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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 5: Bis zur März-Revolution. Leipzig, 1894.

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V. 8. Der Vereinigte Landtag.
mahnte Beckerath salbungsvoll: "Lassen Sie uns Keinen, dem Gott das
unvergängliche Siegel seines Ebenbildes auf die Stirn gedrückt hat, aus-
schließen aus dem Kreise menschlicher Berechtigung!" Aber das Menschen-
recht bestritt den Juden Niemand, sondern nur das Recht, Staatsämter
in einem christlichen Volke zu bekleiden. Ebenso unglücklich sprach Minister
Thile, als er endlich seine schweigsamen Lippen zu einer Rede, die einer
Predigt glich, öffnete. Er meinte, der Jude könne niemals ein Deutscher,
ein Preuße werden, sein Vaterland sei Zion -- eine Behauptung, die
doch nur auf die kleine Zahl der streng altgläubigen Israeliten zutraf.
Auch Eichhorn zeigte sich nicht als wirksamer Redner, als er die Idee des
christlichen Staates vertheidigte. Diese christlichen Doctrinen überschüttete
dann Vincke mit der Lauge seines Hohnes, in einer blendenden, aber höchst
unklugen Rede, die gradezu darauf auszugehen schien, den frommen König
in seinen heiligsten Gefühlen zu verletzen und im Grunde nur flaches
Gespött enthielt. Unter schallendem Gelächter führte er aus: ein christ-
licher Staat sei doch unmöglich, da die Bibel sage: du sollst nicht töden
-- und was der Witze mehr war; daß dieselbe Bibel tief ernst von der
Nothwendigkeit des Krieges und der Hinrichtungen spricht, schien er gar
nicht zu wissen. Mit der ganzen Dreistigkeit der Sarmaten empfahl nach-
her der Pole Jaraczewski die Emancipation der Juden, damit seine Heimath
Posen von der Ueberzahl ihrer Israeliten entlastet würde; um die ge-
duldigen deutschen Nachbarn zu beschwichtigen sagte er tröstend: die Juden
glichen dem Wasser, das aufgestaut leicht versumpfe und das Land ver-
peste, aber frei durch die Gefilde dahinströmend alle seine wohlthätigen
Eigenschaften zeige.

Der liberalen Mehrheit behagten die fröhlichen Weissagungen des
Polen weit mehr als die Warnungen des Pommern v. Thadden-Trieg-
laff, der, im schärfsten Gegensatze, "die Emancipirung der Christen von
den Juden" verlangte und namentlich die Wirksamkeit jüdischer Lehrer
in christlichen Schulen gefährlich fand. Thadden war eines jener Ori-
ginale, wie sie in dem erregten Gemüthsleben der Erweckten, der Stillen
im Lande sich zuweilen ausbilden, ein gottseliger Kriegsmann aus den Be-
freiungskämpfen, tief fromm, von kindlicher Sittenreinheit, mildthätig bis
zur Verschwendung, aber ganz und gar kein Kopfhänger, vielmehr heiter,
überaus witzig, vielbelesen, frei von Menschenfurcht und darum gern bereit,
den Gegnern seiner hochlegitimistischen Gesinnung jeden Freimuth zu ge-
statten. Wer ihm näher trat mußte den Patriarchen Hinterpommerns
lieb gewinnen; die Liberalen aber hielten ihn kurzweg für einen Narren.

