Uz, Johann Peter: Lyrische und andere Gedichte. 2. Aufl. Ansbach, 1755.Briefe. Der weise Marmor scheint beseelet:Von keinem neidischen Gewand Wird auch der kleinste Reiz verheelet; Und weder schönes Maaß, noch jenes Weiche fehlet, Das alter Griechen leichte Hand, Von Grazien geführt, mit hartem Stein verband. Jn Marmor stehn an ihren Seiten Die Dichter neuer Zeit, bey Dichtern alter Zeiten: Da Lieblichkeit am Griechen lacht, Ein Ernst voll Majestät den Römer kenntlich macht, Und manche Härte noch und wildere Geberden Jn iedem Bild entdecket werden, Das jüngre Kunst hervor gebracht. Mein Auge säumt bey iedem Stücke; Doch Pindar fesselt meine Blicke. Sein stolzes Auge rollt, voll ungestümer Glut, Voll heilger Wuth. Dem kühnen Griechen gegen über Steht Flaccus, dessen Blick satirisch lächelnd blitzt: Er singt, von sanftern Gott erhitzt, Und ohne Zückung, ohne Fieber. Oft nachgeahmt und nie erreicht, Hebt sein geflügelt Lied sich prächtig, hoch, doch leicht. Jch betrachtete diese beeden großen Männer mit einer so zwey
Briefe. Der weiſe Marmor ſcheint beſeelet:Von keinem neidiſchen Gewand Wird auch der kleinſte Reiz verheelet; Und weder ſchoͤnes Maaß, noch jenes Weiche fehlet, Das alter Griechen leichte Hand, Von Grazien gefuͤhrt, mit hartem Stein verband. Jn Marmor ſtehn an ihren Seiten Die Dichter neuer Zeit, bey Dichtern alter Zeiten: Da Lieblichkeit am Griechen lacht, Ein Ernſt voll Majeſtaͤt den Roͤmer kenntlich macht, Und manche Haͤrte noch und wildere Geberden Jn iedem Bild entdecket werden, Das juͤngre Kunſt hervor gebracht. Mein Auge ſaͤumt bey iedem Stuͤcke; Doch Pindar feſſelt meine Blicke. Sein ſtolzes Auge rollt, voll ungeſtuͤmer Glut, Voll heilger Wuth. Dem kuͤhnen Griechen gegen uͤber Steht Flaccus, deſſen Blick ſatiriſch laͤchelnd blitzt: Er ſingt, von ſanftern Gott erhitzt, Und ohne Zuͤckung, ohne Fieber. Oft nachgeahmt und nie erreicht, Hebt ſein gefluͤgelt Lied ſich praͤchtig, hoch, doch leicht. Jch betrachtete dieſe beeden großen Maͤnner mit einer ſo zwey
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Briefe.
Der weiſe Marmor ſcheint beſeelet:
Von keinem neidiſchen Gewand
Wird auch der kleinſte Reiz verheelet;
Und weder ſchoͤnes Maaß, noch jenes Weiche fehlet,
Das alter Griechen leichte Hand,
Von Grazien gefuͤhrt, mit hartem Stein verband.
Jn Marmor ſtehn an ihren Seiten
Die Dichter neuer Zeit, bey Dichtern alter Zeiten:
Da Lieblichkeit am Griechen lacht,
Ein Ernſt voll Majeſtaͤt den Roͤmer kenntlich macht,
Und manche Haͤrte noch und wildere Geberden
Jn iedem Bild entdecket werden,
Das juͤngre Kunſt hervor gebracht.
Mein Auge ſaͤumt bey iedem Stuͤcke;
Doch Pindar feſſelt meine Blicke.
Sein ſtolzes Auge rollt, voll ungeſtuͤmer Glut,
Voll heilger Wuth.
Dem kuͤhnen Griechen gegen uͤber
Steht Flaccus, deſſen Blick ſatiriſch laͤchelnd blitzt:
Er ſingt, von ſanftern Gott erhitzt,
Und ohne Zuͤckung, ohne Fieber.
Oft nachgeahmt und nie erreicht,
Hebt ſein gefluͤgelt Lied ſich praͤchtig, hoch, doch leicht.
Jch betrachtete dieſe beeden großen Maͤnner mit einer ſo
ehrerbietigen Aufmerkſamkeit, daß ich lange Zeit den Laͤrm
nicht bemerkte, welcher immer mehr um mich herum an-
wuchs. Eine Menge Leute, die ich alle fuͤr deutſche er
kannte, waren in den Tempel eingedrungen; aber durch
zwey
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