denn kein Mensch kann wissen, was ich alles gedacht habe diese Tage her, wie ich es mir selbst nicht mehr erinnre; kein Mensch kann wissen, durch welche wohlgeordnete -- wenn auch nicht ausgedachte -- Veranstaltung ich Schritt vor Schritt, in diese finstere rettungslose Mordfalle getrieben worden bin; ohne Hülfe, mit unendlicher! Gegenarbeit; Geduld, Kraft, Frommheit, Wuth, Wehre! (Giebt es eine Notiz von uns, in einem höheren reicheren Geist, so weiß der's.) Umsonst. Es ist geschehen! Wenn auch große Naturanlagen, Munter- keit, Lebendigkeit, Unglauben an das Äußerste! Scham, oft das Ansehen nehmen, als sei es anders mit mir, es ist geschehen, ich bin hin! und lebe um es zu fühlen. Glauben Sie nicht, daß ich dies so in grammatikalischen unverständli- chen Worten denke, ich fühle es jusqu'au vif! in jedem Augen- blick des Tages; keiner gestaltet sich natürlich, alle drückend, schmerzhaft. Und in welcher Organisation haust das Übel! in der gesundesten, feinsten. empfindlichsten, bewußtesten! Zuviel der Laute des eklen Unglücks! Wie kam ich nur dar- auf! Aber es ist richtig, ich kann ja das kleinste Benehmen nicht erklären, ohne dies. Ein paarmal im Leben schrollte mein Herz so zurück, daß ich den Tod berührte; es wußte -- das Bewußtvollste unseres ganzen Seins -- daß es zum Tod verdammt war. Frevlerweise blieb ich doch leben; und das ist mein Verbrechen, meine Sünde, mein Unrecht, meine Schmach; und Gottes harter großer Fluch, der mich hätte umfallen las- sen sollen. Ich ergeb' mich in den ewigsten Schmerz. Und sollte schweigen. Sie sehen, nur Zerstreuung, Leben, Bewe- gung, Hülfeleisten, Sehen, Eitelkeit, kann mich retten; bin
I. 36
denn kein Menſch kann wiſſen, was ich alles gedacht habe dieſe Tage her, wie ich es mir ſelbſt nicht mehr erinnre; kein Menſch kann wiſſen, durch welche wohlgeordnete — wenn auch nicht ausgedachte — Veranſtaltung ich Schritt vor Schritt, in dieſe finſtere rettungsloſe Mordfalle getrieben worden bin; ohne Hülfe, mit unendlicher! Gegenarbeit; Geduld, Kraft, Frommheit, Wuth, Wehre! (Giebt es eine Notiz von uns, in einem höheren reicheren Geiſt, ſo weiß der’s.) Umſonſt. Es iſt geſchehen! Wenn auch große Naturanlagen, Munter- keit, Lebendigkeit, Unglauben an das Äußerſte! Scham, oft das Anſehen nehmen, als ſei es anders mit mir, es iſt geſchehen, ich bin hin! und lebe um es zu fühlen. Glauben Sie nicht, daß ich dies ſo in grammatikaliſchen unverſtändli- chen Worten denke, ich fühle es jusqu’au vif! in jedem Augen- blick des Tages; keiner geſtaltet ſich natürlich, alle drückend, ſchmerzhaft. Und in welcher Organiſation hauſt das Übel! in der geſundeſten, feinſten. empfindlichſten, bewußteſten! Zuviel der Laute des eklen Unglücks! Wie kam ich nur dar- auf! Aber es iſt richtig, ich kann ja das kleinſte Benehmen nicht erklären, ohne dies. Ein paarmal im Leben ſchrollte mein Herz ſo zurück, daß ich den Tod berührte; es wußte — das Bewußtvollſte unſeres ganzen Seins — daß es zum Tod verdammt war. Frevlerweiſe blieb ich doch leben; und das iſt mein Verbrechen, meine Sünde, mein Unrecht, meine Schmach; und Gottes harter großer Fluch, der mich hätte umfallen laſ- ſen ſollen. Ich ergeb’ mich in den ewigſten Schmerz. Und ſollte ſchweigen. Sie ſehen, nur Zerſtreuung, Leben, Bewe- gung, Hülfeleiſten, Sehen, Eitelkeit, kann mich retten; bin
I. 36
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><p><pbfacs="#f0575"n="561"/>
denn kein Menſch kann wiſſen, was ich alles gedacht habe<lb/>
dieſe Tage her, wie ich es mir ſelbſt nicht mehr erinnre; kein<lb/>
Menſch kann wiſſen, durch welche wohlgeordnete — wenn auch<lb/>
nicht ausgedachte — Veranſtaltung ich Schritt vor Schritt, in<lb/>
dieſe finſtere rettungsloſe Mordfalle getrieben worden bin;<lb/>
