Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Varnhagen von Ense, Karl August: Denkwürdigkeiten und vermischte Schriften. Bd. 3. Mannheim, 1838.

Bild:
<< vorherige Seite

das eines Kindes an, das ich an einem jener Orte
kennen lernte. Die Mutter war eine Edeldame aus
dem Münster'schen, der Vater ein französischer Emi¬
grant, der jene verführt hatte, beide waren davonge¬
gangen, und das Kind von der Aebtissin aus Mitleid
aufgenommen worden. Bei dem vornehmen und stren¬
gen alten Fräulein galt aber die Erziehungsweise, welche
Häring in seinem Cabanis so lebendig zu schildern ge¬
wußt; das kleine, zarte Mädchen wurde mit äußerster
Härte behandelt, mußte angestrengt arbeiten, bekam
nicht satt zu essen, und erlitt bei dem geringsten Ver¬
sehen die grausamsten Strafen; oft blieb es Tage lang
an einem finstern Ort eingesperrt. Ursprünglich von
lebhaftem Naturell, war das arme Luischen doch schon
so abgemüdet, daß es der härtesten Strafen gar nicht
mehr achtete, sondern sie mit dumpfer Gleichgültigkeit
als unvermeidliches Geschick hinnahm. Um seinen Hun¬
ger zu stillen, stahl es freilich bei jeder Gelegenheit
Brot, Zwieback und dergleichen, doch ohne andere Sa¬
chen, als nur Eßwaaren anzutasten. Mehrmals war
es schon fortgelaufen, aber immer bald wieder entdeckt
und zurückgebracht worden, um die strengste Bestrafung
zu erleiden. Dabei klagte dann die Aebtissin, die sich
gegen das Kind selbst und gegen Fremde immer einer
abgöttischen Liebe für dasselbe rühmte, über die schwär¬
zeste Undankbarkeit, eingeborne Bosheit und tückischen
Trotz. Ich sah das arme Kind, das mir im voraus

das eines Kindes an, das ich an einem jener Orte
kennen lernte. Die Mutter war eine Edeldame aus
dem Muͤnſter'ſchen, der Vater ein franzoͤſiſcher Emi¬
grant, der jene verfuͤhrt hatte, beide waren davonge¬
gangen, und das Kind von der Aebtiſſin aus Mitleid
aufgenommen worden. Bei dem vornehmen und ſtren¬
gen alten Fraͤulein galt aber die Erziehungsweiſe, welche
Haͤring in ſeinem Cabanis ſo lebendig zu ſchildern ge¬
wußt; das kleine, zarte Maͤdchen wurde mit aͤußerſter
Haͤrte behandelt, mußte angeſtrengt arbeiten, bekam
nicht ſatt zu eſſen, und erlitt bei dem geringſten Ver¬
ſehen die grauſamſten Strafen; oft blieb es Tage lang
an einem finſtern Ort eingeſperrt. Urſpruͤnglich von
lebhaftem Naturell, war das arme Luischen doch ſchon
ſo abgemuͤdet, daß es der haͤrteſten Strafen gar nicht
mehr achtete, ſondern ſie mit dumpfer Gleichguͤltigkeit
als unvermeidliches Geſchick hinnahm. Um ſeinen Hun¬
ger zu ſtillen, ſtahl es freilich bei jeder Gelegenheit
Brot, Zwieback und dergleichen, doch ohne andere Sa¬
chen, als nur Eßwaaren anzutaſten. Mehrmals war
es ſchon fortgelaufen, aber immer bald wieder entdeckt
und zuruͤckgebracht worden, um die ſtrengſte Beſtrafung
zu erleiden. Dabei klagte dann die Aebtiſſin, die ſich
gegen das Kind ſelbſt und gegen Fremde immer einer
abgoͤttiſchen Liebe fuͤr daſſelbe ruͤhmte, uͤber die ſchwaͤr¬
zeſte Undankbarkeit, eingeborne Bosheit und tuͤckiſchen
Trotz. Ich ſah das arme Kind, das mir im voraus

