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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 4: Bis zum Tode König Friedrich Wilhelms III. Leipzig, 1889.

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Ernst August und die Sieben.
sechs jüngere Professoren, Otfried Müller voran, entschlossen sich, angeekelt
durch dies Uebermaß der Lüge, zu der öffentlichen Erklärung, daß sie den
Schritt ihrer entlassenen Collegen nicht mißbilligten. Aber Niemand wollte
sich den Sieben rückhaltlos anschließen. Der schon durch Rauschenplatt's
Revolution verdunkelte Glanz der Universität verblich jetzt gänzlich, für viele
Jahre; die auswärtigen Studenten mieden den verrufenen Ort, der Ab-
gang so trefflicher Lehrkräfte ließ sich nicht ersetzen. Ernst August wünschte
vornehmlich die Lehrstühle Dahlmann's und Albrecht's mit ergebenen Leuten
zu besetzen, damit den Studenten die neue Lehre von der unbeschränkten
Gewalt des alleinigen Dienstherrn eingeprägt würde; allein solche Gelehrte
waren in Deutschland selten. Der Marburger Vollgraff, der in einigen
verworrenen Schriften, nicht ohne Geist "die Täuschungen des Repräsen-
tativsystems" bloßgelegt hatte, genügte doch zu wenig den hohen wissen-
schaftlichen Ansprüchen, welche das Orakel des Curatoriums, der greise
Historiker Heeren an die Lehrer der Georgia Augusta zu stellen pflegte,
und man wagte nicht ihn zu rufen.*) Umsonst baten die Universität und
die Stadt in wiederholten Eingaben um die Rückkehr der Sieben. Selbst
der Gothaer G. Zimmermann, der einzige namhafte deutsche Publicist, der
in die Dienste des Welfenhofes gegangen war, hielt die Rückberufung für
nöthig um das Land und die tief erbitterte gelehrte Welt zu beruhigen.
Ernst August blieb unerbittlich. Als man im Herbst 1846 erzählte, Dahl-
mann, Jakob Grimm und Gervinus wollten auf Besuch nach Göttingen
kommen, entschied der Welfe kurzab: es bleibe bei den früheren Befehlen.**)

Wie gründlich täuschte er sich, als er in der ersten Schadenfreude
zu Canitz sagte: "diese Leute haben meiner Sache eher genützt als ge-
schadet." Es währte nicht lange, da rief er zornig: hätt' ich gewußt was
mir die sieben Teufel für Noth machen würden, so hätt' ich die Sache
nicht angefangen. Seit der Juli-Revolution hatte kein Ereigniß mehr eine
solche Aufregung hervorgerufen. Die Frage lag so einfach, sie berührte
so unmittelbar die empfindlichste Seite des deutschen Gemüths, die Treue,
daß die schlichten Leute mit ihrem Urtheil rasch fertig wurden. Der Nation
war zu Muthe, als sei ein englischer Räuber plötzlich in ihren Garten
eingebrochen. Der burschikose junge Poet Hoffmann von Fallersleben sagte
nur grob heraus, was Tausende empfanden, als er sang: "Frisch Knüppel
aus dem Sack! Auf's Lumpenpack! Auf's Hundepack!" Und wer noch
irgend zweifelte, den mußten die Vertheidigungsschriften der Sieben ge-
winnen. Dahlmann's Büchlein "zur Verständigung" war ein Meister-
werk deutscher Publicistik; die leidenschaftlich bewegte Sprache blieb immer

*) Bericht des Universitäts-Curatoriums, 10. März 1838.
**) Eingaben der Stadt Göttingen, 9. März, 8. Dec.; der Universität, 15. März;
Prorector Gieseler an Schele, 14. März; Erwiderungen aus dem k. Cabinet, 24. März,
22. December. -- G. Zimmermann an Schele, 9. Dec. 1839. -- Cabinetsschreiben an das
Cultusministerium, 29. Oct. 1846.