ohne Hülfe, mit <hirendition="#g">unendlicher</hi>! Gegenarbeit; Geduld, Kraft,<lb/>
Frommheit, Wuth, Wehre! (Giebt es eine Notiz von uns,<lb/>
in einem höheren reicheren Geiſt, ſo weiß der’s.) Umſonſt.<lb/>
Es iſt geſchehen! Wenn auch große Naturanlagen, Munter-<lb/>
keit, Lebendigkeit, <hirendition="#g">Unglauben</hi> an das Äußerſte! <hirendition="#g">Scham</hi>,<lb/>
oft das Anſehen nehmen, als ſei es anders mit mir, es iſt<lb/>
geſchehen, ich bin hin! und <hirendition="#g">lebe</hi> um es zu fühlen. Glauben<lb/>
Sie nicht, daß ich dies ſo in grammatikaliſchen unverſtändli-<lb/>
chen Worten denke, ich fühle es <hirendition="#aq">jusqu’au <hirendition="#g">vif</hi>!</hi> in jedem Augen-<lb/>
blick des Tages; keiner geſtaltet ſich natürlich, alle drückend,<lb/>ſchmerzhaft. Und in <hirendition="#g">welcher</hi> Organiſation hauſt das Übel!<lb/>
in der geſundeſten, feinſten. empfindlichſten, <hirendition="#g">bewußteſten</hi>!<lb/>
Zuviel der Laute des eklen Unglücks! Wie kam ich nur dar-<lb/>
auf! Aber es iſt richtig, ich kann ja das kleinſte Benehmen<lb/>
nicht erklären, ohne dies. Ein paarmal im Leben ſchrollte<lb/>
mein Herz <hirendition="#g">ſo</hi> zurück, daß ich den Tod berührte; es wußte —<lb/>
das Bewußtvollſte unſeres ganzen Seins — daß es zum Tod<lb/>
verdammt war. Frevlerweiſe blieb ich <hirendition="#g">doch</hi> leben; und das<lb/>
iſt mein Verbrechen, meine Sünde, mein Unrecht, meine Schmach;<lb/>
und Gottes harter großer Fluch, der mich hätte umfallen laſ-<lb/>ſen ſollen. Ich ergeb’ mich in den ewigſten Schmerz. Und<lb/>ſollte ſchweigen. Sie <hirendition="#g">ſehen</hi>, nur Zerſtreuung, Leben, Bewe-<lb/>
gung, Hülfeleiſten, Sehen, Eitelkeit, kann mich retten; bin<lb/><fwplace="bottom"type="sig"><hirendition="#aq">I.</hi> 36</fw><lb/></p></div></div></div></body></text></TEI>
[561/0575]
denn kein Menſch kann wiſſen, was ich alles gedacht habe
dieſe Tage her, wie ich es mir ſelbſt nicht mehr erinnre; kein
Menſch kann wiſſen, durch welche wohlgeordnete — wenn auch
nicht ausgedachte — Veranſtaltung ich Schritt vor Schritt, in
dieſe finſtere rettungsloſe Mordfalle getrieben worden bin;
ohne Hülfe, mit unendlicher! Gegenarbeit; Geduld, Kraft,
Frommheit, Wuth, Wehre! (Giebt es eine Notiz von uns,
in einem höheren reicheren Geiſt, ſo weiß der’s.) Umſonſt.
Es iſt geſchehen! Wenn auch große Naturanlagen, Munter-
keit, Lebendigkeit, Unglauben an das Äußerſte! Scham,
oft das Anſehen nehmen, als ſei es anders mit mir, es iſt
geſchehen, ich bin hin! und lebe um es zu fühlen. Glauben
Sie nicht, daß ich dies ſo in grammatikaliſchen unverſtändli-
chen Worten denke, ich fühle es jusqu’au vif! in jedem Augen-
blick des Tages; keiner geſtaltet ſich natürlich, alle drückend,
ſchmerzhaft. Und in welcher Organiſation hauſt das Übel!
in der geſundeſten, feinſten. empfindlichſten, bewußteſten!
Zuviel der Laute des eklen Unglücks! Wie kam ich nur dar-
auf! Aber es iſt richtig, ich kann ja das kleinſte Benehmen
nicht erklären, ohne dies. Ein paarmal im Leben ſchrollte
mein Herz ſo zurück, daß ich den Tod berührte; es wußte —
das Bewußtvollſte unſeres ganzen Seins — daß es zum Tod
verdammt war. Frevlerweiſe blieb ich doch leben; und das
iſt mein Verbrechen, meine Sünde, mein Unrecht, meine Schmach;
und Gottes harter großer Fluch, der mich hätte umfallen laſ-
ſen ſollen. Ich ergeb’ mich in den ewigſten Schmerz. Und
ſollte ſchweigen. Sie ſehen, nur Zerſtreuung, Leben, Bewe-
gung, Hülfeleiſten, Sehen, Eitelkeit, kann mich retten; bin
I. 36
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Varnhagen von Ense, Rahel: Rahel. Bd. 1. Berlin, 1834, S. 561. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_rahel01_1834/575>, abgerufen am 23.12.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.