zuerst hingefahren, bewohnte er nach langen Jahren noch dasselbe Zimmer im zweiten Stock, das er nie verschloß und immer seltener verließ. Ohne alle Be¬ dienung, umgeben von spärlichem, zerfallendem Haus¬ rath, in zerrissener Kleidung, mit allem Zubehör einer cynischen Gewöhnung, empfing er, Diogenes von Paris, wie er scherzend selbst sich nannte, in seiner Tonne täg¬ lich zahllose Besuche von Menschen aller Stände und aller Nationen, willig jede Arbeit sogleich unterbrechend, und jedem Gespräche, das auf die Bahn kam, mit allem Reichthum seines Innern sich hingebend. Keine Rücksicht konnte ihn hemmen, selbst dem unbescheidenen Frager gab er, wenn auch unwillig, die ergiebigste Aus¬ kunft; häufiger freilich kam er den Fragen zuvor; zu¬ weilen vier, ja fünf und sechs Stunden lang konnte er ununterbrochen, im schönsten Gedankenzusammen¬ hange, mit beweglichster Einbildungskraft und mit stei¬ gendem Reiz, durch seine reiche Rede den Hörer fesseln, über die Stunden durch die Annehmlichkeit der Mit¬ theilung täuschend; man erzählt, daß er, am frühen Abend mit dem Lichte in der Hand einen Freund (Wil¬ helm von Humboldt) zur Treppe geleitend, mit dem¬ selben am hellen Tage noch im Gespräch begriffen an solcher Stelle gefunden worden. In seiner Offenheit verhehlte er selbst den abgeschickten Spähern, die ihn zu Zeiten aufsuchten, seine Gesinnung und Denkart nicht; ein solcher Mann, der frei und grade seinen
zuerſt hingefahren, bewohnte er nach langen Jahren noch daſſelbe Zimmer im zweiten Stock, das er nie verſchloß und immer ſeltener verließ. Ohne alle Be¬ dienung, umgeben von ſpaͤrlichem, zerfallendem Haus¬ rath, in zerriſſener Kleidung, mit allem Zubehoͤr einer cyniſchen Gewoͤhnung, empfing er, Diogenes von Paris, wie er ſcherzend ſelbſt ſich nannte, in ſeiner Tonne taͤg¬ lich zahlloſe Beſuche von Menſchen aller Staͤnde und aller Nationen, willig jede Arbeit ſogleich unterbrechend, und jedem Geſpraͤche, das auf die Bahn kam, mit allem Reichthum ſeines Innern ſich hingebend. Keine Ruͤckſicht konnte ihn hemmen, ſelbſt dem unbeſcheidenen Frager gab er, wenn auch unwillig, die ergiebigſte Aus¬ kunft; haͤufiger freilich kam er den Fragen zuvor; zu¬ weilen vier, ja fuͤnf und ſechs Stunden lang konnte er ununterbrochen, im ſchoͤnſten Gedankenzuſammen¬ hange, mit beweglichſter Einbildungskraft und mit ſtei¬ gendem Reiz, durch ſeine reiche Rede den Hoͤrer feſſeln, uͤber die Stunden durch die Annehmlichkeit der Mit¬ theilung taͤuſchend; man erzaͤhlt, daß er, am fruͤhen Abend mit dem Lichte in der Hand einen Freund (Wil¬ helm von Humboldt) zur Treppe geleitend, mit dem¬ ſelben am hellen Tage noch im Geſpraͤch begriffen an ſolcher Stelle gefunden worden. In ſeiner Offenheit verhehlte er ſelbſt den abgeſchickten Spaͤhern, die ihn zu Zeiten aufſuchten, ſeine Geſinnung und Denkart nicht; ein ſolcher Mann, der frei und grade ſeinen
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zuerſt hingefahren, bewohnte er nach langen Jahren
noch daſſelbe Zimmer im zweiten Stock, das er nie
verſchloß und immer ſeltener verließ. Ohne alle Be¬
dienung, umgeben von ſpaͤrlichem, zerfallendem Haus¬
rath, in zerriſſener Kleidung, mit allem Zubehoͤr einer
cyniſchen Gewoͤhnung, empfing er, Diogenes von Paris,
wie er ſcherzend ſelbſt ſich nannte, in ſeiner Tonne taͤg¬
lich zahlloſe Beſuche von Menſchen aller Staͤnde und
aller Nationen, willig jede Arbeit ſogleich unterbrechend,
und jedem Geſpraͤche, das auf die Bahn kam, mit
allem Reichthum ſeines Innern ſich hingebend. Keine
Ruͤckſicht konnte ihn hemmen, ſelbſt dem unbeſcheidenen
Frager gab er, wenn auch unwillig, die ergiebigſte Aus¬
kunft; haͤufiger freilich kam er den Fragen zuvor; zu¬
weilen vier, ja fuͤnf und ſechs Stunden lang konnte
er ununterbrochen, im ſchoͤnſten Gedankenzuſammen¬
hange, mit beweglichſter Einbildungskraft und mit ſtei¬
gendem Reiz, durch ſeine reiche Rede den Hoͤrer feſſeln,
uͤber die Stunden durch die Annehmlichkeit der Mit¬
theilung taͤuſchend; man erzaͤhlt, daß er, am fruͤhen
Abend mit dem Lichte in der Hand einen Freund (Wil¬
helm von Humboldt) zur Treppe geleitend, mit dem¬
ſelben am hellen Tage noch im Geſpraͤch begriffen an
ſolcher Stelle gefunden worden. In ſeiner Offenheit
verhehlte er ſelbſt den abgeſchickten Spaͤhern, die ihn
zu Zeiten aufſuchten, ſeine Geſinnung und Denkart
nicht; ein ſolcher Mann, der frei und grade ſeinen
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Varnhagen von Ense, Karl August: Denkwürdigkeiten und vermischte Schriften. Bd. 1. Mannheim, 1837, S. 153. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_denkwuerdigkeiten01_1837/167>, abgerufen am 23.11.2024.
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