Wir finden unter andern einige merkwürdige Aeuße¬ rungen über Voltaire, über die Größe und Bedeutung seines Wirkens, die Macht seines Dastehens, die Eigen¬ heit seiner Natur und die Vollkommenheit seines Ta¬ lents. Die Anekdote, wie Voltaire vor dem Einsteigen in den Wagen auf Verlangen von Kloster-Pensionnai¬ rinnen noch schnell in allerliebsten Versen einen Prolog zur beabsichtigten Aufführung eines seiner Trauerspiele zu Papier gebracht, giebt den schönsten Beweis seiner Fertigkeit, seiner Geistesfülle und Gegenwart. Wenn jedoch Goethe von ihm rühmt, er habe in seinem un¬ aufhörlichen Schriftverkehr mit hohen und höchsten Per¬ sonen nie das rechte Maß verletzt und die zarteste Schicklichkeit stets beobachtet, so müssen wir einigen Widerspruch erheben. Voltaire'n sind manche starke Uebertretungen vorzuwerfen, besonders in seinem Brief¬ wechsel mit Friedrich dem Großen, worüber im Allge¬ meinen das treffliche Werk von Preuß nachzusehen ist. Freilich gehen Voltaire's Uebertretungen nicht aus Plump¬ heit oder Unwissenheit hervor, er fehlt nicht gerade aus Mangel an Takt, oder weil er sich aus Irrthum ver¬ greift: es ist vielmehr mit Bewußtsein und Absicht, daß er seine freien Schalkheiten und verwegenen Neckereien übt, es ist der Uebermuth des Talents und seiner Stel¬ lung, der ihn antreibt, wie dies heutigen Tages von Heine gesagt werden kann, dessen Grobheiten niemals
31 *
6.
Wir finden unter andern einige merkwuͤrdige Aeuße¬ rungen uͤber Voltaire, uͤber die Groͤße und Bedeutung ſeines Wirkens, die Macht ſeines Daſtehens, die Eigen¬ heit ſeiner Natur und die Vollkommenheit ſeines Ta¬ lents. Die Anekdote, wie Voltaire vor dem Einſteigen in den Wagen auf Verlangen von Kloſter-Penſionnai¬ rinnen noch ſchnell in allerliebſten Verſen einen Prolog zur beabſichtigten Auffuͤhrung eines ſeiner Trauerſpiele zu Papier gebracht, giebt den ſchoͤnſten Beweis ſeiner Fertigkeit, ſeiner Geiſtesfuͤlle und Gegenwart. Wenn jedoch Goethe von ihm ruͤhmt, er habe in ſeinem un¬ aufhoͤrlichen Schriftverkehr mit hohen und hoͤchſten Per¬ ſonen nie das rechte Maß verletzt und die zarteſte Schicklichkeit ſtets beobachtet, ſo muͤſſen wir einigen Widerſpruch erheben. Voltaire'n ſind manche ſtarke Uebertretungen vorzuwerfen, beſonders in ſeinem Brief¬ wechſel mit Friedrich dem Großen, woruͤber im Allge¬ meinen das treffliche Werk von Preuß nachzuſehen iſt. Freilich gehen Voltaire's Uebertretungen nicht aus Plump¬ heit oder Unwiſſenheit hervor, er fehlt nicht gerade aus Mangel an Takt, oder weil er ſich aus Irrthum ver¬ greift: es iſt vielmehr mit Bewußtſein und Abſicht, daß er ſeine freien Schalkheiten und verwegenen Neckereien uͤbt, es iſt der Uebermuth des Talents und ſeiner Stel¬ lung, der ihn antreibt, wie dies heutigen Tages von Heine geſagt werden kann, deſſen Grobheiten niemals
31 *
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><pbfacs="#f0497"n="483"/></div><divn="3"><head><hirendition="#b">6</hi>.<lb/></head><p>Wir finden unter andern einige merkwuͤrdige Aeuße¬<lb/>
rungen uͤber Voltaire, uͤber die Groͤße und Bedeutung<lb/>ſeines Wirkens, die Macht ſeines Daſtehens, die Eigen¬<lb/>
heit ſeiner Natur und die Vollkommenheit ſeines Ta¬<lb/>
lents. Die Anekdote, wie Voltaire vor dem Einſteigen<lb/>