Ernſt Auguſt und die Sieben.
ſechs jüngere Profeſſoren, Otfried Müller voran, entſchloſſen ſich, angeekelt
durch dies Uebermaß der Lüge, zu der öffentlichen Erklärung, daß ſie den
Schritt ihrer entlaſſenen Collegen nicht mißbilligten. Aber Niemand wollte
ſich den Sieben rückhaltlos anſchließen. Der ſchon durch Rauſchenplatt’s
Revolution verdunkelte Glanz der Univerſität verblich jetzt gänzlich, für viele
Jahre; die auswärtigen Studenten mieden den verrufenen Ort, der Ab-
gang ſo trefflicher Lehrkräfte ließ ſich nicht erſetzen. Ernſt Auguſt wünſchte
vornehmlich die Lehrſtühle Dahlmann’s und Albrecht’s mit ergebenen Leuten
zu beſetzen, damit den Studenten die neue Lehre von der unbeſchränkten
Gewalt des alleinigen Dienſtherrn eingeprägt würde; allein ſolche Gelehrte
waren in Deutſchland ſelten. Der Marburger Vollgraff, der in einigen
verworrenen Schriften, nicht ohne Geiſt „die Täuſchungen des Repräſen-
tativſyſtems“ bloßgelegt hatte, genügte doch zu wenig den hohen wiſſen-
ſchaftlichen Anſprüchen, welche das Orakel des Curatoriums, der greiſe
Hiſtoriker Heeren an die Lehrer der Georgia Auguſta zu ſtellen pflegte,
und man wagte nicht ihn zu rufen.*) Umſonſt baten die Univerſität und
die Stadt in wiederholten Eingaben um die Rückkehr der Sieben. Selbſt
der Gothaer G. Zimmermann, der einzige namhafte deutſche Publiciſt, der
in die Dienſte des Welfenhofes gegangen war, hielt die Rückberufung für
nöthig um das Land und die tief erbitterte gelehrte Welt zu beruhigen.
Ernſt Auguſt blieb unerbittlich. Als man im Herbſt 1846 erzählte, Dahl-
mann, Jakob Grimm und Gervinus wollten auf Beſuch nach Göttingen
kommen, entſchied der Welfe kurzab: es bleibe bei den früheren Befehlen.**)

Wie gründlich täuſchte er ſich, als er in der erſten Schadenfreude
zu Canitz ſagte: „dieſe Leute haben meiner Sache eher genützt als ge-
ſchadet.“ Es währte nicht lange, da rief er zornig: hätt’ ich gewußt was
mir die ſieben Teufel für Noth machen würden, ſo hätt’ ich die Sache
nicht angefangen. Seit der Juli-Revolution hatte kein Ereigniß mehr eine
ſolche Aufregung hervorgerufen. Die Frage lag ſo einfach, ſie berührte
ſo unmittelbar die empfindlichſte Seite des deutſchen Gemüths, die Treue,
daß die ſchlichten Leute mit ihrem Urtheil raſch fertig wurden. Der Nation
war zu Muthe, als ſei ein engliſcher Räuber plötzlich in ihren Garten
eingebrochen. Der burſchikoſe junge Poet Hoffmann von Fallersleben ſagte
nur grob heraus, was Tauſende empfanden, als er ſang: „Friſch Knüppel
aus dem Sack! Auf’s Lumpenpack! Auf’s Hundepack!“ Und wer noch
irgend zweifelte, den mußten die Vertheidigungsſchriften der Sieben ge-
winnen. Dahlmann’s Büchlein „zur Verſtändigung“ war ein Meiſter-
werk deutſcher Publiciſtik; die leidenſchaftlich bewegte Sprache blieb immer

