Fülle der Welt wie in den Tiefen der Seele heimischen Menschen darlegt. Wenn zuweilen die ordnende Kunst und die Maßverhältnisse des Meisters vermißt wer¬ den, -- wie dies besonders in dem allzu starken Ge¬ brauche des Zufalls häufig eintritt, -- so fehlen doch Talent und Anmuth nicht, und das Ganze durchblitzen unzählige feine Züge der schärfsten Beobachtung, die treffendsten Bemerkungen, die geistreichsten und gewich¬ tigsten Betrachtungen. Selbst für die politische Beur¬ theilung des heutigen Frankreichs gewährt das Buch eine schätzenswerthe Ausbeute, und es ist wohlthuend, dieses Land nebst seinen Zuständen einmal aus dem Standpunkt einer eigenthümlichen Gemüthsart betrachtet zu sehen.
Hr. von Custine kennt Deutschland und seine Litte¬ ratur. An einer Stelle seines Buches werden die Wahl¬ verwandtschaften von Goethe angeführt, jedoch mit einem Mißverstande, der freilich auch in Deutschland noch oft genug vorkommt. Er meint nämlich, der Goethe'sche Roman lehre die Auflösung der Ehe und vernichte deren Heiligkeit. Dies ist allerdings der Stoff des Buches; aber nicht sein Inhalt. Wann wird man diese Ver¬ wechslung aufhören sehen? Wäre er richtig, wäre es erlaubt, den Inhalt lediglich nach dem Stoffe zu deu¬ ten, welches Verdammungsurtheil würde Hr. von Custine gegen sein eignes Buch auszusprechen haben? Wir sind weit entfernt, diesem solche Mißdeutung zu geben, wie
Fuͤlle der Welt wie in den Tiefen der Seele heimiſchen Menſchen darlegt. Wenn zuweilen die ordnende Kunſt und die Maßverhaͤltniſſe des Meiſters vermißt wer¬ den, — wie dies beſonders in dem allzu ſtarken Ge¬ brauche des Zufalls haͤufig eintritt, — ſo fehlen doch Talent und Anmuth nicht, und das Ganze durchblitzen unzaͤhlige feine Zuͤge der ſchaͤrfſten Beobachtung, die treffendſten Bemerkungen, die geiſtreichſten und gewich¬ tigſten Betrachtungen. Selbſt fuͤr die politiſche Beur¬ theilung des heutigen Frankreichs gewaͤhrt das Buch eine ſchaͤtzenswerthe Ausbeute, und es iſt wohlthuend, dieſes Land nebſt ſeinen Zuſtaͤnden einmal aus dem Standpunkt einer eigenthuͤmlichen Gemuͤthsart betrachtet zu ſehen.
Hr. von Cuſtine kennt Deutſchland und ſeine Litte¬ ratur. An einer Stelle ſeines Buches werden die Wahl¬ verwandtſchaften von Goethe angefuͤhrt, jedoch mit einem Mißverſtande, der freilich auch in Deutſchland noch oft genug vorkommt. Er meint naͤmlich, der Goethe’ſche Roman lehre die Aufloͤſung der Ehe und vernichte deren Heiligkeit. Dies iſt allerdings der Stoff des Buches; aber nicht ſein Inhalt. Wann wird man dieſe Ver¬ wechslung aufhoͤren ſehen? Waͤre er richtig, waͤre es erlaubt, den Inhalt lediglich nach dem Stoffe zu deu¬ ten, welches Verdammungsurtheil wuͤrde Hr. von Cuſtine gegen ſein eignes Buch auszuſprechen haben? Wir ſind weit entfernt, dieſem ſolche Mißdeutung zu geben, wie
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Fuͤlle der Welt wie in den Tiefen der Seele heimiſchen
Menſchen darlegt. Wenn zuweilen die ordnende Kunſt
und die Maßverhaͤltniſſe des Meiſters vermißt wer¬
den, — wie dies beſonders in dem allzu ſtarken Ge¬
brauche des Zufalls haͤufig eintritt, — ſo fehlen doch
Talent und Anmuth nicht, und das Ganze durchblitzen
unzaͤhlige feine Zuͤge der ſchaͤrfſten Beobachtung, die
treffendſten Bemerkungen, die geiſtreichſten und gewich¬
tigſten Betrachtungen. Selbſt fuͤr die politiſche Beur¬
theilung des heutigen Frankreichs gewaͤhrt das Buch
eine ſchaͤtzenswerthe Ausbeute, und es iſt wohlthuend,
dieſes Land nebſt ſeinen Zuſtaͤnden einmal aus dem
Standpunkt einer eigenthuͤmlichen Gemuͤthsart betrachtet
zu ſehen.
Hr. von Cuſtine kennt Deutſchland und ſeine Litte¬
ratur. An einer Stelle ſeines Buches werden die Wahl¬
verwandtſchaften von Goethe angefuͤhrt, jedoch mit einem
Mißverſtande, der freilich auch in Deutſchland noch oft
genug vorkommt. Er meint naͤmlich, der Goethe’ſche
Roman lehre die Aufloͤſung der Ehe und vernichte deren
Heiligkeit. Dies iſt allerdings der Stoff des Buches;
aber nicht ſein Inhalt. Wann wird man dieſe Ver¬
wechslung aufhoͤren ſehen? Waͤre er richtig, waͤre es
erlaubt, den Inhalt lediglich nach dem Stoffe zu deu¬
ten, welches Verdammungsurtheil wuͤrde Hr. von Cuſtine
gegen ſein eignes Buch auszuſprechen haben? Wir ſind
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Varnhagen von Ense, Karl August: Denkwürdigkeiten und vermischte Schriften. Bd. 2. Mannheim, 1837, S. 454. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_denkwuerdigkeiten02_1837/468>, abgerufen am 22.11.2024.
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