das eines Kindes an, das ich an einem jener Orte kennen lernte. Die Mutter war eine Edeldame aus dem Münster'schen, der Vater ein französischer Emi¬ grant, der jene verführt hatte, beide waren davonge¬ gangen, und das Kind von der Aebtissin aus Mitleid aufgenommen worden. Bei dem vornehmen und stren¬ gen alten Fräulein galt aber die Erziehungsweise, welche Häring in seinem Cabanis so lebendig zu schildern ge¬ wußt; das kleine, zarte Mädchen wurde mit äußerster Härte behandelt, mußte angestrengt arbeiten, bekam nicht satt zu essen, und erlitt bei dem geringsten Ver¬ sehen die grausamsten Strafen; oft blieb es Tage lang an einem finstern Ort eingesperrt. Ursprünglich von lebhaftem Naturell, war das arme Luischen doch schon so abgemüdet, daß es der härtesten Strafen gar nicht mehr achtete, sondern sie mit dumpfer Gleichgültigkeit als unvermeidliches Geschick hinnahm. Um seinen Hun¬ ger zu stillen, stahl es freilich bei jeder Gelegenheit Brot, Zwieback und dergleichen, doch ohne andere Sa¬ chen, als nur Eßwaaren anzutasten. Mehrmals war es schon fortgelaufen, aber immer bald wieder entdeckt und zurückgebracht worden, um die strengste Bestrafung zu erleiden. Dabei klagte dann die Aebtissin, die sich gegen das Kind selbst und gegen Fremde immer einer abgöttischen Liebe für dasselbe rühmte, über die schwär¬ zeste Undankbarkeit, eingeborne Bosheit und tückischen Trotz. Ich sah das arme Kind, das mir im voraus
das eines Kindes an, das ich an einem jener Orte kennen lernte. Die Mutter war eine Edeldame aus dem Muͤnſter'ſchen, der Vater ein franzoͤſiſcher Emi¬ grant, der jene verfuͤhrt hatte, beide waren davonge¬ gangen, und das Kind von der Aebtiſſin aus Mitleid aufgenommen worden. Bei dem vornehmen und ſtren¬ gen alten Fraͤulein galt aber die Erziehungsweiſe, welche Haͤring in ſeinem Cabanis ſo lebendig zu ſchildern ge¬ wußt; das kleine, zarte Maͤdchen wurde mit aͤußerſter Haͤrte behandelt, mußte angeſtrengt arbeiten, bekam nicht ſatt zu eſſen, und erlitt bei dem geringſten Ver¬ ſehen die grauſamſten Strafen; oft blieb es Tage lang an einem finſtern Ort eingeſperrt. Urſpruͤnglich von lebhaftem Naturell, war das arme Luischen doch ſchon ſo abgemuͤdet, daß es der haͤrteſten Strafen gar nicht mehr achtete, ſondern ſie mit dumpfer Gleichguͤltigkeit als unvermeidliches Geſchick hinnahm. Um ſeinen Hun¬ ger zu ſtillen, ſtahl es freilich bei jeder Gelegenheit Brot, Zwieback und dergleichen, doch ohne andere Sa¬ chen, als nur Eßwaaren anzutaſten. Mehrmals war es ſchon fortgelaufen, aber immer bald wieder entdeckt und zuruͤckgebracht worden, um die ſtrengſte Beſtrafung zu erleiden. Dabei klagte dann die Aebtiſſin, die ſich gegen das Kind ſelbſt und gegen Fremde immer einer abgoͤttiſchen Liebe fuͤr daſſelbe ruͤhmte, uͤber die ſchwaͤr¬ zeſte Undankbarkeit, eingeborne Bosheit und tuͤckiſchen Trotz. Ich ſah das arme Kind, das mir im voraus
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das eines Kindes an, das ich an einem jener Orte
kennen lernte. Die Mutter war eine Edeldame aus
dem Muͤnſter'ſchen, der Vater ein franzoͤſiſcher Emi¬
grant, der jene verfuͤhrt hatte, beide waren davonge¬
gangen, und das Kind von der Aebtiſſin aus Mitleid
aufgenommen worden. Bei dem vornehmen und ſtren¬
gen alten Fraͤulein galt aber die Erziehungsweiſe, welche
Haͤring in ſeinem Cabanis ſo lebendig zu ſchildern ge¬
wußt; das kleine, zarte Maͤdchen wurde mit aͤußerſter
Haͤrte behandelt, mußte angeſtrengt arbeiten, bekam
nicht ſatt zu eſſen, und erlitt bei dem geringſten Ver¬
ſehen die grauſamſten Strafen; oft blieb es Tage lang
an einem finſtern Ort eingeſperrt. Urſpruͤnglich von
lebhaftem Naturell, war das arme Luischen doch ſchon
ſo abgemuͤdet, daß es der haͤrteſten Strafen gar nicht
mehr achtete, ſondern ſie mit dumpfer Gleichguͤltigkeit
als unvermeidliches Geſchick hinnahm. Um ſeinen Hun¬
ger zu ſtillen, ſtahl es freilich bei jeder Gelegenheit
Brot, Zwieback und dergleichen, doch ohne andere Sa¬
chen, als nur Eßwaaren anzutaſten. Mehrmals war
es ſchon fortgelaufen, aber immer bald wieder entdeckt
und zuruͤckgebracht worden, um die ſtrengſte Beſtrafung
zu erleiden. Dabei klagte dann die Aebtiſſin, die ſich
gegen das Kind ſelbſt und gegen Fremde immer einer
abgoͤttiſchen Liebe fuͤr daſſelbe ruͤhmte, uͤber die ſchwaͤr¬
zeſte Undankbarkeit, eingeborne Bosheit und tuͤckiſchen
Trotz. Ich ſah das arme Kind, das mir im voraus
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Varnhagen von Ense, Karl August: Denkwürdigkeiten und vermischte Schriften. Bd. 3. Mannheim, 1838, S. 138. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_denkwuerdigkeiten03_1838/150>, abgerufen am 21.11.2024.
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