*) Bericht des Univerſitäts-Curatoriums, 10. März 1838.
**) Eingaben der Stadt Göttingen, 9. März, 8. Dec.; der Univerſität, 15. März;
Prorector Gieſeler an Schele, 14. März; Erwiderungen aus dem k. Cabinet, 24. März,
22. December. — G. Zimmermann an Schele, 9. Dec. 1839. — Cabinetsſchreiben an das
Cultusminiſterium, 29. Oct. 1846.
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[661/0675] Ernſt Auguſt und die Sieben. ſechs jüngere Profeſſoren, Otfried Müller voran, entſchloſſen ſich, angeekelt durch dies Uebermaß der Lüge, zu der öffentlichen Erklärung, daß ſie den Schritt ihrer entlaſſenen Collegen nicht mißbilligten. Aber Niemand wollte ſich den Sieben rückhaltlos anſchließen. Der ſchon durch Rauſchenplatt’s Revolution verdunkelte Glanz der Univerſität verblich jetzt gänzlich, für viele Jahre; die auswärtigen Studenten mieden den verrufenen Ort, der Ab- gang ſo trefflicher Lehrkräfte ließ ſich nicht erſetzen. Ernſt Auguſt wünſchte vornehmlich die Lehrſtühle Dahlmann’s und Albrecht’s mit ergebenen Leuten zu beſetzen, damit den Studenten die neue Lehre von der unbeſchränkten Gewalt des alleinigen Dienſtherrn eingeprägt würde; allein ſolche Gelehrte waren in Deutſchland ſelten. Der Marburger Vollgraff, der in einigen verworrenen Schriften, nicht ohne Geiſt „die Täuſchungen des Repräſen- tativſyſtems“ bloßgelegt hatte, genügte doch zu wenig den hohen wiſſen- ſchaftlichen Anſprüchen, welche das Orakel des Curatoriums, der greiſe Hiſtoriker Heeren an die Lehrer der Georgia Auguſta zu ſtellen pflegte, und man wagte nicht ihn zu rufen. *) Umſonſt baten die Univerſität und die Stadt in wiederholten Eingaben um die Rückkehr der Sieben. Selbſt der Gothaer G. Zimmermann, der einzige namhafte deutſche Publiciſt, der in die Dienſte des Welfenhofes gegangen war, hielt die Rückberufung für nöthig um das Land und die tief erbitterte gelehrte Welt zu beruhigen. Ernſt Auguſt blieb unerbittlich. Als man im Herbſt 1846 erzählte, Dahl- mann, Jakob Grimm und Gervinus wollten auf Beſuch nach Göttingen kommen, entſchied der Welfe kurzab: es bleibe bei den früheren Befehlen. **) Wie gründlich täuſchte er ſich, als er in der erſten Schadenfreude zu Canitz ſagte: „dieſe Leute haben meiner Sache eher genützt als ge- ſchadet.“ Es währte nicht lange, da rief er zornig: hätt’ ich gewußt was mir die ſieben Teufel für Noth machen würden, ſo hätt’ ich die Sache nicht angefangen. Seit der Juli-Revolution hatte kein Ereigniß mehr eine ſolche Aufregung hervorgerufen. Die Frage lag ſo einfach, ſie berührte ſo unmittelbar die empfindlichſte Seite des deutſchen Gemüths, die Treue, daß die ſchlichten Leute mit ihrem Urtheil raſch fertig wurden. Der Nation war zu Muthe, als ſei ein engliſcher Räuber plötzlich in ihren Garten eingebrochen. Der burſchikoſe junge Poet Hoffmann von Fallersleben ſagte nur grob heraus, was Tauſende empfanden, als er ſang: „Friſch Knüppel aus dem Sack! Auf’s Lumpenpack! Auf’s Hundepack!“ Und wer noch irgend zweifelte, den mußten die Vertheidigungsſchriften der Sieben ge- winnen. Dahlmann’s Büchlein „zur Verſtändigung“ war ein Meiſter- werk deutſcher Publiciſtik; die leidenſchaftlich bewegte Sprache blieb immer *) Bericht des Univerſitäts-Curatoriums, 10. März 1838. **) Eingaben der Stadt Göttingen, 9. März, 8. Dec.; der Univerſität, 15. März; Prorector Gieſeler an Schele, 14. März; Erwiderungen aus dem k. Cabinet, 24. März, 22. December. — G. Zimmermann an Schele, 9. Dec. 1839. — Cabinetsſchreiben an das Cultusminiſterium, 29. Oct. 1846.

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 4: Bis zum Tode König Friedrich Wilhelms III. Leipzig, 1889, S. 661. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte04_1889/675>, abgerufen am 24.11.2024.