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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 5: Bis zur März-Revolution. Leipzig, 1894.

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V. 10. Vorboten der europäischen Revolution.
sollte, fragte er so wenig wie der englische Hof; ihm genügte die Befürchtung,
daß ein Coburger in Madrid der französischen Diplomatie vielleicht lästig
werden könnte. Andererseits verlockte ihn die Hoffnung, seiner geraubten
Krone durch eine große bourbonische Familienverbindung Glanz und Herr-
lichkeit zu verschaffen. Feierlich berief er sich also auf den Utrechter Frieden,
kraft dessen nur ein Nachkomme Philipp's V. die spanische Krone tragen durfte,
und verlangte die Hand Isabella's für einen Bourbon aus dem spanischen
oder dem neapolitanischen Königshause; die Schwester der Königin, Luise
wünschte er mit seinem jüngsten Sohne dem Herzog von Montpensier zu
vermählen. Dawider verwahrte sich ebenso entschieden der englische Hof,
denn nach dem Utrechter Vertrage hätten alle Bourbonen, die nicht zum
Stamme Philipp's V. gehörten, insbesondere die Orleans jedem Erban-
spruche auf die spanische Krone entsagt. Welch ein Uebermaß politischer
Heuchelei! Der Utrechter Vertrag war ja längst in Fetzen gerissen, und durch
wen? Durch die beiden Westmächte selbst! Sie hatten durch ihre Qua-
drupelallianz das auf dem Utrechter Vertrage ruhende salische Gesetz ver-
nichtet, das den direkten Nachkommen Philipp's V. ausschließlich die Thron-
folge zuerkannte, und nun beriefen sich beide wetteifernd auf diesen Vertrag,
den sie selber zerstört hatten. Wahrlich, Metternich hatte guten Grund,
über die vollendete Verlogenheit dieser constitutionellen Musterhöfe zu
spotten.

So lagen die Dinge, als Königin Victoria nach ihrer deutschen Reise
(1845) nochmals in dem gastlichen Schlosse Eu vorsprach. Sie hegte den
weiblichen Wunsch, mit Jedermann freundlich zu stehen und wurde von
dem Bürgerkönige mit väterlicher Zärtlichkeit behandelt. Da ließen sich
denn die Königin und der Prinzgemahl -- so gestand Prinz Albert selbst
im tiefsten Vertrauen seinem Bruder dem Herzog Ernst -- das unbe-
dachte Versprechen abschmeicheln, daß sie allen ihren Einfluß gebrauchen
würden, um eine Heirath zwischen Isabella und einem Bourbonen zu
Stande zu bringen.*) Dafür verhieß Ludwig Philipp, sein Sohn Mont-
pensier solle mit der Infantin Luise erst später Hochzeit halten, nicht eher
als bis Königin Isabella Kinder hätte -- offenbar eine ganz sinnlose
Zusage, die nur von Neuem bewies, wie wenig diese liberalen Höfe von den
Empfindungen der Völker verstanden; denn das ließ sich doch mit Sicher-
heit erwarten, daß die Spanier, wenn die Ehe ihrer Königin kinderlos
blieb, einstimmig und stürmisch die Verheirathung der jüngeren Schwester
fordern mußten. Beide Theile hielten ihre sonderbaren Versprechungen
unredlich. Prinz Albert hoffte, die bourbonische Heirath würde sich noch

*) Diese Dinge hat erst Herzog Ernst von Coburg (Aus meinem Leben I. 151 f.)
mit deutscher Ehrlichkeit aufgeklärt. Er gesteht, wie begreiflich, nicht die ganze Wahr-
heit; aber er gesteht viel mehr als Stockmar, Bulwer, Martin und andere englisch-
coburgische Berichterstatter, und er sagt genug, um unbefangenen Deutschen ein gerechtes
Urtheil zu ermöglichen.

