönnte er ſich nicht einmal die Zeit, die hier in
Betracht kommenden Quellen vollſtändig zu leſen. Er las in ſeiner freundſchaftlichen
Haſt nur den erſten Bericht Metternich’s vom 30. Juli (Nachgel. Papiere III. 258) und
bemerkte nicht, daß dicht dahinter (III. 261) noch ein zweiter Bericht vom 1. Auguſt
ſteht, welcher den erſten, fragmentariſchen ergänzt und erläutert. Kein Wunder alſo,
daß der eilfertige Kritiker den Sinn der Unterredung vom 29. Juli gründlich mißverſteht.

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[757/0773] Metternich und die preußiſche Verfaſſung. Baiern und Baden verkündigt war, ſollte der Idee der Volksſouveränität entſprungen ſein und wurde von Metternich bald demokratiſch, bald revolutionär, bald demagogiſch geſcholten; nur altdeutſche oder auch deutſchrechtliche Landſtände, wo möglich blos Pro- vinzialſtände, galten noch als vereinbar mit der monarchiſchen Ordnung. In dieſem Sinne äußerte ſich Metternich ſchon zur Zeit des Aachener Congreſſes, als er dem König von Preußen rieth, Provinzialſtände mit einem Centralausſchuß einzuführen. Seitdem kommen alle Denkſchriften und Briefe der Wiener Staatsmänner in mannich- fachen Wendungen immer wieder auf denſelben Gedanken zurück: keine demokratiſche Volksvertretung, ſondern Landſtände. So war die Geſinnung des öſterreichiſchen Hofes, als Metternich am 29. Juli 1819 in Teplitz mit König Friedrich Wilhelm zuſammentraf. Ueber dieſes Geſpräch liegt nichts vor als zwei Berichte Metternich’s an Kaiſer Franz vom 30. Juli und 1. Auguſt. Nun läßt ſich für den Hiſtoriker kaum eine pein- lichere Pflicht denken, als die Aufgabe, auf Grund einer Erzählung Metternich’s den wirklichen Thatbeſtand einer unter vier Augen abgehaltenen Unterredung feſtzuſtellen. Seit dem Erſcheinen von Metternich’s „Nachgelaſſenen Papieren“ ſind alle freimüthigen Hiſtoriker einig in dem Urtheil, daß Metternich und Napoleon I. die beiden größten — oder doch beinah die größten — Lügner des neunzehnten Jahrhunderts waren; daher wird auch, beiläufig bemerkt, jene berühmte Unterredung, welche die Beiden im Marco- liniſchen Palaſte ſelbander hielten, wohl immer ein Lieblingsthema für unlösbare hiſtoriſche Controverſen bleiben. Metternich konnte es nicht laſſen, in ſeinen Briefen ſeine eigene Größe und die Jämmerlichkeit aller anderen Sterblichen wohlgefällig aus- zumalen; die Preußen vollends betrachtete er ſtets durch die trübe Brille vom Jahre 1804. Auch in Teplitz blieb er dieſer üblen Gewohnheit treu. Ueber den preußiſchen Staats- kanzler berichtete er am 30. Juli ſeinem Kaiſer: „er iſt übrigens, nicht im Geiſte aber im Gemüth, der Kindheit nahe;“ und dies iſt nachweislich eine boshafte Uebertreibung. Die Schwächen von Hardenberg’s Alter kennt Jedermann; aber dieſer „der Kindheit nahe“ Greis fand wenige Tage nach der Teplitzer Unterredung den Muth, in Berlin einen groß und frei gedachten Verfaſſungsplan vorzulegen; dieſer ſelbe Mann hob einige Monate ſpäter mit ſchneidiger Thatkraft und durchtriebener Schlauheit ſeinen Gegner Humboldt aus dem Sattel und erzwang ſodann nach ſchweren Kämpfen im Staats- rathe die Annahme jener Staatsſchulden- und Steuergeſetze, welche zu den gediegenſten geſetzgeberiſchen Thaten der Epoche zählen. Ein Staatsmann, der Solches vollbringt, mag an vielen Fehlern leiden, der Kindheit nahe iſt er nicht. Metternich hat mithin den preußiſchen Staatskanzler in Teplitz verleumdet, und ich nehme mir die Freiheit zu behaupten, daß er auch gegen den König, den er ohnehin niemals gerecht beurtheilte, nicht gewiſſenhafter verfahren iſt. Sein Bericht vom 30. Juli iſt unverkennbar theatraliſch aufgeputzt, Wort für Wort darauf berechnet, die überwältigende Größe des Briefſchreibers ins rechte Licht zu ſtellen. Hätte König Friedrich Wilhelm am 29. Juli genau ſo geſprochen, wie Metternich erzählt, ſo müßte man ihn einen elenden Schwächling nennen, und dies war Friedrich Wilhelm ebenſo wenig wie Hardenberg der Kindheit nahe war. Ich habe mich daher bemüht, durch forgfältige Vergleichung der beiden Berichte Metternich’s den Thatbeſtand herauszufinden und bin dabei von dem bewährten Grundſatze ausgegangen, daß man einem verdächtigen Zeugen nur das glauben darf, was durch andere Umſtände beſtätigt oder doch wahrſcheinlich gemacht wird. Baumgarten aber iſt naiv genug, dem Fürſten Metternich jedes Wort zu glauben, und da er ſein wohlwollendes Urtheil über mein Buch keine Stunde länger dem Publicum vorenthalten durfte, ſo gönnte er ſich nicht einmal die Zeit, die hier in Betracht kommenden Quellen vollſtändig zu leſen. Er las in ſeiner freundſchaftlichen Haſt nur den erſten Bericht Metternich’s vom 30. Juli (Nachgel. Papiere III. 258) und bemerkte nicht, daß dicht dahinter (III. 261) noch ein zweiter Bericht vom 1. Auguſt ſteht, welcher den erſten, fragmentariſchen ergänzt und erläutert. Kein Wunder alſo, daß der eilfertige Kritiker den Sinn der Unterredung vom 29. Juli gründlich mißverſteht.

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 3: Bis zur Juli-Revolution. Leipzig, 1885, S. 757. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte03_1885/773>, abgerufen am 21.11.2024.