Donnerstag, noch immer in Prag, den 2. September 1813.
Wenn ich die Feder in die Hand nehme, so geht die wahre Agitation erst an; das kennst du! du legst mir die harten flüchtigen Phrasen auch gewiß einzig auf der ganzen Welt gut aus. Der Obrist, und der Hauptmann Marais, leben! denn warum sollst du nicht gleich erfahren, wonach du bangst! -- Von unsern Schrecken, von den Nachrichten, ächten und falschen, Anblicken und Anstalten, kein Wort. Kurz es ist Krieg zu sehen. Gottes harte Strafe. Vandamme ist gestern hier durch gebracht. Auch hierüber kein Wort, weil man jetzt nicht weiß, in wessen Hände ein Brief fällt. Russen führten ihn, man glaubt nach ihrem Lande. Und du? du? Seit dem 31. Juli keine Nachricht von euch! Das ist nichts Gut's. Wo seid ihr? Gott im Himmel! du findest ja sonst immer Gelegenheit zu schreiben: aber denke nur nicht, daß ich mich schon zu sehr ängstige: nein, ich hoffe viel auf verlorengegan- gene Briefe; ich kenne Umstände, und Kriegsumstände; auch kann ich keine Angst in meiner Seele finden, die dem Zustande, worin du sein kannst, angemessen wäre. Gnädiger Gott, seit ich die unzähligen Verwundeten sehe! doch behielt ich Kräfte zu laufen, zu sprechen, zu schreiben für sie. Das Publikum ist noch nicht so gewitzigt, als bei uns: die unbequeme Stadt pretirt nicht dazu. Die Frauen im Einzelnen fangen an, sich die Verwundeten auszubitten, ihnen einstweilen Essen und Hülfe auf die Gassen zu senden; ich habe eine göttliche Haus-
8 *
An Varnhagen, in Mecklenburg.
Donnerstag, noch immer in Prag, den 2. September 1813.
Wenn ich die Feder in die Hand nehme, ſo geht die wahre Agitation erſt an; das kennſt du! du legſt mir die harten flüchtigen Phraſen auch gewiß einzig auf der ganzen Welt gut aus. Der Obriſt, und der Hauptmann Marais, leben! denn warum ſollſt du nicht gleich erfahren, wonach du bangſt! — Von unſern Schrecken, von den Nachrichten, ächten und falſchen, Anblicken und Anſtalten, kein Wort. Kurz es iſt Krieg zu ſehen. Gottes harte Strafe. Vandamme iſt geſtern hier durch gebracht. Auch hierüber kein Wort, weil man jetzt nicht weiß, in weſſen Hände ein Brief fällt. Ruſſen führten ihn, man glaubt nach ihrem Lande. Und du? du? Seit dem 31. Juli keine Nachricht von euch! Das iſt nichts Gut’s. Wo ſeid ihr? Gott im Himmel! du findeſt ja ſonſt immer Gelegenheit zu ſchreiben: aber denke nur nicht, daß ich mich ſchon zu ſehr ängſtige: nein, ich hoffe viel auf verlorengegan- gene Briefe; ich kenne Umſtände, und Kriegsumſtände; auch kann ich keine Angſt in meiner Seele finden, die dem Zuſtande, worin du ſein kannſt, angemeſſen wäre. Gnädiger Gott, ſeit ich die unzähligen Verwundeten ſehe! doch behielt ich Kräfte zu laufen, zu ſprechen, zu ſchreiben für ſie. Das Publikum iſt noch nicht ſo gewitzigt, als bei uns: die unbequeme Stadt pretirt nicht dazu. Die Frauen im Einzelnen fangen an, ſich die Verwundeten auszubitten, ihnen einſtweilen Eſſen und Hülfe auf die Gaſſen zu ſenden; ich habe eine göttliche Haus-
8 *
<TEI><text><body><divn="1"><pbfacs="#f0123"n="115"/><divn="2"><head>An Varnhagen, in Mecklenburg.</head><lb/><divn="3"><dateline><hirendition="#et">Donnerstag, noch immer in Prag, den 2. September 1813.</hi></dateline><lb/><p>Wenn ich die Feder in die Hand nehme, ſo geht die wahre<lb/>
Agitation erſt an; das kennſt du! du legſt mir die harten<lb/>
