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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 5: Bis zur März-Revolution. Leipzig, 1894.

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V. 3. Enttäuschung und Verwirrung.
besitzes sträubten sich die Rheinländer auf's Aeußerste.*) "Die rheinischen
ritterbürtigen Autonomen", wie man sie spottend nannte, bildeten nun-
mehr eine Adelsgenossenschaft, welche die Streitigkeiten ihrer Genossen
durch ein Standesgericht entschied und für ihre Söhne eine Ritteraka-
demie in Bedburg gründete. Obwohl die Führer, Freiherr v. Mirbach
und Graf Spee wegen ihrer gemeinnützigen Thätigkeit allgemein geachtet
waren, so zeigten sich in dem geschlossenen Adelsvereine doch bald sehr
unerfreuliche Gesinnungen: Kastenstolz, clericaler Uebereifer und ein rhei-
nischer Particularismus, der, allem preußischen Wesen feind, beständig
nach dem geliebten Erzhause hinüberschielte. Als Mirbach dem Könige
vorstellte: der Adel dürfe nicht aufgehen in dem Stande der Ritterguts-
besitzer, weil er mit der Krone des Geburtsrecht gemein habe und darum
sie stütze -- da erschrak selbst Thile und mahnte besorgt: die Edelleute
würden gut thun, wenn sie auch die Söhne anderer Grundherren in
ihre Ritterakademie aufnähmen.**) So kam es, daß der rheinische Provin-
ziallandtag sich sofort sehr lebhaft wider die Sonderrechte der Ritterbürtigen
erklärte; einer der besten rheinischen Juristen, Frhr. v. Mylius, selber ein
alter Edelmann, stand voran im Kampfe für die Rechtsgleichheit. Die
Aufregung im rheinischen Bürgerthum hielt an, ein volles Jahrzehnt
hindurch; sie wurde so stark, daß selbst der alte Arndt und ein junger
Bonner Jurist von ebenso gemäßigter liberaler Gesinnung, H. Hälschner sich
in streitbaren Flugschriften wider die ritterbürtigen Autonomen wendeten.

Solche Erfahrungen mußten dem Könige zeigen, wie viel socialen
Unfrieden ein Adelsgesetz aufwühlen konnte. Und war denn die ersehnte
Adelsreform wirklich so unerläßlich? Hinter dem Glanze und dem
Reichthum der englischen Aristokratie blieben die kleinen landsässigen Ge-
schlechter der alten Provinzen Preußens freilich unendlich weit zurück;
aber so gewiß die Kraft des Adels in seiner politischen Thätigkeit liegt,
ebenso gewiß brauchten sie, als ein monarchischer Adel, den Vergleich mit
Englands parlamentarischem Adel nicht zu scheuen. Neben der Krone
bedeuteten sie wenig, doch in ihrem Dienste hatten sie mitgewirkt an dem
Heldenthum einer großen Geschichte; sie bildeten noch immer den Kern
des Offizierscorps, behaupteten sich durch eigenes Verdienst in den Reihen
des Beamtenthums, trugen in vielen Landestheilen die schwersten Pflichten
der ländlichen Selbstverwaltung und ergänzten sich zumeist aus bürgerlichen,
im Staatsdienste heraufgekommenen Familien, ganz so wie einst die alten
Ministerialen selbst über die Gemeinfreien emporgestiegen waren. Bunt
gemischt wie er war aus altem Grundadel, neuem Dienstadel und zahl-
reichen schlechten Elementen durfte ein solcher Stand doch verlangen, daß die
Krone ihm seine Traditionen nicht zerstörte, und zu diesen zählte der alte

*) s. o. II. 274.
**) Mirbach an Thile, 24. April; Antwort 3. Juli 1845.

