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Varnhagen von Ense, Rahel: Rahel. Ein Buch des Andenkens für ihre Freunde. Bd. 2. Berlin, 1834.

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auch die Andern. Denn wisse! -- in Details will ich mich
hierüber nur mündlich vernehmen lassen, und wie das nach
und nach in mir vorgeht -- jetzt, da ich gar nichts mehr mit
ihnen zu schaffen habe, ich nicht mehr generös zu sein brauche,
nicht mehr vor Gemüthsaufruhr, den der bedingte Augenblick
mit seiner Noth und zu nehmenden Entschlüssen erheischt, nicht
überlegen kann, werden sie mir erst ganz verächtlich, zum rei-
nen unbekannten Nichts, zum Ekelhaß aus Verwerfung, zu
meiner eigenen Befremdung, die auch schon vorüber ist. Die
Lebens- und Denkresultate aber klingen und schmecken bei wei-
tem anders. Diese sind, eine für's Mitleid doch zu kalte Be-
trachtung, der Menschensituation überhaupt. Wir sind in
Verworfenheit Alle; in einem solchen Zustand; und wahrlich,
sich selbst opfrende Heldenarten gehören dazu, das sittliche
Haupt, das Auge der Seele nur, aus all den Lügenbeding-
nissen zu erheben; welches so natürlich sein sollte, und ist,
sobald der Fall wirklich eintritt. Man kann den schlechter
Gearteten nur als einem minderen Gewürm ausweichen, und
ihnen, wenn sie doch leiden, helfen; und dies geschieht auch
von jedem in seinen Kreisen von Bewußtsein, bewußt und
unbewußt. Es giebt ganz was anderes, was wir nicht fassen.
Das weiß ich. Und nun komme! Gott führe dich zu mir.
Ich hoffe: und komme, da D. nun so zögert, auf diese kurze
Zeit nicht. Wir sehen ein andermal Frankreich besser mit ein-
ander. -- Zum Spaß, aber laß dich davon nicht gegen ihn
aufbringen, schicke ich dir Th's Brief; diesen nichtigen, leeren,
dürren, sich selbst widersprechenden Lügenbrief. Mit dem er
mir diesmal gar nichts Besonderes weis machen wollte, in

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auch die Andern. Denn wiſſe! — in Details will ich mich
hierüber nur mündlich vernehmen laſſen, und wie das nach
und nach in mir vorgeht — jetzt, da ich gar nichts mehr mit
ihnen zu ſchaffen habe, ich nicht mehr generös zu ſein brauche,
nicht mehr vor Gemüthsaufruhr, den der bedingte Augenblick
mit ſeiner Noth und zu nehmenden Entſchlüſſen erheiſcht, nicht
überlegen kann, werden ſie mir erſt ganz verächtlich, zum rei-
nen unbekannten Nichts, zum Ekelhaß aus Verwerfung, zu
meiner eigenen Befremdung, die auch ſchon vorüber iſt. Die
Lebens- und Denkreſultate aber klingen und ſchmecken bei wei-
tem anders. Dieſe ſind, eine für’s Mitleid doch zu kalte Be-
trachtung, der Menſchenſituation überhaupt. Wir ſind in
Verworfenheit Alle; in einem ſolchen Zuſtand; und wahrlich,
ſich ſelbſt opfrende Heldenarten gehören dazu, das ſittliche
Haupt, das Auge der Seele nur, aus all den Lügenbeding-
niſſen zu erheben; welches ſo natürlich ſein ſollte, und iſt,
ſobald der Fall wirklich eintritt. Man kann den ſchlechter
Gearteten nur als einem minderen Gewürm ausweichen, und
ihnen, wenn ſie doch leiden, helfen; und dies geſchieht auch
von jedem in ſeinen Kreiſen von Bewußtſein, bewußt und
unbewußt. Es giebt ganz was anderes, was wir nicht faſſen.
Das weiß ich. Und nun komme! Gott führe dich zu mir.
Ich hoffe: und komme, da D. nun ſo zögert, auf dieſe kurze
Zeit nicht. Wir ſehen ein andermal Frankreich beſſer mit ein-
ander. — Zum Spaß, aber laß dich davon nicht gegen ihn
aufbringen, ſchicke ich dir Th’s Brief; dieſen nichtigen, leeren,
dürren, ſich ſelbſt widerſprechenden Lügenbrief. Mit dem er
mir diesmal gar nichts Beſonderes weis machen wollte, in

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[337/0345] auch die Andern. Denn wiſſe! — in Details will ich mich hierüber nur mündlich vernehmen laſſen, und wie das nach und nach in mir vorgeht — jetzt, da ich gar nichts mehr mit ihnen zu ſchaffen habe, ich nicht mehr generös zu ſein brauche, nicht mehr vor Gemüthsaufruhr, den der bedingte Augenblick mit ſeiner Noth und zu nehmenden Entſchlüſſen erheiſcht, nicht überlegen kann, werden ſie mir erſt ganz verächtlich, zum rei- nen unbekannten Nichts, zum Ekelhaß aus Verwerfung, zu meiner eigenen Befremdung, die auch ſchon vorüber iſt. Die Lebens- und Denkreſultate aber klingen und ſchmecken bei wei- tem anders. Dieſe ſind, eine für’s Mitleid doch zu kalte Be- trachtung, der Menſchenſituation überhaupt. Wir ſind in Verworfenheit Alle; in einem ſolchen Zuſtand; und wahrlich, ſich ſelbſt opfrende Heldenarten gehören dazu, das ſittliche Haupt, das Auge der Seele nur, aus all den Lügenbeding- niſſen zu erheben; welches ſo natürlich ſein ſollte, und iſt, ſobald der Fall wirklich eintritt. Man kann den ſchlechter Gearteten nur als einem minderen Gewürm ausweichen, und ihnen, wenn ſie doch leiden, helfen; und dies geſchieht auch von jedem in ſeinen Kreiſen von Bewußtſein, bewußt und unbewußt. Es giebt ganz was anderes, was wir nicht faſſen. Das weiß ich. Und nun komme! Gott führe dich zu mir. Ich hoffe: und komme, da D. nun ſo zögert, auf dieſe kurze Zeit nicht. Wir ſehen ein andermal Frankreich beſſer mit ein- ander. — Zum Spaß, aber laß dich davon nicht gegen ihn aufbringen, ſchicke ich dir Th’s Brief; dieſen nichtigen, leeren, dürren, ſich ſelbſt widerſprechenden Lügenbrief. Mit dem er mir diesmal gar nichts Beſonderes weis machen wollte, in II. 22

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Zitationshilfe: Varnhagen von Ense, Rahel: Rahel. Ein Buch des Andenkens für ihre Freunde. Bd. 2. Berlin, 1834, S. 337. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_rahel02_1834/345>, abgerufen am 22.11.2024.