erhalte dich! Lebe wohl. Deine R. V. werde ich jetzt dir schreiben. --
An Ernestine Robert, in Berlin.
Sonnabend, Wien den 12. November 1814.
Ist das nicht das größte Meerwunder, in Wien zu sein und gar nichts zu schreiben zu haben?! Wenn ich nicht die allgemeinen Gedanken-Schleusen öffnen mag, welches ich nicht will, der Überschwemmung wegen; und der Unverdaulichkeiten, die in Steinen und andern Materialien mit herausstürzten! hörten Sie, Ernestinchen, was ich Abends auf meinem Kana- pee doziren muß: muß, weil's mir so herauskommt! Die Französin ist ganz vernichtigt. Mit der Physionomie anzu- fangen: spricht das gedanken- und beziehungsloseste Zeug, ja jede Frage z. B. nach der Gesundheit der Nichte, wenn sie sie sieht, ist zerstreut, ganz herzlos, ganz sinnlos, durch Blick, Ton und Wendung des Körpers. Dies alles ohne das min- deste Ohr für alles was in der Welt geschieht, ohne allen Takt, mit krummer Haltung, die ihr zur Natürlichkeit helfen soll, der sie ewig anliegt; als wäre die Natürlichkeit ein Mann im Amt, der ihr einen Titel verschaffen soll. Die Andre zieht sich an wie sonst: sieht so schlimm aus, daß, hätte ich es gleich gesehen, ich ihr mehr geantwortet hätte. Es ist mir aber lieb, daß ich es nicht gleich sah. Wien ist wie alle gro- ßen Städte gut: wenn man Geld hat: da ich mittelmäßiges habe, und einen außerordentlichen Freund, die Welt ganz
erhalte dich! Lebe wohl. Deine R. V. werde ich jetzt dir ſchreiben. —
An Erneſtine Robert, in Berlin.
Sonnabend, Wien den 12. November 1814.
Iſt das nicht das größte Meerwunder, in Wien zu ſein und gar nichts zu ſchreiben zu haben?! Wenn ich nicht die allgemeinen Gedanken-Schleuſen öffnen mag, welches ich nicht will, der Überſchwemmung wegen; und der Unverdaulichkeiten, die in Steinen und andern Materialien mit herausſtürzten! hörten Sie, Erneſtinchen, was ich Abends auf meinem Kana- pee doziren muß: muß, weil’s mir ſo herauskommt! Die Franzöſin iſt ganz vernichtigt. Mit der Phyſionomie anzu- fangen: ſpricht das gedanken- und beziehungsloſeſte Zeug, ja jede Frage z. B. nach der Geſundheit der Nichte, wenn ſie ſie ſieht, iſt zerſtreut, ganz herzlos, ganz ſinnlos, durch Blick, Ton und Wendung des Körpers. Dies alles ohne das min- deſte Ohr für alles was in der Welt geſchieht, ohne allen Takt, mit krummer Haltung, die ihr zur Natürlichkeit helfen ſoll, der ſie ewig anliegt; als wäre die Natürlichkeit ein Mann im Amt, der ihr einen Titel verſchaffen ſoll. Die Andre zieht ſich an wie ſonſt: ſieht ſo ſchlimm aus, daß, hätte ich es gleich geſehen, ich ihr mehr geantwortet hätte. Es iſt mir aber lieb, daß ich es nicht gleich ſah. Wien iſt wie alle gro- ßen Städte gut: wenn man Geld hat: da ich mittelmäßiges habe, und einen außerordentlichen Freund, die Welt ganz
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erhalte dich! Lebe wohl. Deine R. V. werde ich jetzt dir
ſchreiben. —
An Erneſtine Robert, in Berlin.
Sonnabend, Wien den 12. November 1814.
Iſt das nicht das größte Meerwunder, in Wien zu ſein
und gar nichts zu ſchreiben zu haben?! Wenn ich nicht die
allgemeinen Gedanken-Schleuſen öffnen mag, welches ich nicht
will, der Überſchwemmung wegen; und der Unverdaulichkeiten,
die in Steinen und andern Materialien mit herausſtürzten!
hörten Sie, Erneſtinchen, was ich Abends auf meinem Kana-
pee doziren muß: muß, weil’s mir ſo herauskommt! Die
Franzöſin iſt ganz vernichtigt. Mit der Phyſionomie anzu-
fangen: ſpricht das gedanken- und beziehungsloſeſte Zeug, ja
jede Frage z. B. nach der Geſundheit der Nichte, wenn ſie ſie
ſieht, iſt zerſtreut, ganz herzlos, ganz ſinnlos, durch Blick,
Ton und Wendung des Körpers. Dies alles ohne das min-
deſte Ohr für alles was in der Welt geſchieht, ohne allen
Takt, mit krummer Haltung, die ihr zur Natürlichkeit helfen
ſoll, der ſie ewig anliegt; als wäre die Natürlichkeit ein Mann
im Amt, der ihr einen Titel verſchaffen ſoll. Die Andre zieht
ſich an wie ſonſt: ſieht ſo ſchlimm aus, daß, hätte ich es
gleich geſehen, ich ihr mehr geantwortet hätte. Es iſt mir
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Varnhagen von Ense, Rahel: Rahel. Ein Buch des Andenkens für ihre Freunde. Bd. 2. Berlin, 1834, S. 245. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_rahel02_1834/253>, abgerufen am 21.11.2024.
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