V. 3. Enttäuſchung und Verwirrung.
beſitzes ſträubten ſich die Rheinländer auf’s Aeußerſte.*) „Die rheiniſchen
ritterbürtigen Autonomen“, wie man ſie ſpottend nannte, bildeten nun-
mehr eine Adelsgenoſſenſchaft, welche die Streitigkeiten ihrer Genoſſen
durch ein Standesgericht entſchied und für ihre Söhne eine Ritteraka-
demie in Bedburg gründete. Obwohl die Führer, Freiherr v. Mirbach
und Graf Spee wegen ihrer gemeinnützigen Thätigkeit allgemein geachtet
waren, ſo zeigten ſich in dem geſchloſſenen Adelsvereine doch bald ſehr
unerfreuliche Geſinnungen: Kaſtenſtolz, clericaler Uebereifer und ein rhei-
niſcher Particularismus, der, allem preußiſchen Weſen feind, beſtändig
nach dem geliebten Erzhauſe hinüberſchielte. Als Mirbach dem Könige
vorſtellte: der Adel dürfe nicht aufgehen in dem Stande der Ritterguts-
beſitzer, weil er mit der Krone des Geburtsrecht gemein habe und darum
ſie ſtütze — da erſchrak ſelbſt Thile und mahnte beſorgt: die Edelleute
würden gut thun, wenn ſie auch die Söhne anderer Grundherren in
ihre Ritterakademie aufnähmen.**) So kam es, daß der rheiniſche Provin-
ziallandtag ſich ſofort ſehr lebhaft wider die Sonderrechte der Ritterbürtigen
erklärte; einer der beſten rheiniſchen Juriſten, Frhr. v. Mylius, ſelber ein
alter Edelmann, ſtand voran im Kampfe für die Rechtsgleichheit. Die
Aufregung im rheiniſchen Bürgerthum hielt an, ein volles Jahrzehnt
hindurch; ſie wurde ſo ſtark, daß ſelbſt der alte Arndt und ein junger
Bonner Juriſt von ebenſo gemäßigter liberaler Geſinnung, H. Hälſchner ſich
in ſtreitbaren Flugſchriften wider die ritterbürtigen Autonomen wendeten.

Solche Erfahrungen mußten dem Könige zeigen, wie viel ſocialen
Unfrieden ein Adelsgeſetz aufwühlen konnte. Und war denn die erſehnte
Adelsreform wirklich ſo unerläßlich? Hinter dem Glanze und dem
Reichthum der engliſchen Ariſtokratie blieben die kleinen landſäſſigen Ge-
ſchlechter der alten Provinzen Preußens freilich unendlich weit zurück;
aber ſo gewiß die Kraft des Adels in ſeiner politiſchen Thätigkeit liegt,
ebenſo gewiß brauchten ſie, als ein monarchiſcher Adel, den Vergleich mit
Englands parlamentariſchem Adel nicht zu ſcheuen. Neben der Krone
bedeuteten ſie wenig, doch in ihrem Dienſte hatten ſie mitgewirkt an dem
Heldenthum einer großen Geſchichte; ſie bildeten noch immer den Kern
des Offizierscorps, behaupteten ſich durch eigenes Verdienſt in den Reihen
des Beamtenthums, trugen in vielen Landestheilen die ſchwerſten Pflichten
der ländlichen Selbſtverwaltung und ergänzten ſich zumeiſt aus bürgerlichen,
im Staatsdienſte heraufgekommenen Familien, ganz ſo wie einſt die alten
Miniſterialen ſelbſt über die Gemeinfreien emporgeſtiegen waren. Bunt
gemiſcht wie er war aus altem Grundadel, neuem Dienſtadel und zahl-
reichen ſchlechten Elementen durfte ein ſolcher Stand doch verlangen, daß die
Krone ihm ſeine Traditionen nicht zerſtörte, und zu dieſen zählte der alte