V. 10. Vorboten der europäiſchen Revolution.
ſollte, fragte er ſo wenig wie der engliſche Hof; ihm genügte die Befürchtung,
daß ein Coburger in Madrid der franzöſiſchen Diplomatie vielleicht läſtig
werden könnte. Andererſeits verlockte ihn die Hoffnung, ſeiner geraubten
Krone durch eine große bourboniſche Familienverbindung Glanz und Herr-
lichkeit zu verſchaffen. Feierlich berief er ſich alſo auf den Utrechter Frieden,
kraft deſſen nur ein Nachkomme Philipp’s V. die ſpaniſche Krone tragen durfte,
und verlangte die Hand Iſabella’s für einen Bourbon aus dem ſpaniſchen
oder dem neapolitaniſchen Königshauſe; die Schweſter der Königin, Luiſe
wünſchte er mit ſeinem jüngſten Sohne dem Herzog von Montpenſier zu
vermählen. Dawider verwahrte ſich ebenſo entſchieden der engliſche Hof,
denn nach dem Utrechter Vertrage hätten alle Bourbonen, die nicht zum
Stamme Philipp’s V. gehörten, insbeſondere die Orleans jedem Erban-
ſpruche auf die ſpaniſche Krone entſagt. Welch ein Uebermaß politiſcher
Heuchelei! Der Utrechter Vertrag war ja längſt in Fetzen geriſſen, und durch
wen? Durch die beiden Weſtmächte ſelbſt! Sie hatten durch ihre Qua-
drupelallianz das auf dem Utrechter Vertrage ruhende ſaliſche Geſetz ver-
nichtet, das den direkten Nachkommen Philipp’s V. ausſchließlich die Thron-
folge zuerkannte, und nun beriefen ſich beide wetteifernd auf dieſen Vertrag,
den ſie ſelber zerſtört hatten. Wahrlich, Metternich hatte guten Grund,
über die vollendete Verlogenheit dieſer conſtitutionellen Muſterhöfe zu
ſpotten.

So lagen die Dinge, als Königin Victoria nach ihrer deutſchen Reiſe
(1845) nochmals in dem gaſtlichen Schloſſe Eu vorſprach. Sie hegte den
weiblichen Wunſch, mit Jedermann freundlich zu ſtehen und wurde von
dem Bürgerkönige mit väterlicher Zärtlichkeit behandelt. Da ließen ſich
denn die Königin und der Prinzgemahl — ſo geſtand Prinz Albert ſelbſt
im tiefſten Vertrauen ſeinem Bruder dem Herzog Ernſt — das unbe-
dachte Verſprechen abſchmeicheln, daß ſie allen ihren Einfluß gebrauchen
würden, um eine Heirath zwiſchen Iſabella und einem Bourbonen zu
Stande zu bringen.*) Dafür verhieß Ludwig Philipp, ſein Sohn Mont-
penſier ſolle mit der Infantin Luiſe erſt ſpäter Hochzeit halten, nicht eher
als bis Königin Iſabella Kinder hätte — offenbar eine ganz ſinnloſe
Zuſage, die nur von Neuem bewies, wie wenig dieſe liberalen Höfe von den
Empfindungen der Völker verſtanden; denn das ließ ſich doch mit Sicher-
heit erwarten, daß die Spanier, wenn die Ehe ihrer Königin kinderlos
blieb, einſtimmig und ſtürmiſch die Verheirathung der jüngeren Schweſter
fordern mußten. Beide Theile hielten ihre ſonderbaren Verſprechungen
unredlich. Prinz Albert hoffte, die bourboniſche Heirath würde ſich noch

