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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 5: Bis zur März-Revolution. Leipzig, 1894.

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V. 3. Enttäuschung und Verwirrung.
hatte, erschien dieser romantischen Staatskunst als ein Heilmittel. Solchen
Sprüngen wollte selbst Thile nicht mehr folgen. Radowitz aber, dem
der Entwurf nach Karlsruhe zugesendet wurde, antwortete mit schönem
Freimuth: "Euerer K. Majestät Anordnungen zur Belebung und Gliede-
rung des Adels würden in den weitesten Kreisen nur auf Mißtrauen
und Gehässigkeit stoßen, in dieser Atmosphäre aller Lebenskraft von vorn-
herein ermangeln und statt des gehofften Nutzens nur neue Gefahren und
Verlegenheiten bereiten."*) Diese Warnung wirkte für den Augenblick.
Die Entwürfe blieben vorläufig liegen, zum Glück für die Regierung; denn
das Bürgerthum war schon durch die umlaufenden Gerüchte erbittert
worden und erzählte sich überall, der König wolle eine adliche Bank am
Kammergericht errichten. Dann brach die Revolution herein und zwang
den Adel, die Reformen, die ihm der Staat nicht bringen konnte, aus
sich selbst heraus zu versuchen, so weit dies noch möglich war. Seitdem
erst begannen die Geschlechter, die sich noch ein aristokratisches Gefühl
bewahrt hatten, durch Familientage und Satzungen, durch Stiftungen
und Familien-Geschichtswerke den erschlafften und oft entarteten Standes-
geist wieder etwas zu kräftigen. --



Hoch über allen diesen Gegensätzen stand doch die Frage der Zeit, der
Kampf um die Reichsstände. Da die Vereinigten Ausschüsse so gar wenig
geleistet hatten, so wendete sich die öffentliche Theilnahme wieder den Pro-
vinzialständen zu, die für den März 1843 zu einer neuen Tagung ein-
berufen waren. Eine Menge von Petitionen wurde vorbereitet; an ihrer
unaufhaltsam wachsenden Masse ließ sich das Anschwellen der Volksbe-
wegung ebenso sicher abmessen wie einst im Zeitalter der Reformation an
der Zahl der neuen Drucke. Die große Mehrzahl kam aus den Städten;
der Streit war ja zum guten Theile ein Kampf der bürgerlichen Inter-
essen wider das Uebergewicht des Grundbesitzes. Die schöne kleine Stadt
Hirschberg am Abhang des Riesengebirges, die sich allezeit durch radikalen
Widerspruchsgeist auszeichnete, wagte bereits die Nachbarstädte aufzufor-
dern zur Mitunterzeichnung einer Petition, welche Vermehrung der bürger-
lichen Abgeordneten und Erweiterung des städtischen Wahlrechts verlangte.
Oberpräsident Merckel vereitelte für diesmal noch das nach dem bestehen-
den Rechte unerlaubte Unternehmen; doch seitdem begann zwischen den
liberalen Städten ein still geschäftiger politischer Verkehr, dessen Folgen
sich bald zeigen sollten. Sobald die Landtage ihre Arbeit anfingen,
mußte jedem Weltkundigen einleuchten, daß der alte Verfassungszustand
sich schlechterdings nicht mehr halten ließ. Statt der vergeblich erwar-

*) Thile an Radowitz, 28. Mai; Radowitz an den König, 13. Juni 1847.

V. 3. Enttäuſchung und Verwirrung.
hatte, erſchien dieſer romantiſchen Staatskunſt als ein Heilmittel. Solchen
Sprüngen wollte ſelbſt Thile nicht mehr folgen. Radowitz aber, dem
der Entwurf nach Karlsruhe zugeſendet wurde, antwortete mit ſchönem
Freimuth: „Euerer K. Majeſtät Anordnungen zur Belebung und Gliede-
rung des Adels würden in den weiteſten Kreiſen nur auf Mißtrauen
und Gehäſſigkeit ſtoßen, in dieſer Atmoſphäre aller Lebenskraft von vorn-
herein ermangeln und ſtatt des gehofften Nutzens nur neue Gefahren und
Verlegenheiten bereiten.“*) Dieſe Warnung wirkte für den Augenblick.
Die Entwürfe blieben vorläufig liegen, zum Glück für die Regierung; denn
das Bürgerthum war ſchon durch die umlaufenden Gerüchte erbittert
worden und erzählte ſich überall, der König wolle eine adliche Bank am
Kammergericht errichten. Dann brach die Revolution herein und zwang
den Adel, die Reformen, die ihm der Staat nicht bringen konnte, aus
ſich ſelbſt heraus zu verſuchen, ſo weit dies noch möglich war. Seitdem
erſt begannen die Geſchlechter, die ſich noch ein ariſtokratiſches Gefühl
bewahrt hatten, durch Familientage und Satzungen, durch Stiftungen
und Familien-Geſchichtswerke den erſchlafften und oft entarteten Standes-
geiſt wieder etwas zu kräftigen. —



