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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 5: Bis zur März-Revolution. Leipzig, 1894.

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Zerfall des Bundes der Westmächte.
ein historisches Gutachten ausarbeiten, das dieser wohlbegründeten Rechts-
ansicht durchaus zustimmte.*) Schließlich drang doch Canitz durch mit
seinem nüchternen Rathe: wir wollen nicht Frankreichs Vorgehen billigen,
"aber auch uns nicht von Palmerston in's Schlepptau nehmen lassen"
in einer Sache, die England unter aller Kritik behandelt hat.**) Die
Unsauberkeit dieser spanischen Händel mußte den stolzen Höfen des Ostens,
die den politischen Anstand doch immer gewahrt hatten, durchaus ekelhaft
erscheinen, und Canitz schrieb verächtlich: "Der Ehrenkönigstitel für den,
wie man sagt, schlechten Beschäler der Königin von Spanien ist auch eine
Geburt der Jetztzeit."***)

Also ward Palmerston von den Ostmächten kalt abgewiesen, und nun-
mehr entschloß er sich, wie er dem allezeit gläubigen Bunsen sagte, den
diplomatischen Krieg gegen Frankreich auf einer breiteren Basis zu führen,
auf der Basis der bürgerlichen und religiösen Freiheit, welche Canning vor
zwanzig Jahren auf sein Banner geschrieben hätte.+) Seine Wuth gegen
Guizot zeigte sich in der Krakauer Zwistigkeit, wo er jeden gemeinsamen
Protest der Westmächte hintertrieb, sie zeigte sich in Pera und Athen, wo
die Gesandten der beiden Mächte beständig mit einander rangen, sie zeigte
sich am deutlichsten in Portugal, wo Palmerston einen neuen Aufstand gegen
die gute Königin Maria sogar mit den Waffen unterstützte und schließ-
lich die grausame Handelsherrschaft Englands fester denn jemals auf-
richtete. --

Aber auch Mitteleuropa bot der Stellen genug, wo der Lord Feuer-
brand die Minen der Revolution legen konnte. Gerade die Macht, die
bisher in der Staatengesellschaft ein unnatürliches Uebergewicht behauptet
hatte, zeigte sich jetzt unter allen am schwächsten; in den anderen Groß-
mächten bekämpften sich nur Parteien, in Oesterreich schien der Bestand
des Gemeinwesens selber bedroht. Die alte Wahrheit, daß ein lebendiges
Nationalgefühl die sicherste Grundlage aller politischen Freiheit bleibt, mußte
sich an dem Völkergemisch des Donaureichs noch viel greller offenbaren als
an dem dänischen Gesammtstaate; sobald der alte Absolutismus erschlaffte
und die constitutionellen Ideen sich regten, erwachten auch nothwendig die
centrifugalen Kräfte in diesem Gemeinwesen, von dem die Lombarden
sagten: es ist kein Staat, sondern nur eine Familie. Unter allen den
Nationalitäten, welche dem Kaiserthum angehörten, gebot keine, nicht ein-
mal die Gesammtheit der Slavenstämme, auch nur über die Mehrheit
der Kopfzahl, und unter allen waren nur zwei gut österreichisch gesinnt:
die Deutschen, die doch kaum ein Viertel der Gesammtheit ausmachten,

*) König Friedrich Wilhelm, Marginalnote für Thile, 25. Sept.; L. Ranke,
Denkschrift über den Utrechter Frieden, Nov. 1846.
**) Canitz an Rochow, 21. Oct. 1846.
***) Canitz an Rochow, 31. Oct. 1846.
+) Bunsen's Bericht, 6. April 1847.

Zerfall des Bundes der Weſtmächte.
ein hiſtoriſches Gutachten ausarbeiten, das dieſer wohlbegründeten Rechts-
anſicht durchaus zuſtimmte.*) Schließlich drang doch Canitz durch mit
ſeinem nüchternen Rathe: wir wollen nicht Frankreichs Vorgehen billigen,
„aber auch uns nicht von Palmerſton in’s Schlepptau nehmen laſſen“
in einer Sache, die England unter aller Kritik behandelt hat.**) Die
Unſauberkeit dieſer ſpaniſchen Händel mußte den ſtolzen Höfen des Oſtens,
die den politiſchen Anſtand doch immer gewahrt hatten, durchaus ekelhaft
erſcheinen, und Canitz ſchrieb verächtlich: „Der Ehrenkönigstitel für den,
wie man ſagt, ſchlechten Beſchäler der Königin von Spanien iſt auch eine
Geburt der Jetztzeit.“***)

Alſo ward Palmerſton von den Oſtmächten kalt abgewieſen, und nun-
mehr entſchloß er ſich, wie er dem allezeit gläubigen Bunſen ſagte, den
diplomatiſchen Krieg gegen Frankreich auf einer breiteren Baſis zu führen,
auf der Baſis der bürgerlichen und religiöſen Freiheit, welche Canning vor
zwanzig Jahren auf ſein Banner geſchrieben hätte.†) Seine Wuth gegen
Guizot zeigte ſich in der Krakauer Zwiſtigkeit, wo er jeden gemeinſamen
Proteſt der Weſtmächte hintertrieb, ſie zeigte ſich in Pera und Athen, wo
die Geſandten der beiden Mächte beſtändig mit einander rangen, ſie zeigte
ſich am deutlichſten in Portugal, wo Palmerſton einen neuen Aufſtand gegen
die gute Königin Maria ſogar mit den Waffen unterſtützte und ſchließ-
lich die grauſame Handelsherrſchaft Englands feſter denn jemals auf-
richtete. —