*) Dieſe Dinge hat erſt Herzog Ernſt von Coburg (Aus meinem Leben I. 151 f.)
mit deutſcher Ehrlichkeit aufgeklärt. Er geſteht, wie begreiflich, nicht die ganze Wahr-
heit; aber er geſteht viel mehr als Stockmar, Bulwer, Martin und andere engliſch-
coburgiſche Berichterſtatter, und er ſagt genug, um unbefangenen Deutſchen ein gerechtes
Urtheil zu ermöglichen.
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[704/0718] V. 10. Vorboten der europäiſchen Revolution. ſollte, fragte er ſo wenig wie der engliſche Hof; ihm genügte die Befürchtung, daß ein Coburger in Madrid der franzöſiſchen Diplomatie vielleicht läſtig werden könnte. Andererſeits verlockte ihn die Hoffnung, ſeiner geraubten Krone durch eine große bourboniſche Familienverbindung Glanz und Herr- lichkeit zu verſchaffen. Feierlich berief er ſich alſo auf den Utrechter Frieden, kraft deſſen nur ein Nachkomme Philipp’s V. die ſpaniſche Krone tragen durfte, und verlangte die Hand Iſabella’s für einen Bourbon aus dem ſpaniſchen oder dem neapolitaniſchen Königshauſe; die Schweſter der Königin, Luiſe wünſchte er mit ſeinem jüngſten Sohne dem Herzog von Montpenſier zu vermählen. Dawider verwahrte ſich ebenſo entſchieden der engliſche Hof, denn nach dem Utrechter Vertrage hätten alle Bourbonen, die nicht zum Stamme Philipp’s V. gehörten, insbeſondere die Orleans jedem Erban- ſpruche auf die ſpaniſche Krone entſagt. Welch ein Uebermaß politiſcher Heuchelei! Der Utrechter Vertrag war ja längſt in Fetzen geriſſen, und durch wen? Durch die beiden Weſtmächte ſelbſt! Sie hatten durch ihre Qua- drupelallianz das auf dem Utrechter Vertrage ruhende ſaliſche Geſetz ver- nichtet, das den direkten Nachkommen Philipp’s V. ausſchließlich die Thron- folge zuerkannte, und nun beriefen ſich beide wetteifernd auf dieſen Vertrag, den ſie ſelber zerſtört hatten. Wahrlich, Metternich hatte guten Grund, über die vollendete Verlogenheit dieſer conſtitutionellen Muſterhöfe zu ſpotten. So lagen die Dinge, als Königin Victoria nach ihrer deutſchen Reiſe (1845) nochmals in dem gaſtlichen Schloſſe Eu vorſprach. Sie hegte den weiblichen Wunſch, mit Jedermann freundlich zu ſtehen und wurde von dem Bürgerkönige mit väterlicher Zärtlichkeit behandelt. Da ließen ſich denn die Königin und der Prinzgemahl — ſo geſtand Prinz Albert ſelbſt im tiefſten Vertrauen ſeinem Bruder dem Herzog Ernſt — das unbe- dachte Verſprechen abſchmeicheln, daß ſie allen ihren Einfluß gebrauchen würden, um eine Heirath zwiſchen Iſabella und einem Bourbonen zu Stande zu bringen. *) Dafür verhieß Ludwig Philipp, ſein Sohn Mont- penſier ſolle mit der Infantin Luiſe erſt ſpäter Hochzeit halten, nicht eher als bis Königin Iſabella Kinder hätte — offenbar eine ganz ſinnloſe Zuſage, die nur von Neuem bewies, wie wenig dieſe liberalen Höfe von den Empfindungen der Völker verſtanden; denn das ließ ſich doch mit Sicher- heit erwarten, daß die Spanier, wenn die Ehe ihrer Königin kinderlos blieb, einſtimmig und ſtürmiſch die Verheirathung der jüngeren Schweſter fordern mußten. Beide Theile hielten ihre ſonderbaren Verſprechungen unredlich. Prinz Albert hoffte, die bourboniſche Heirath würde ſich noch *) Dieſe Dinge hat erſt Herzog Ernſt von Coburg (Aus meinem Leben I. 151 f.) mit deutſcher Ehrlichkeit aufgeklärt. Er geſteht, wie begreiflich, nicht die ganze Wahr- heit; aber er geſteht viel mehr als Stockmar, Bulwer, Martin und andere engliſch- coburgiſche Berichterſtatter, und er ſagt genug, um unbefangenen Deutſchen ein gerechtes Urtheil zu ermöglichen.

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 5: Bis zur März-Revolution. Leipzig, 1894, S. 704. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte05_1894/718>, abgerufen am 22.11.2024.