Hoch über allen dieſen Gegenſätzen ſtand doch die Frage der Zeit, der
Kampf um die Reichsſtände. Da die Vereinigten Ausſchüſſe ſo gar wenig
geleiſtet hatten, ſo wendete ſich die öffentliche Theilnahme wieder den Pro-
vinzialſtänden zu, die für den März 1843 zu einer neuen Tagung ein-
berufen waren. Eine Menge von Petitionen wurde vorbereitet; an ihrer
unaufhaltſam wachſenden Maſſe ließ ſich das Anſchwellen der Volksbe-
wegung ebenſo ſicher abmeſſen wie einſt im Zeitalter der Reformation an
der Zahl der neuen Drucke. Die große Mehrzahl kam aus den Städten;
der Streit war ja zum guten Theile ein Kampf der bürgerlichen Inter-
eſſen wider das Uebergewicht des Grundbeſitzes. Die ſchöne kleine Stadt
Hirſchberg am Abhang des Rieſengebirges, die ſich allezeit durch radikalen
Widerſpruchsgeiſt auszeichnete, wagte bereits die Nachbarſtädte aufzufor-
dern zur Mitunterzeichnung einer Petition, welche Vermehrung der bürger-
lichen Abgeordneten und Erweiterung des ſtädtiſchen Wahlrechts verlangte.
Oberpräſident Merckel vereitelte für diesmal noch das nach dem beſtehen-
den Rechte unerlaubte Unternehmen; doch ſeitdem begann zwiſchen den
liberalen Städten ein ſtill geſchäftiger politiſcher Verkehr, deſſen Folgen
ſich bald zeigen ſollten. Sobald die Landtage ihre Arbeit anfingen,
mußte jedem Weltkundigen einleuchten, daß der alte Verfaſſungszuſtand
ſich ſchlechterdings nicht mehr halten ließ. Statt der vergeblich erwar-

*) Thile an Radowitz, 28. Mai; Radowitz an den König, 13. Juni 1847.
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[258/0272] V. 3. Enttäuſchung und Verwirrung. hatte, erſchien dieſer romantiſchen Staatskunſt als ein Heilmittel. Solchen Sprüngen wollte ſelbſt Thile nicht mehr folgen. Radowitz aber, dem der Entwurf nach Karlsruhe zugeſendet wurde, antwortete mit ſchönem Freimuth: „Euerer K. Majeſtät Anordnungen zur Belebung und Gliede- rung des Adels würden in den weiteſten Kreiſen nur auf Mißtrauen und Gehäſſigkeit ſtoßen, in dieſer Atmoſphäre aller Lebenskraft von vorn- herein ermangeln und ſtatt des gehofften Nutzens nur neue Gefahren und Verlegenheiten bereiten.“ *) Dieſe Warnung wirkte für den Augenblick. Die Entwürfe blieben vorläufig liegen, zum Glück für die Regierung; denn das Bürgerthum war ſchon durch die umlaufenden Gerüchte erbittert worden und erzählte ſich überall, der König wolle eine adliche Bank am Kammergericht errichten. Dann brach die Revolution herein und zwang den Adel, die Reformen, die ihm der Staat nicht bringen konnte, aus ſich ſelbſt heraus zu verſuchen, ſo weit dies noch möglich war. Seitdem erſt begannen die Geſchlechter, die ſich noch ein ariſtokratiſches Gefühl bewahrt hatten, durch Familientage und Satzungen, durch Stiftungen und Familien-Geſchichtswerke den erſchlafften und oft entarteten Standes- geiſt wieder etwas zu kräftigen. — Hoch über allen dieſen Gegenſätzen ſtand doch die Frage der Zeit, der Kampf um die Reichsſtände. Da die Vereinigten Ausſchüſſe ſo gar wenig geleiſtet hatten, ſo wendete ſich die öffentliche Theilnahme wieder den Pro- vinzialſtänden zu, die für den März 1843 zu einer neuen Tagung ein- berufen waren. Eine Menge von Petitionen wurde vorbereitet; an ihrer unaufhaltſam wachſenden Maſſe ließ ſich das Anſchwellen der Volksbe- wegung ebenſo ſicher abmeſſen wie einſt im Zeitalter der Reformation an der Zahl der neuen Drucke. Die große Mehrzahl kam aus den Städten; der Streit war ja zum guten Theile ein Kampf der bürgerlichen Inter- eſſen wider das Uebergewicht des Grundbeſitzes. Die ſchöne kleine Stadt Hirſchberg am Abhang des Rieſengebirges, die ſich allezeit durch radikalen Widerſpruchsgeiſt auszeichnete, wagte bereits die Nachbarſtädte aufzufor- dern zur Mitunterzeichnung einer Petition, welche Vermehrung der bürger- lichen Abgeordneten und Erweiterung des ſtädtiſchen Wahlrechts verlangte. Oberpräſident Merckel vereitelte für diesmal noch das nach dem beſtehen- den Rechte unerlaubte Unternehmen; doch ſeitdem begann zwiſchen den liberalen Städten ein ſtill geſchäftiger politiſcher Verkehr, deſſen Folgen ſich bald zeigen ſollten. Sobald die Landtage ihre Arbeit anfingen, mußte jedem Weltkundigen einleuchten, daß der alte Verfaſſungszuſtand ſich ſchlechterdings nicht mehr halten ließ. Statt der vergeblich erwar- *) Thile an Radowitz, 28. Mai; Radowitz an den König, 13. Juni 1847.

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 5: Bis zur März-Revolution. Leipzig, 1894, S. 258. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte05_1894/272>, abgerufen am 21.11.2024.