Eh Sie mir noch geschrieben haben, hätte ich Ihnen schrei- ben können: und bei mir ist es gewiß, daß wir uns sehr verstehen würden; sich zu verstehen ist ja das urgenteste und menschlichste Bedürfniß der Menschen; woran sie zwar so häufig, aber doch nur durch ein paar Ursachen verhindert werden. Sie wollen entweder aus kleineren Absichten, in denen sie sich verlieren, lügen; oder sie sind unverständig, und die feinen Spitzen der Sinne, woraus der Sinn besteht, feh- len ihnen. Sie, liebe Frau von Fouque, erscheinen mir wahrhaft und verständig; und die innigste Freundschaft un- ter uns würde mir weniger auffallen, als ein Stillstand in unserer Bekanntschaft. Diese Meinung flößten Sie mir gleich ein, und jedesmal, daß ich Sie sah, wurde ich darüber siche- rer. Um so mehr aber möchte ich Ihnen danken für Ihre An- rede, und für die Art derselben; läßt man nicht oft das Köst- lichste, zumeist für uns Bestimmte, aus abgestumpftem Muth, endlicher Lässigkeit, und immer zunehmender äußerer Zer- streuung seitab liegen; und greift nach unwerthen Dingen, an die man die Tage und Kräfte in Unmuth und Feigheit, hingiebt! Mein Dank, daß Sie mir geschrieben haben, muß sich als Bewunderung äußern, daß es Ihnen möglich war, auf Anforderung eines Andern einen so weichen, lieben, na- türlichen Brief zu schreiben! Mich dünkt, ich hätte es nicht vermocht. Künftig aber, Liebe, schicken Sie mir nie wieder
einen
An Frau von Fouqué, in Nennhauſen.
Sonntag 2 Uhr mittags, den 23. März 1812.
Eh Sie mir noch geſchrieben haben, hätte ich Ihnen ſchrei- ben können: und bei mir iſt es gewiß, daß wir uns ſehr verſtehen würden; ſich zu verſtehen iſt ja das urgenteſte und menſchlichſte Bedürfniß der Menſchen; woran ſie zwar ſo häufig, aber doch nur durch ein paar Urſachen verhindert werden. Sie wollen entweder aus kleineren Abſichten, in denen ſie ſich verlieren, lügen; oder ſie ſind unverſtändig, und die feinen Spitzen der Sinne, woraus der Sinn beſteht, feh- len ihnen. Sie, liebe Frau von Fouqué, erſcheinen mir wahrhaft und verſtändig; und die innigſte Freundſchaft un- ter uns würde mir weniger auffallen, als ein Stillſtand in unſerer Bekanntſchaft. Dieſe Meinung flößten Sie mir gleich ein, und jedesmal, daß ich Sie ſah, wurde ich darüber ſiche- rer. Um ſo mehr aber möchte ich Ihnen danken für Ihre An- rede, und für die Art derſelben; läßt man nicht oft das Köſt- lichſte, zumeiſt für uns Beſtimmte, aus abgeſtumpftem Muth, endlicher Läſſigkeit, und immer zunehmender äußerer Zer- ſtreuung ſeitab liegen; und greift nach unwerthen Dingen, an die man die Tage und Kräfte in Unmuth und Feigheit, hingiebt! Mein Dank, daß Sie mir geſchrieben haben, muß ſich als Bewunderung äußern, daß es Ihnen möglich war, auf Anforderung eines Andern einen ſo weichen, lieben, na- türlichen Brief zu ſchreiben! Mich dünkt, ich hätte es nicht vermocht. Künftig aber, Liebe, ſchicken Sie mir nie wieder
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[32/0040]
An Frau von Fouqué, in Nennhauſen.
Sonntag 2 Uhr mittags, den 23. März 1812.
Eh Sie mir noch geſchrieben haben, hätte ich Ihnen ſchrei-
ben können: und bei mir iſt es gewiß, daß wir uns ſehr
verſtehen würden; ſich zu verſtehen iſt ja das urgenteſte und
menſchlichſte Bedürfniß der Menſchen; woran ſie zwar ſo
häufig, aber doch nur durch ein paar Urſachen verhindert
werden. Sie wollen entweder aus kleineren Abſichten, in
denen ſie ſich verlieren, lügen; oder ſie ſind unverſtändig, und
die feinen Spitzen der Sinne, woraus der Sinn beſteht, feh-
len ihnen. Sie, liebe Frau von Fouqué, erſcheinen mir
wahrhaft und verſtändig; und die innigſte Freundſchaft un-
ter uns würde mir weniger auffallen, als ein Stillſtand in
unſerer Bekanntſchaft. Dieſe Meinung flößten Sie mir gleich
ein, und jedesmal, daß ich Sie ſah, wurde ich darüber ſiche-
rer. Um ſo mehr aber möchte ich Ihnen danken für Ihre An-
rede, und für die Art derſelben; läßt man nicht oft das Köſt-
lichſte, zumeiſt für uns Beſtimmte, aus abgeſtumpftem Muth,
endlicher Läſſigkeit, und immer zunehmender äußerer Zer-
ſtreuung ſeitab liegen; und greift nach unwerthen Dingen,
an die man die Tage und Kräfte in Unmuth und Feigheit,
hingiebt! Mein Dank, daß Sie mir geſchrieben haben, muß
ſich als Bewunderung äußern, daß es Ihnen möglich war,
auf Anforderung eines Andern einen ſo weichen, lieben, na-
türlichen Brief zu ſchreiben! Mich dünkt, ich hätte es nicht
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Varnhagen von Ense, Rahel: Rahel. Ein Buch des Andenkens für ihre Freunde. Bd. 2. Berlin, 1834, S. 32. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_rahel02_1834/40>, abgerufen am 23.11.2024.
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