10. In der Klasse der Wirbelthiere entstehen vermöge ihrer eigenthümlichen Evolutio bigemina zwei nach oben gehende Rücken- und zwei nach unten gehende Bauchplatten; bei den Wir- bellosen sind dem Typus nach nur zwei von der Bauch- nach der Rückenseite gehende Platten, welche ihrer Bedeutung nach als blosse Bauchplatten angesehen werden müssen, vorhanden. Die Wirbelthiere haben, um mich dieses zweideutigen und ungeschick- ten Ausdruckes zu bedienen, keinen wahren Rücken, sondern bloss die Tendenz einen solchen zu bilden. Sie sind ein umgekehrtes unteres Centralrohr, von einem einfachen Hautrohre umgeben.
11. In der Mittellinie zwischen oberem und unterem Cen- tralrohre und unter dem Hautrohre entstehen bei den Wirbel- thieren die Extremitäten wenigstens allgemein in den drei höhe- ren Klassen derselben, und so viel ich sehen konnte, auch in den Fischen. Sie sind dann von oben nach unten gerichtet, und in einem idealen Querdurchschnitte ginge ihre ideale Richtungslinie dem Durchschnitte des Dotters parallel. Wenn man den Embryo der Wirbelthiere sich so gelagert denkt, dass der Dotter unter ihnen liegt, so ist parallel dieser nach unten gerichteten Lage des Dotters auch die der Extremitäten auf gleiche Weise nach unten gewandt. Bei den Wirbellosen ist das Verhältniss anders. Wir müssen nach dem unter No. 4. Angeführten diese Thiere als un- ter dem Dotter liegend uns denken. Es müsste daher, wenn diese eine gleiche Lage zu den Nahrungsflüssigkeiten des Embryo, wie in den Wirbelthieren hätten, ihre Richtung hier nicht, wie in den Wirbelthieren von oben nach unten. sondern ebenfalls von unten nach oben seyn. Allein die Gliedmaassen des wirbellosen Thieres sind dessenungeachtet ebenfalls von oben nach unten und innen gerichtet, dem Dotter nicht parallel, sondern abgewandt, nicht über oder neben dem Dotter, sondern unter demselben. -- Man kann vielleicht dieses merkwürdige Verhältniss auf einen höheren Standpunkt zurückführen. Bei den Wirbelthieren herrscht das sen- sible Centralorgan vor und das System der motorischen Organe ist von untergeordnetem Verhältnisse. Es zerfällt daher die Reihe der Metamorphosen des serösen Blattes, als der rein animalischen Organe, in ein oberes Centralrohr für das centrale Nervensystem und ein unteres Centralrohr. Zwischen beiden stehen die Extre- mitäten, einerseits die Hauptträger der Bewegung, anderseits die Re- präsentanten eines eigenen Sinnes. Bei den Wirbellosen sind die
VI. Wirbellose und Wirbelthiere.
10. In der Klasse der Wirbelthiere entstehen vermöge ihrer eigenthümlichen Evolutio bigemina zwei nach oben gehende Rücken- und zwei nach unten gehende Bauchplatten; bei den Wir- bellosen sind dem Typus nach nur zwei von der Bauch- nach der Rückenseite gehende Platten, welche ihrer Bedeutung nach als bloſse Bauchplatten angesehen werden müssen, vorhanden. Die Wirbelthiere haben, um mich dieses zweideutigen und ungeschick- ten Ausdruckes zu bedienen, keinen wahren Rücken, sondern bloſs die Tendenz einen solchen zu bilden. Sie sind ein umgekehrtes unteres Centralrohr, von einem einfachen Hautrohre umgeben.