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0150" n="138"/>
das eines Kindes an, das ich an einem jener Orte<lb/>
kennen lernte. Die Mutter war eine Edeldame aus<lb/>
dem Mu&#x0364;n&#x017F;ter'&#x017F;chen, der Vater ein franzo&#x0364;&#x017F;i&#x017F;cher Emi¬<lb/>
grant, der jene verfu&#x0364;hrt hatte, beide waren davonge¬<lb/>
gangen, und das Kind von der Aebti&#x017F;&#x017F;in aus Mitleid<lb/>
aufgenommen worden. Bei dem vornehmen und &#x017F;tren¬<lb/>
gen alten Fra&#x0364;ulein galt aber die Erziehungswei&#x017F;e, welche<lb/>
Ha&#x0364;ring in &#x017F;einem Cabanis &#x017F;o lebendig zu &#x017F;childern ge¬<lb/>
wußt; das kleine, zarte Ma&#x0364;dchen wurde mit a&#x0364;ußer&#x017F;ter<lb/>
Ha&#x0364;rte behandelt, mußte ange&#x017F;trengt arbeiten, bekam<lb/>
nicht &#x017F;att zu e&#x017F;&#x017F;en, und erlitt bei dem gering&#x017F;ten Ver¬<lb/>
&#x017F;ehen die grau&#x017F;am&#x017F;ten Strafen; oft blieb es Tage lang<lb/>
an einem fin&#x017F;tern Ort einge&#x017F;perrt. Ur&#x017F;pru&#x0364;nglich von<lb/>
lebhaftem Naturell, war das arme Luischen doch &#x017F;chon<lb/>
&#x017F;o abgemu&#x0364;det, daß es der ha&#x0364;rte&#x017F;ten Strafen gar nicht<lb/>
mehr achtete, &#x017F;ondern &#x017F;ie mit dumpfer Gleichgu&#x0364;ltigkeit<lb/>
als unvermeidliches Ge&#x017F;chick hinnahm. Um &#x017F;einen Hun¬<lb/>
ger zu &#x017F;tillen, &#x017F;tahl es freilich bei jeder Gelegenheit<lb/>
Brot, Zwieback und dergleichen, doch ohne andere Sa¬<lb/>
chen, als nur Eßwaaren anzuta&#x017F;ten. Mehrmals war<lb/>
es &#x017F;chon fortgelaufen, aber immer bald wieder entdeckt<lb/>
und zuru&#x0364;ckgebracht worden, um die &#x017F;treng&#x017F;te Be&#x017F;trafung<lb/>
zu erleiden. Dabei klagte dann die Aebti&#x017F;&#x017F;in, die &#x017F;ich<lb/>
gegen das Kind &#x017F;elb&#x017F;t und gegen Fremde immer einer<lb/>
abgo&#x0364;tti&#x017F;chen Liebe fu&#x0364;r da&#x017F;&#x017F;elbe ru&#x0364;hmte, u&#x0364;ber die &#x017F;chwa&#x0364;<lb/>
ze&#x017F;te Undankbarkeit, eingeborne Bosheit und tu&#x0364;cki&#x017F;chen<lb/>
Trotz. Ich &#x017F;ah das arme Kind, das mir im voraus<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[138/0150] das eines Kindes an, das ich an einem jener Orte kennen lernte. Die Mutter war eine Edeldame aus dem Muͤnſter'ſchen, der Vater ein franzoͤſiſcher Emi¬ grant, der jene verfuͤhrt hatte, beide waren davonge¬ gangen, und das Kind von der Aebtiſſin aus Mitleid aufgenommen worden. Bei dem vornehmen und ſtren¬ gen alten Fraͤulein galt aber die Erziehungsweiſe, welche Haͤring in ſeinem Cabanis ſo lebendig zu ſchildern ge¬ wußt; das kleine, zarte Maͤdchen wurde mit aͤußerſter Haͤrte behandelt, mußte angeſtrengt arbeiten, bekam nicht ſatt zu eſſen, und erlitt bei dem geringſten Ver¬ ſehen die grauſamſten Strafen; oft blieb es Tage lang an einem finſtern Ort eingeſperrt. Urſpruͤnglich von lebhaftem Naturell, war das arme Luischen doch ſchon ſo abgemuͤdet, daß es der haͤrteſten Strafen gar nicht mehr achtete, ſondern ſie mit dumpfer Gleichguͤltigkeit als unvermeidliches Geſchick hinnahm. Um ſeinen Hun¬ ger zu ſtillen, ſtahl es freilich bei jeder Gelegenheit Brot, Zwieback und dergleichen, doch ohne andere Sa¬ chen, als nur Eßwaaren anzutaſten. Mehrmals war es ſchon fortgelaufen, aber immer bald wieder entdeckt und zuruͤckgebracht worden, um die ſtrengſte Beſtrafung zu erleiden. Dabei klagte dann die Aebtiſſin, die ſich gegen das Kind ſelbſt und gegen Fremde immer einer abgoͤttiſchen Liebe fuͤr daſſelbe ruͤhmte, uͤber die ſchwaͤr¬ zeſte Undankbarkeit, eingeborne Bosheit und tuͤckiſchen Trotz. Ich ſah das arme Kind, das mir im voraus

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_denkwuerdigkeiten03_1838
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_denkwuerdigkeiten03_1838/150
Zitationshilfe: Varnhagen von Ense, Karl August: Denkwürdigkeiten und vermischte Schriften. Bd. 3. Mannheim, 1838, S. 138. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_denkwuerdigkeiten03_1838/150>, abgerufen am 14.05.2024.