in den Wagen auf Verlangen von Kloſter-Penſionnai¬<lb/>
rinnen noch ſchnell in allerliebſten Verſen einen Prolog<lb/>
zur beabſichtigten Auffuͤhrung eines ſeiner Trauerſpiele<lb/>
zu Papier gebracht, giebt den ſchoͤnſten Beweis ſeiner<lb/>
Fertigkeit, ſeiner Geiſtesfuͤlle und Gegenwart. Wenn<lb/>
jedoch Goethe von ihm ruͤhmt, er habe in ſeinem un¬<lb/>
aufhoͤrlichen Schriftverkehr mit hohen und hoͤchſten Per¬<lb/>ſonen nie das rechte Maß verletzt und die zarteſte<lb/>
Schicklichkeit ſtets beobachtet, ſo muͤſſen wir einigen<lb/>
Widerſpruch erheben. Voltaire'n ſind manche ſtarke<lb/>
Uebertretungen vorzuwerfen, beſonders in ſeinem Brief¬<lb/>
wechſel mit Friedrich dem Großen, woruͤber im Allge¬<lb/>
meinen das treffliche Werk von Preuß nachzuſehen iſt.<lb/>
Freilich gehen Voltaire's Uebertretungen nicht aus Plump¬<lb/>
heit oder Unwiſſenheit hervor, er fehlt nicht gerade aus<lb/>
Mangel an Takt, oder weil er ſich aus Irrthum ver¬<lb/>
greift: es iſt vielmehr mit Bewußtſein und Abſicht, daß<lb/>
er ſeine freien Schalkheiten und verwegenen Neckereien<lb/>
uͤbt, es iſt der Uebermuth des Talents und ſeiner Stel¬<lb/>
lung, der ihn antreibt, wie dies heutigen Tages von<lb/>
Heine geſagt werden kann, deſſen Grobheiten niemals<lb/><fwplace="bottom"type="sig"><hirendition="#b">31</hi> *<lb/></fw></p></div></div></div></body></text></TEI>
[483/0497]
6.
Wir finden unter andern einige merkwuͤrdige Aeuße¬
rungen uͤber Voltaire, uͤber die Groͤße und Bedeutung
ſeines Wirkens, die Macht ſeines Daſtehens, die Eigen¬
heit ſeiner Natur und die Vollkommenheit ſeines Ta¬
lents. Die Anekdote, wie Voltaire vor dem Einſteigen
in den Wagen auf Verlangen von Kloſter-Penſionnai¬
rinnen noch ſchnell in allerliebſten Verſen einen Prolog
zur beabſichtigten Auffuͤhrung eines ſeiner Trauerſpiele
zu Papier gebracht, giebt den ſchoͤnſten Beweis ſeiner
Fertigkeit, ſeiner Geiſtesfuͤlle und Gegenwart. Wenn
jedoch Goethe von ihm ruͤhmt, er habe in ſeinem un¬
aufhoͤrlichen Schriftverkehr mit hohen und hoͤchſten Per¬
ſonen nie das rechte Maß verletzt und die zarteſte
Schicklichkeit ſtets beobachtet, ſo muͤſſen wir einigen
Widerſpruch erheben. Voltaire'n ſind manche ſtarke
Uebertretungen vorzuwerfen, beſonders in ſeinem Brief¬
wechſel mit Friedrich dem Großen, woruͤber im Allge¬
meinen das treffliche Werk von Preuß nachzuſehen iſt.
Freilich gehen Voltaire's Uebertretungen nicht aus Plump¬
heit oder Unwiſſenheit hervor, er fehlt nicht gerade aus
Mangel an Takt, oder weil er ſich aus Irrthum ver¬
greift: es iſt vielmehr mit Bewußtſein und Abſicht, daß
er ſeine freien Schalkheiten und verwegenen Neckereien
uͤbt, es iſt der Uebermuth des Talents und ſeiner Stel¬
lung, der ihn antreibt, wie dies heutigen Tages von
Heine geſagt werden kann, deſſen Grobheiten niemals
31 *
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend
gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien
von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem
DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.
Varnhagen von Ense, Karl August: Denkwürdigkeiten und vermischte Schriften. Bd. 1. Mannheim, 1837, S. 483. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_denkwuerdigkeiten01_1837/497>, abgerufen am 22.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.