11. In der Mittellinie zwischen oberem und unterem Cen- tralrohre und unter dem Hautrohre entstehen bei den Wirbel- thieren die Extremitäten wenigstens allgemein in den drei höhe- ren Klassen derselben, und so viel ich sehen konnte, auch in den Fischen. Sie sind dann von oben nach unten gerichtet, und in einem idealen Querdurchschnitte ginge ihre ideale Richtungslinie dem Durchschnitte des Dotters parallel. Wenn man den Embryo der Wirbelthiere sich so gelagert denkt, daſs der Dotter unter ihnen liegt, so ist parallel dieser nach unten gerichteten Lage des Dotters auch die der Extremitäten auf gleiche Weise nach unten gewandt. Bei den Wirbellosen ist das Verhältniſs anders. Wir müssen nach dem unter No. 4. Angeführten diese Thiere als un- ter dem Dotter liegend uns denken. Es müſste daher, wenn diese eine gleiche Lage zu den Nahrungsflüssigkeiten des Embryo, wie in den Wirbelthieren hätten, ihre Richtung hier nicht, wie in den Wirbelthieren von oben nach unten. sondern ebenfalls von unten nach oben seyn. Allein die Gliedmaaſsen des wirbellosen Thieres sind dessenungeachtet ebenfalls von oben nach unten und innen gerichtet, dem Dotter nicht parallel, sondern abgewandt, nicht über oder neben dem Dotter, sondern unter demselben. — Man kann vielleicht dieses merkwürdige Verhältniſs auf einen höheren Standpunkt zurückführen. Bei den Wirbelthieren herrscht das sen- sible Centralorgan vor und das System der motorischen Organe ist von untergeordnetem Verhältnisse. Es zerfällt daher die Reihe der Metamorphosen des serösen Blattes, als der rein animalischen Organe, in ein oberes Centralrohr für das centrale Nervensystem und ein unteres Centralrohr. Zwischen beiden stehen die Extre- mitäten, einerseits die Hauptträger der Bewegung, anderseits die Re- präsentanten eines eigenen Sinnes. Bei den Wirbellosen sind die
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VI. Wirbellose und Wirbelthiere.
10. In der Klasse der Wirbelthiere entstehen vermöge ihrer
eigenthümlichen Evolutio bigemina zwei nach oben gehende
Rücken- und zwei nach unten gehende Bauchplatten; bei den Wir-
bellosen sind dem Typus nach nur zwei von der Bauch- nach der
Rückenseite gehende Platten, welche ihrer Bedeutung nach als
bloſse Bauchplatten angesehen werden müssen, vorhanden. Die
Wirbelthiere haben, um mich dieses zweideutigen und ungeschick-
ten Ausdruckes zu bedienen, keinen wahren Rücken, sondern bloſs
die Tendenz einen solchen zu bilden. Sie sind ein umgekehrtes
unteres Centralrohr, von einem einfachen Hautrohre umgeben.
11. In der Mittellinie zwischen oberem und unterem Cen-
tralrohre und unter dem Hautrohre entstehen bei den Wirbel-
thieren die Extremitäten wenigstens allgemein in den drei höhe-
ren Klassen derselben, und so viel ich sehen konnte, auch in den
Fischen. Sie sind dann von oben nach unten gerichtet, und in
einem idealen Querdurchschnitte ginge ihre ideale Richtungslinie
dem Durchschnitte des Dotters parallel. Wenn man den Embryo
der Wirbelthiere sich so gelagert denkt, daſs der Dotter unter
ihnen liegt, so ist parallel dieser nach unten gerichteten Lage des
Dotters auch die der Extremitäten auf gleiche Weise nach unten
gewandt. Bei den Wirbellosen ist das Verhältniſs anders. Wir
müssen nach dem unter No. 4. Angeführten diese Thiere als un-
ter dem Dotter liegend uns denken. Es müſste daher, wenn
diese eine gleiche Lage zu den Nahrungsflüssigkeiten des Embryo,
wie in den Wirbelthieren hätten, ihre Richtung hier nicht, wie
in den Wirbelthieren von oben nach unten. sondern ebenfalls von
unten nach oben seyn. Allein die Gliedmaaſsen des wirbellosen
Thieres sind dessenungeachtet ebenfalls von oben nach unten und
innen gerichtet, dem Dotter nicht parallel, sondern abgewandt,
nicht über oder neben dem Dotter, sondern unter demselben. — Man
kann vielleicht dieses merkwürdige Verhältniſs auf einen höheren
Standpunkt zurückführen. Bei den Wirbelthieren herrscht das sen-
sible Centralorgan vor und das System der motorischen Organe ist
von untergeordnetem Verhältnisse. Es zerfällt daher die Reihe
der Metamorphosen des serösen Blattes, als der rein animalischen
Organe, in ein oberes Centralrohr für das centrale Nervensystem
und ein unteres Centralrohr. Zwischen beiden stehen die Extre-
mitäten, einerseits die Hauptträger der Bewegung, anderseits die Re-
präsentanten eines eigenen Sinnes. Bei den Wirbellosen sind die
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Valentin, Gabriel Gustav: Handbuch der Entwicklungsgeschichte des Menschen mit vergleichender Rücksicht der Entwicklung der Säugetiere und Vögel. Berlin, 1835, S. 607. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/valentin_entwicklungsgeschichte_1835/635>, abgerufen am 22.11.2024.
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