es ist, und je mehr Feinde es hat. Sie ist am grössten bey den völlig wehrlosen Pflanzen.
Es würde uns jetzt obliegen, von den verschie- denen Modifikationen des Lebens und der Ge- schlechtsvermehrung, deren Nothwendigkeit wir aus dem Begriffe des Lebens abgeleitet haben, auch die Möglichkeit zu erweisen. Allein hier ist der Punkt, wo wir ohne Hülfe der Erfahrung nicht weiter kommen können. Um nehmlich den Beweis jener Möglichkeit führen zu können, müsste vor- her das Problem aufgelöset seyn: wie die Lebens- kraft einem System repulsiver Kräfte einen gewis- sen Grad der Unabhängigkeit von den Einwirkun- gen der Aussenwelt ertheilen könne? Diese Frage lässt sich nun zwar durch die Voraussetzung be- antworten, dass der Charakter der Lebenskraft in absoluter Thätigkeit und gänzlicher Unabhängig- keit von den Einwirkungen der Aussenwelt bestehe; dass aber jene absolute Thätigkeit derselben durch ihre Verbindung mit den repulsiven Kräften, deren Charakter absolute Trägheit und gänzliche Abhän- gigkeit von den äussern Einflüssen ist, beschränkt wird, und dass diese Beschränkung den mittlern Zustand zwischen absoluter Thätigkeit und abso- luter Trägheit, den wir Leben nennen, hervor- bringt. Allein dann entsteht wieder die Frage: Was die Lebenskraft nur an gewisse Systeme von repulsiven Kräften bindet, und warum Leben nicht
ein
es ist, und je mehr Feinde es hat. Sie ist am gröſsten bey den völlig wehrlosen Pflanzen.
Es würde uns jetzt obliegen, von den verschie- denen Modifikationen des Lebens und der Ge- schlechtsvermehrung, deren Nothwendigkeit wir aus dem Begriffe des Lebens abgeleitet haben, auch die Möglichkeit zu erweisen. Allein hier ist der Punkt, wo wir ohne Hülfe der Erfahrung nicht weiter kommen können. Um nehmlich den Beweis jener Möglichkeit führen zu können, müſste vor- her das Problem aufgelöset seyn: wie die Lebens- kraft einem System repulsiver Kräfte einen gewis- sen Grad der Unabhängigkeit von den Einwirkun- gen der Aussenwelt ertheilen könne? Diese Frage läſst sich nun zwar durch die Voraussetzung be- antworten, daſs der Charakter der Lebenskraft in absoluter Thätigkeit und gänzlicher Unabhängig- keit von den Einwirkungen der Aussenwelt bestehe; daſs aber jene absolute Thätigkeit derselben durch ihre Verbindung mit den repulsiven Kräften, deren Charakter absolute Trägheit und gänzliche Abhän- gigkeit von den äussern Einflüssen ist, beschränkt wird, und daſs diese Beschränkung den mittlern Zustand zwischen absoluter Thätigkeit und abso- luter Trägheit, den wir Leben nennen, hervor- bringt. Allein dann entsteht wieder die Frage: Was die Lebenskraft nur an gewisse Systeme von repulsiven Kräften bindet, und warum Leben nicht
ein
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><p><pbfacs="#f0100"n="80"/>
es ist, und je mehr Feinde es hat. Sie ist am<lb/>
gröſsten bey den völlig wehrlosen Pflanzen.</p><lb/><p>Es würde uns jetzt obliegen, von den verschie-<lb/>
denen Modifikationen des Lebens und der Ge-<lb/>
schlechtsvermehrung, deren Nothwendigkeit wir<lb/>
aus dem Begriffe des Lebens abgeleitet haben, auch<lb/>
die Möglichkeit zu erweisen. Allein hier ist der<lb/>
Punkt, wo wir ohne Hülfe der Erfahrung nicht<lb/>
weiter kommen können. Um nehmlich den Beweis<lb/>
jener Möglichkeit führen zu können, müſste vor-<lb/>
her das Problem aufgelöset seyn: wie die Lebens-<lb/>
kraft einem System repulsiver Kräfte einen gewis-<lb/>
sen Grad der Unabhängigkeit von den Einwirkun-<lb/>
gen der Aussenwelt ertheilen könne? Diese Frage<lb/>
läſst sich nun zwar durch die Voraussetzung be-<lb/>
antworten, daſs der Charakter der Lebenskraft in<lb/>
absoluter Thätigkeit und gänzlicher Unabhängig-<lb/>
keit von den Einwirkungen der Aussenwelt bestehe;<lb/>
daſs aber jene absolute Thätigkeit derselben durch<lb/>
ihre Verbindung mit den repulsiven Kräften, deren<lb/>
Charakter absolute Trägheit und gänzliche Abhän-<lb/>
gigkeit von den äussern Einflüssen ist, beschränkt<lb/>
wird, und daſs diese Beschränkung den mittlern<lb/>
Zustand zwischen absoluter Thätigkeit und abso-<lb/>
luter Trägheit, den wir Leben nennen, hervor-<lb/>
bringt. Allein dann entsteht wieder die Frage:<lb/>
Was die Lebenskraft nur an gewisse Systeme von<lb/>
repulsiven Kräften bindet, und warum Leben nicht<lb/><fwplace="bottom"type="catch">ein</fw><lb/></p></div></div></body></text></TEI>
[80/0100]
es ist, und je mehr Feinde es hat. Sie ist am
gröſsten bey den völlig wehrlosen Pflanzen.
Es würde uns jetzt obliegen, von den verschie-
denen Modifikationen des Lebens und der Ge-
schlechtsvermehrung, deren Nothwendigkeit wir
aus dem Begriffe des Lebens abgeleitet haben, auch
die Möglichkeit zu erweisen. Allein hier ist der
Punkt, wo wir ohne Hülfe der Erfahrung nicht
weiter kommen können. Um nehmlich den Beweis
jener Möglichkeit führen zu können, müſste vor-
her das Problem aufgelöset seyn: wie die Lebens-
kraft einem System repulsiver Kräfte einen gewis-
sen Grad der Unabhängigkeit von den Einwirkun-
gen der Aussenwelt ertheilen könne? Diese Frage
läſst sich nun zwar durch die Voraussetzung be-
antworten, daſs der Charakter der Lebenskraft in
absoluter Thätigkeit und gänzlicher Unabhängig-
keit von den Einwirkungen der Aussenwelt bestehe;
daſs aber jene absolute Thätigkeit derselben durch
ihre Verbindung mit den repulsiven Kräften, deren
Charakter absolute Trägheit und gänzliche Abhän-
gigkeit von den äussern Einflüssen ist, beschränkt
wird, und daſs diese Beschränkung den mittlern
Zustand zwischen absoluter Thätigkeit und abso-
luter Trägheit, den wir Leben nennen, hervor-
bringt. Allein dann entsteht wieder die Frage:
Was die Lebenskraft nur an gewisse Systeme von
repulsiven Kräften bindet, und warum Leben nicht
ein
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Treviranus, Gottfried Reinhold: Biologie, oder Philosophie der lebenden Natur für Naturforscher und Ärzte. Bd. 1. Göttingen, 1802, S. 80. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treviranus_biologie01_1802/100>, abgerufen am 04.12.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.