Aber auch Mitteleuropa bot der Stellen genug, wo der Lord Feuer-
brand die Minen der Revolution legen konnte. Gerade die Macht, die
bisher in der Staatengeſellſchaft ein unnatürliches Uebergewicht behauptet
hatte, zeigte ſich jetzt unter allen am ſchwächſten; in den anderen Groß-
mächten bekämpften ſich nur Parteien, in Oeſterreich ſchien der Beſtand
des Gemeinweſens ſelber bedroht. Die alte Wahrheit, daß ein lebendiges
Nationalgefühl die ſicherſte Grundlage aller politiſchen Freiheit bleibt, mußte
ſich an dem Völkergemiſch des Donaureichs noch viel greller offenbaren als
an dem däniſchen Geſammtſtaate; ſobald der alte Abſolutismus erſchlaffte
und die conſtitutionellen Ideen ſich regten, erwachten auch nothwendig die
centrifugalen Kräfte in dieſem Gemeinweſen, von dem die Lombarden
ſagten: es iſt kein Staat, ſondern nur eine Familie. Unter allen den
Nationalitäten, welche dem Kaiſerthum angehörten, gebot keine, nicht ein-
mal die Geſammtheit der Slavenſtämme, auch nur über die Mehrheit
der Kopfzahl, und unter allen waren nur zwei gut öſterreichiſch geſinnt:
die Deutſchen, die doch kaum ein Viertel der Geſammtheit ausmachten,

*) König Friedrich Wilhelm, Marginalnote für Thile, 25. Sept.; L. Ranke,
Denkſchrift über den Utrechter Frieden, Nov. 1846.
**) Canitz an Rochow, 21. Oct. 1846.
***) Canitz an Rochow, 31. Oct. 1846.
†) Bunſen’s Bericht, 6. April 1847.
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[709/0723] Zerfall des Bundes der Weſtmächte. ein hiſtoriſches Gutachten ausarbeiten, das dieſer wohlbegründeten Rechts- anſicht durchaus zuſtimmte. *) Schließlich drang doch Canitz durch mit ſeinem nüchternen Rathe: wir wollen nicht Frankreichs Vorgehen billigen, „aber auch uns nicht von Palmerſton in’s Schlepptau nehmen laſſen“ in einer Sache, die England unter aller Kritik behandelt hat. **) Die Unſauberkeit dieſer ſpaniſchen Händel mußte den ſtolzen Höfen des Oſtens, die den politiſchen Anſtand doch immer gewahrt hatten, durchaus ekelhaft erſcheinen, und Canitz ſchrieb verächtlich: „Der Ehrenkönigstitel für den, wie man ſagt, ſchlechten Beſchäler der Königin von Spanien iſt auch eine Geburt der Jetztzeit.“ ***) Alſo ward Palmerſton von den Oſtmächten kalt abgewieſen, und nun- mehr entſchloß er ſich, wie er dem allezeit gläubigen Bunſen ſagte, den diplomatiſchen Krieg gegen Frankreich auf einer breiteren Baſis zu führen, auf der Baſis der bürgerlichen und religiöſen Freiheit, welche Canning vor zwanzig Jahren auf ſein Banner geſchrieben hätte. †) Seine Wuth gegen Guizot zeigte ſich in der Krakauer Zwiſtigkeit, wo er jeden gemeinſamen Proteſt der Weſtmächte hintertrieb, ſie zeigte ſich in Pera und Athen, wo die Geſandten der beiden Mächte beſtändig mit einander rangen, ſie zeigte ſich am deutlichſten in Portugal, wo Palmerſton einen neuen Aufſtand gegen die gute Königin Maria ſogar mit den Waffen unterſtützte und ſchließ- lich die grauſame Handelsherrſchaft Englands feſter denn jemals auf- richtete. — Aber auch Mitteleuropa bot der Stellen genug, wo der Lord Feuer- brand die Minen der Revolution legen konnte. Gerade die Macht, die bisher in der Staatengeſellſchaft ein unnatürliches Uebergewicht behauptet hatte, zeigte ſich jetzt unter allen am ſchwächſten; in den anderen Groß- mächten bekämpften ſich nur Parteien, in Oeſterreich ſchien der Beſtand des Gemeinweſens ſelber bedroht. Die alte Wahrheit, daß ein lebendiges Nationalgefühl die ſicherſte Grundlage aller politiſchen Freiheit bleibt, mußte ſich an dem Völkergemiſch des Donaureichs noch viel greller offenbaren als an dem däniſchen Geſammtſtaate; ſobald der alte Abſolutismus erſchlaffte und die conſtitutionellen Ideen ſich regten, erwachten auch nothwendig die centrifugalen Kräfte in dieſem Gemeinweſen, von dem die Lombarden ſagten: es iſt kein Staat, ſondern nur eine Familie. Unter allen den Nationalitäten, welche dem Kaiſerthum angehörten, gebot keine, nicht ein- mal die Geſammtheit der Slavenſtämme, auch nur über die Mehrheit der Kopfzahl, und unter allen waren nur zwei gut öſterreichiſch geſinnt: die Deutſchen, die doch kaum ein Viertel der Geſammtheit ausmachten, *) König Friedrich Wilhelm, Marginalnote für Thile, 25. Sept.; L. Ranke, Denkſchrift über den Utrechter Frieden, Nov. 1846. **) Canitz an Rochow, 21. Oct. 1846. ***) Canitz an Rochow, 31. Oct. 1846. †) Bunſen’s Bericht, 6. April 1847.

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 5: Bis zur März-Revolution. Leipzig, 1894, S. 709. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte05_1894/723>, abgerufen am 22.11.2024.