gelesen. Es ging ihnen wie uns. Man sollte sich nicht tren- nen! Drei sind schon todt: Gleim, und Heinse und Forster. Sie wollten sich immer sehn. Sie waren Männer; Gleim schon, wo ich jetzt lese, neunundsechszig Jahre alt; Müller sechsunddreißig, und wie sehnsüchtig, wie lebendig-feurig ihr Wunsch, sich zu sehen; und immer zunehmender. Auch sie interessirte Europa, und was für Menschen darin geschehen sollte, so lebhaft! Wie sie riethen und kombinirten! Vom Fürstenbund, von Joseph, von Friedrich Wilhelm, vom da- maligen Koadjutor Dalberg, von allen Gelehrten, ihren Wer- ken, den Kriegen; wie wahr, wie wahrscheinlich sah alles aus; wie jetzt! Ihre Herzen schlugen in unsäglicher Unruhe von Wunschesstürmen in ihrer Brust, wie unsere! auch wir wissen nichts; und können nur leben: und thun's nicht; wie sie. Einige wenige und zwanzig Jahre haben kluge Leute zu Nar- ren gemacht; und die uns preisgegebene erste Sandfläche der Erde scheint wirklich verändert. O! wie weint' ich über ihre Liebe: mit welcher Leidenschaft empfand ich ihre Sehnsucht, ihre stürmenden Wünsche mit! Ich hatte es nöthig, o Gott! auch ohne Gegenstand müßt' ich ewig fortlieben! Nun seh' ich es; es sind die geistigen Schläge meines Herzens, aber alle Herzen sind nicht so: das habe ich erst heute in meinem Kopfe erfahren. Den Unterschied habe ich in tausend Schmer- zen erlebt; auch gefühlt; aber nie genannt, und in meinem Geiste aufgestellt. Der mir so sehr bekannte Johannes Müller ist mir doch lieb geworden: man liebt so zärtlich, ängstlich, ehrenvoll keinen neunundsechszigjährigen Mann, wenn man nicht wacker ist: und aufhören kann das auch nicht. Und
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geleſen. Es ging ihnen wie uns. Man ſollte ſich nicht tren- nen! Drei ſind ſchon todt: Gleim, und Heinſe und Forſter. Sie wollten ſich immer ſehn. Sie waren Männer; Gleim ſchon, wo ich jetzt leſe, neunundſechszig Jahre alt; Müller ſechsunddreißig, und wie ſehnſüchtig, wie lebendig-feurig ihr Wunſch, ſich zu ſehen; und immer zunehmender. Auch ſie intereſſirte Europa, und was für Menſchen darin geſchehen ſollte, ſo lebhaft! Wie ſie riethen und kombinirten! Vom Fürſtenbund, von Joſeph, von Friedrich Wilhelm, vom da- maligen Koadjutor Dalberg, von allen Gelehrten, ihren Wer- ken, den Kriegen; wie wahr, wie wahrſcheinlich ſah alles aus; wie jetzt! Ihre Herzen ſchlugen in unſäglicher Unruhe von Wunſchesſtürmen in ihrer Bruſt, wie unſere! auch wir wiſſen nichts; und können nur leben: und thun’s nicht; wie ſie. Einige wenige und zwanzig Jahre haben kluge Leute zu Nar- ren gemacht; und die uns preisgegebene erſte Sandfläche der Erde ſcheint wirklich verändert. O! wie weint’ ich über ihre Liebe: mit welcher Leidenſchaft empfand ich ihre Sehnſucht, ihre ſtürmenden Wünſche mit! Ich hatte es nöthig, o Gott! auch ohne Gegenſtand müßt’ ich ewig fortlieben! Nun ſeh’ ich es; es ſind die geiſtigen Schläge meines Herzens, aber alle Herzen ſind nicht ſo: das habe ich erſt heute in meinem Kopfe erfahren. Den Unterſchied habe ich in tauſend Schmer- zen erlebt; auch gefühlt; aber nie genannt, und in meinem Geiſte aufgeſtellt. Der mir ſo ſehr bekannte Johannes Müller iſt mir doch lieb geworden: man liebt ſo zärtlich, ängſtlich, ehrenvoll keinen neunundſechszigjährigen Mann, wenn man nicht wacker iſt: und aufhören kann das auch nicht. Und
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geleſen. Es ging ihnen wie uns. Man ſollte ſich nicht tren-
nen! Drei ſind ſchon todt: Gleim, und Heinſe und Forſter.
Sie wollten ſich immer ſehn. Sie waren Männer; Gleim
ſchon, wo ich jetzt leſe, neunundſechszig Jahre alt; Müller
ſechsunddreißig, und wie ſehnſüchtig, wie lebendig-feurig ihr
Wunſch, ſich zu ſehen; und immer zunehmender. Auch ſie
intereſſirte Europa, und was für Menſchen darin geſchehen
ſollte, ſo lebhaft! Wie ſie riethen und kombinirten! Vom
Fürſtenbund, von Joſeph, von Friedrich Wilhelm, vom da-
maligen Koadjutor Dalberg, von allen Gelehrten, ihren Wer-
ken, den Kriegen; wie wahr, wie wahrſcheinlich ſah alles aus;
wie jetzt! Ihre Herzen ſchlugen in unſäglicher Unruhe von
Wunſchesſtürmen in ihrer Bruſt, wie unſere! auch wir wiſſen
nichts; und können nur leben: und thun’s nicht; wie ſie.
Einige wenige und zwanzig Jahre haben kluge Leute zu Nar-
ren gemacht; und die uns preisgegebene erſte Sandfläche der
Erde ſcheint wirklich verändert. O! wie weint’ ich über ihre
Liebe: mit welcher Leidenſchaft empfand ich ihre Sehnſucht,
ihre ſtürmenden Wünſche mit! Ich hatte es nöthig, o Gott!
auch ohne Gegenſtand müßt’ ich ewig fortlieben! Nun ſeh’
ich es; es ſind die geiſtigen Schläge meines Herzens, aber
alle Herzen ſind nicht ſo: das habe ich erſt heute in meinem
Kopfe erfahren. Den Unterſchied habe ich in tauſend Schmer-
zen erlebt; auch gefühlt; aber nie genannt, und in meinem
Geiſte aufgeſtellt. Der mir ſo ſehr bekannte Johannes Müller
iſt mir doch lieb geworden: man liebt ſo zärtlich, ängſtlich,
ehrenvoll keinen neunundſechszigjährigen Mann, wenn man
nicht wacker iſt: und aufhören kann das auch nicht. Und
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Varnhagen von Ense, Rahel: Rahel. Bd. 1. Berlin, 1834, S. 385. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_rahel01_1834/399>, abgerufen am 12.01.2025.
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