daß mein Schulmeister, als ich die Evangelien auswen¬ dig lernen sollte, und sie ihm hersagte, oft ärgerlich ausrief: "So spricht er ohne Anstoß fort, und lauter andere Worte, als im Buche stehen." Während ich noch in die gewöhnliche Schule ging, erhielt ich Unter¬ richt in der lateinischen Sprache, und kam in meinem neunten Jahre in die zweite Klasse der lateinischen Schüler, wie man in Nürnberg die öffentliche Schule, auf welcher sich die Jünglinge zur Beziehung der Uni¬ versität vorbereiten sollen, nennt; die erste Klasse ist die, von der man auf die Universität geht, und, so viel ich weiß, zählt man auf allen protestantischen Schulen so, da hingegen auf der katholischen Schule die erste Klasse (infima) die entfernteste von der Universität ist. Woher mag diese verschiedene Art zu zählen kommen? sollte es auch von den Protestanten zum Unterscheidungs¬ zeichen von den Katholiken geschehen sein, wie die ersten Christen den ersten Wochentag zum Sabbath machten? In dieser Klasse wurde ich, da ich der jüngste war, der vielleicht je darin wer, nicht der Erste, und es wurde mir daher von Andern vorübersetzt; dies war die Ursache, daß ich in der Latinität nicht die geringsten Fortschritte machte, denn mein gutes Gedächtniß ließ mich das völlig behalten, was ich einmal gehört hatte, und so ersparte ich mir die Mühe, zu übersetzen, und sagte bloß, obgleich nicht ganz wörtlich, nach. Etwas von der griechischen Sprache, welche meine Aufmerksam¬
daß mein Schulmeiſter, als ich die Evangelien auswen¬ dig lernen ſollte, und ſie ihm herſagte, oft aͤrgerlich ausrief: „So ſpricht er ohne Anſtoß fort, und lauter andere Worte, als im Buche ſtehen.“ Waͤhrend ich noch in die gewoͤhnliche Schule ging, erhielt ich Unter¬ richt in der lateiniſchen Sprache, und kam in meinem neunten Jahre in die zweite Klaſſe der lateiniſchen Schuͤler, wie man in Nuͤrnberg die oͤffentliche Schule, auf welcher ſich die Juͤnglinge zur Beziehung der Uni¬ verſitaͤt vorbereiten ſollen, nennt; die erſte Klaſſe iſt die, von der man auf die Univerſitaͤt geht, und, ſo viel ich weiß, zaͤhlt man auf allen proteſtantiſchen Schulen ſo, da hingegen auf der katholiſchen Schule die erſte Klaſſe (infima) die entfernteſte von der Univerſitaͤt iſt. Woher mag dieſe verſchiedene Art zu zaͤhlen kommen? ſollte es auch von den Proteſtanten zum Unterſcheidungs¬ zeichen von den Katholiken geſchehen ſein, wie die erſten Chriſten den erſten Wochentag zum Sabbath machten? In dieſer Klaſſe wurde ich, da ich der juͤngſte war, der vielleicht je darin wer, nicht der Erſte, und es wurde mir daher von Andern voruͤberſetzt; dies war die Urſache, daß ich in der Latinitaͤt nicht die geringſten Fortſchritte machte, denn mein gutes Gedaͤchtniß ließ mich das voͤllig behalten, was ich einmal gehoͤrt hatte, und ſo erſparte ich mir die Muͤhe, zu uͤberſetzen, und ſagte bloß, obgleich nicht ganz woͤrtlich, nach. Etwas von der griechiſchen Sprache, welche meine Aufmerkſam¬
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daß mein Schulmeiſter, als ich die Evangelien auswen¬
dig lernen ſollte, und ſie ihm herſagte, oft aͤrgerlich
ausrief: „So ſpricht er ohne Anſtoß fort, und lauter
andere Worte, als im Buche ſtehen.“ Waͤhrend ich
noch in die gewoͤhnliche Schule ging, erhielt ich Unter¬
richt in der lateiniſchen Sprache, und kam in meinem
neunten Jahre in die zweite Klaſſe der lateiniſchen
Schuͤler, wie man in Nuͤrnberg die oͤffentliche Schule,
auf welcher ſich die Juͤnglinge zur Beziehung der Uni¬
verſitaͤt vorbereiten ſollen, nennt; die erſte Klaſſe iſt
die, von der man auf die Univerſitaͤt geht, und, ſo viel
ich weiß, zaͤhlt man auf allen proteſtantiſchen Schulen
ſo, da hingegen auf der katholiſchen Schule die erſte
Klaſſe (infima) die entfernteſte von der Univerſitaͤt iſt.
Woher mag dieſe verſchiedene Art zu zaͤhlen kommen?
ſollte es auch von den Proteſtanten zum Unterſcheidungs¬
zeichen von den Katholiken geſchehen ſein, wie die erſten
Chriſten den erſten Wochentag zum Sabbath machten?
In dieſer Klaſſe wurde ich, da ich der juͤngſte war,
der vielleicht je darin wer, nicht der Erſte, und es
wurde mir daher von Andern voruͤberſetzt; dies war die
Urſache, daß ich in der Latinitaͤt nicht die geringſten
Fortſchritte machte, denn mein gutes Gedaͤchtniß ließ
mich das voͤllig behalten, was ich einmal gehoͤrt hatte,
und ſo erſparte ich mir die Muͤhe, zu uͤberſetzen, und
ſagte bloß, obgleich nicht ganz woͤrtlich, nach. Etwas
von der griechiſchen Sprache, welche meine Aufmerkſam¬
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Varnhagen von Ense, Karl August: Denkwürdigkeiten und vermischte Schriften. Bd. 1. Mannheim, 1837, S. 219. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_denkwuerdigkeiten01_1837/233>, abgerufen am 25.11.2024.
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