flüchtigen Phraſen auch gewiß einzig auf der ganzen Welt<lb/>
gut aus. Der Obriſt, und der Hauptmann Marais, leben!<lb/>
denn warum ſollſt du nicht gleich erfahren, wonach du bangſt!<lb/>— Von unſern Schrecken, von den Nachrichten, ächten und<lb/>
falſchen, Anblicken und Anſtalten, kein Wort. Kurz es iſt<lb/><hirendition="#g">Krieg</hi> zu ſehen. Gottes harte Strafe. Vandamme iſt geſtern<lb/>
hier durch gebracht. Auch hierüber kein Wort, weil man jetzt<lb/>
nicht weiß, in weſſen Hände ein Brief fällt. Ruſſen führten<lb/>
ihn, man glaubt nach ihrem Lande. Und du? du? Seit<lb/>
dem 31. Juli <hirendition="#g">keine</hi> Nachricht von euch! Das iſt nichts Gut’s.<lb/>
Wo ſeid ihr? Gott im Himmel! du findeſt ja ſonſt immer<lb/>
Gelegenheit zu ſchreiben: aber denke nur nicht, daß ich mich<lb/>ſchon zu ſehr ängſtige: nein, ich hoffe viel auf verlorengegan-<lb/>
gene Briefe; ich kenne Umſtände, und Kriegsumſtände; auch<lb/>
kann ich keine Angſt in meiner Seele finden, die dem Zuſtande,<lb/>
worin du ſein kannſt, angemeſſen wäre. Gnädiger Gott, ſeit<lb/>
ich die unzähligen Verwundeten ſehe! doch behielt ich Kräfte<lb/>
zu laufen, zu ſprechen, zu ſchreiben für ſie. Das Publikum<lb/>
iſt noch nicht ſo gewitzigt, als bei uns: die <hirendition="#g">unbequeme</hi> Stadt<lb/>
pretirt nicht dazu. Die Frauen im Einzelnen fangen an, ſich<lb/>
die Verwundeten auszubitten, ihnen einſtweilen Eſſen und<lb/>
Hülfe auf die Gaſſen zu ſenden; ich habe eine göttliche Haus-<lb/><fwplace="bottom"type="sig">8 *</fw><lb/></p></div></div></div></body></text></TEI>
[115/0123]
An Varnhagen, in Mecklenburg.
Donnerstag, noch immer in Prag, den 2. September 1813.
Wenn ich die Feder in die Hand nehme, ſo geht die wahre
Agitation erſt an; das kennſt du! du legſt mir die harten
flüchtigen Phraſen auch gewiß einzig auf der ganzen Welt
gut aus. Der Obriſt, und der Hauptmann Marais, leben!
denn warum ſollſt du nicht gleich erfahren, wonach du bangſt!
— Von unſern Schrecken, von den Nachrichten, ächten und
falſchen, Anblicken und Anſtalten, kein Wort. Kurz es iſt
Krieg zu ſehen. Gottes harte Strafe. Vandamme iſt geſtern
hier durch gebracht. Auch hierüber kein Wort, weil man jetzt
nicht weiß, in weſſen Hände ein Brief fällt. Ruſſen führten
ihn, man glaubt nach ihrem Lande. Und du? du? Seit
dem 31. Juli keine Nachricht von euch! Das iſt nichts Gut’s.
Wo ſeid ihr? Gott im Himmel! du findeſt ja ſonſt immer
Gelegenheit zu ſchreiben: aber denke nur nicht, daß ich mich
ſchon zu ſehr ängſtige: nein, ich hoffe viel auf verlorengegan-
gene Briefe; ich kenne Umſtände, und Kriegsumſtände; auch
kann ich keine Angſt in meiner Seele finden, die dem Zuſtande,
worin du ſein kannſt, angemeſſen wäre. Gnädiger Gott, ſeit
ich die unzähligen Verwundeten ſehe! doch behielt ich Kräfte
zu laufen, zu ſprechen, zu ſchreiben für ſie. Das Publikum
iſt noch nicht ſo gewitzigt, als bei uns: die unbequeme Stadt
pretirt nicht dazu. Die Frauen im Einzelnen fangen an, ſich
die Verwundeten auszubitten, ihnen einſtweilen Eſſen und
Hülfe auf die Gaſſen zu ſenden; ich habe eine göttliche Haus-
8 *
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Varnhagen von Ense, Rahel: Rahel. Ein Buch des Andenkens für ihre Freunde. Bd. 2. Berlin, 1834, S. 115. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_rahel02_1834/123>, abgerufen am 04.12.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.