Nicht viel höher schätzten sie seinen jungen Liebling Bismarck, der
jetzt ebenfalls die Lehre vom christlichen Staate vertheidigte. Naiv wie
der Genius ist, bekannte sich Bismarck zu der naturwüchsigen Empfindung,
die in der Masse des deutschen Landvolks unleugbar vorherrschte: "ich
würde mich tief niedergedrückt und gebeugt fühlen, wenn ich mir als Re-

V. 8. Der Vereinigte Landtag.
mahnte Beckerath ſalbungsvoll: „Laſſen Sie uns Keinen, dem Gott das
unvergängliche Siegel ſeines Ebenbildes auf die Stirn gedrückt hat, aus-
ſchließen aus dem Kreiſe menſchlicher Berechtigung!“ Aber das Menſchen-
recht beſtritt den Juden Niemand, ſondern nur das Recht, Staatsämter
in einem chriſtlichen Volke zu bekleiden. Ebenſo unglücklich ſprach Miniſter
Thile, als er endlich ſeine ſchweigſamen Lippen zu einer Rede, die einer
Predigt glich, öffnete. Er meinte, der Jude könne niemals ein Deutſcher,
ein Preuße werden, ſein Vaterland ſei Zion — eine Behauptung, die
doch nur auf die kleine Zahl der ſtreng altgläubigen Israeliten zutraf.
Auch Eichhorn zeigte ſich nicht als wirkſamer Redner, als er die Idee des
chriſtlichen Staates vertheidigte. Dieſe chriſtlichen Doctrinen überſchüttete
dann Vincke mit der Lauge ſeines Hohnes, in einer blendenden, aber höchſt
unklugen Rede, die gradezu darauf auszugehen ſchien, den frommen König
in ſeinen heiligſten Gefühlen zu verletzen und im Grunde nur flaches
Geſpött enthielt. Unter ſchallendem Gelächter führte er aus: ein chriſt-
licher Staat ſei doch unmöglich, da die Bibel ſage: du ſollſt nicht töden
— und was der Witze mehr war; daß dieſelbe Bibel tief ernſt von der
Nothwendigkeit des Krieges und der Hinrichtungen ſpricht, ſchien er gar
nicht zu wiſſen. Mit der ganzen Dreiſtigkeit der Sarmaten empfahl nach-
her der Pole Jaraczewski die Emancipation der Juden, damit ſeine Heimath
Poſen von der Ueberzahl ihrer Israeliten entlaſtet würde; um die ge-
duldigen deutſchen Nachbarn zu beſchwichtigen ſagte er tröſtend: die Juden
glichen dem Waſſer, das aufgeſtaut leicht verſumpfe und das Land ver-
peſte, aber frei durch die Gefilde dahinſtrömend alle ſeine wohlthätigen
Eigenſchaften zeige.

Der liberalen Mehrheit behagten die fröhlichen Weiſſagungen des
Polen weit mehr als die Warnungen des Pommern v. Thadden-Trieg-
laff, der, im ſchärfſten Gegenſatze, „die Emancipirung der Chriſten von
den Juden“ verlangte und namentlich die Wirkſamkeit jüdiſcher Lehrer
in chriſtlichen Schulen gefährlich fand. Thadden war eines jener Ori-
ginale, wie ſie in dem erregten Gemüthsleben der Erweckten, der Stillen
im Lande ſich zuweilen ausbilden, ein gottſeliger Kriegsmann aus den Be-
freiungskämpfen, tief fromm, von kindlicher Sittenreinheit, mildthätig bis
zur Verſchwendung, aber ganz und gar kein Kopfhänger, vielmehr heiter,
überaus witzig, vielbeleſen, frei von Menſchenfurcht und darum gern bereit,
den Gegnern ſeiner hochlegitimiſtiſchen Geſinnung jeden Freimuth zu ge-
ſtatten. Wer ihm näher trat mußte den Patriarchen Hinterpommerns
lieb gewinnen; die Liberalen aber hielten ihn kurzweg für einen Narren.

Nicht viel höher ſchätzten ſie ſeinen jungen Liebling Bismarck, der
jetzt ebenfalls die Lehre vom chriſtlichen Staate vertheidigte. Naiv wie
der Genius iſt, bekannte ſich Bismarck zu der naturwüchſigen Empfindung,
die in der Maſſe des deutſchen Landvolks unleugbar vorherrſchte: „ich
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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 5: Bis zur März-Revolution. Leipzig, 1894, S. 634. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte05_1894/648>, abgerufen am 23.11.2024.