*) ſ. o. II. 274.
**) Mirbach an Thile, 24. April; Antwort 3. Juli 1845.
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[256/0270] V. 3. Enttäuſchung und Verwirrung. beſitzes ſträubten ſich die Rheinländer auf’s Aeußerſte. *) „Die rheiniſchen ritterbürtigen Autonomen“, wie man ſie ſpottend nannte, bildeten nun- mehr eine Adelsgenoſſenſchaft, welche die Streitigkeiten ihrer Genoſſen durch ein Standesgericht entſchied und für ihre Söhne eine Ritteraka- demie in Bedburg gründete. Obwohl die Führer, Freiherr v. Mirbach und Graf Spee wegen ihrer gemeinnützigen Thätigkeit allgemein geachtet waren, ſo zeigten ſich in dem geſchloſſenen Adelsvereine doch bald ſehr unerfreuliche Geſinnungen: Kaſtenſtolz, clericaler Uebereifer und ein rhei- niſcher Particularismus, der, allem preußiſchen Weſen feind, beſtändig nach dem geliebten Erzhauſe hinüberſchielte. Als Mirbach dem Könige vorſtellte: der Adel dürfe nicht aufgehen in dem Stande der Ritterguts- beſitzer, weil er mit der Krone des Geburtsrecht gemein habe und darum ſie ſtütze — da erſchrak ſelbſt Thile und mahnte beſorgt: die Edelleute würden gut thun, wenn ſie auch die Söhne anderer Grundherren in ihre Ritterakademie aufnähmen. **) So kam es, daß der rheiniſche Provin- ziallandtag ſich ſofort ſehr lebhaft wider die Sonderrechte der Ritterbürtigen erklärte; einer der beſten rheiniſchen Juriſten, Frhr. v. Mylius, ſelber ein alter Edelmann, ſtand voran im Kampfe für die Rechtsgleichheit. Die Aufregung im rheiniſchen Bürgerthum hielt an, ein volles Jahrzehnt hindurch; ſie wurde ſo ſtark, daß ſelbſt der alte Arndt und ein junger Bonner Juriſt von ebenſo gemäßigter liberaler Geſinnung, H. Hälſchner ſich in ſtreitbaren Flugſchriften wider die ritterbürtigen Autonomen wendeten. Solche Erfahrungen mußten dem Könige zeigen, wie viel ſocialen Unfrieden ein Adelsgeſetz aufwühlen konnte. Und war denn die erſehnte Adelsreform wirklich ſo unerläßlich? Hinter dem Glanze und dem Reichthum der engliſchen Ariſtokratie blieben die kleinen landſäſſigen Ge- ſchlechter der alten Provinzen Preußens freilich unendlich weit zurück; aber ſo gewiß die Kraft des Adels in ſeiner politiſchen Thätigkeit liegt, ebenſo gewiß brauchten ſie, als ein monarchiſcher Adel, den Vergleich mit Englands parlamentariſchem Adel nicht zu ſcheuen. Neben der Krone bedeuteten ſie wenig, doch in ihrem Dienſte hatten ſie mitgewirkt an dem Heldenthum einer großen Geſchichte; ſie bildeten noch immer den Kern des Offizierscorps, behaupteten ſich durch eigenes Verdienſt in den Reihen des Beamtenthums, trugen in vielen Landestheilen die ſchwerſten Pflichten der ländlichen Selbſtverwaltung und ergänzten ſich zumeiſt aus bürgerlichen, im Staatsdienſte heraufgekommenen Familien, ganz ſo wie einſt die alten Miniſterialen ſelbſt über die Gemeinfreien emporgeſtiegen waren. Bunt gemiſcht wie er war aus altem Grundadel, neuem Dienſtadel und zahl- reichen ſchlechten Elementen durfte ein ſolcher Stand doch verlangen, daß die Krone ihm ſeine Traditionen nicht zerſtörte, und zu dieſen zählte der alte *) ſ. o. II. 274. **) Mirbach an Thile, 24. April; Antwort 3. Juli 1845.

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 5: Bis zur März-Revolution. Leipzig, 1894, S. 256. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte05_1894/270>, abgerufen am 21.11.2024.