einen offenen Brief; mir ist, als entflöge den Zeilen geistiger Duft, wenn meine Augen nicht die ersten sind, die sie lesen: mein Vorurtheil geht so weit, daß ich mir ein Gewissen dar- aus mache, einem Freund, wie es doch manchmal kommt, eine Stelle zu zeigen, ehe ich einen Brief zu seinem Herrn schicke. -- Glauben Sie es, liebe Frau von Fouque, ich war sehr saisirt, bei der Stelle in Ihrem Briefe, die Sie einen Schrei nennen, und noch ehe Sie sie so nannten. Was verstehen Sie darunter: "Ich habe mich unzähligemal verloren?" War Ihr Herz veräußert? Oder konnten Sie sich lange vor Ih- rem innren Gerichte nicht vorfinden? "Aber ich finde mich wieder. Das ist gut, aber macht nicht gut." (Dies der Schrei.) Ist meine zweite Frage Ihr Fall, so glaube ich, das Wiederfinden macht auch gut.
An sich arbeiten; klar machen, was uns verwirrt und drückt; und wären es die größten Schmerzen, zum größten Bankrutt führend, heißt ja gut sein: Fasern und Nerven, Wünsche in uns, können wir doch nicht ausstreichen: und soll- ten diese allein nicht heilig sein, nicht mit der Scheu der Frömmigkeit betrachtet, behandelt werden, als andere Werke und Feststellungen der Natur, ja als der tiefe Hang, das große Bedürfniß, recht zu thun, in uns? Ich fühle ganz, daß es nur Ein unerträgliches Übel giebt: wenn man dies Be- dürfniß nicht befriedigt hat, und das Gewissen krank ist. Na- türlich, dies ist das uns gelassene Gebiet; und wir quälten, hätten wir die Mittel, an sie zu kommen, wie wir sie bei uns selbst haben, Andere eben so, bis wir hätten, was wir vermissen, und was uns recht und schön in jedem Falle dünkt.
II. 3
einen offenen Brief; mir iſt, als entflöge den Zeilen geiſtiger Duft, wenn meine Augen nicht die erſten ſind, die ſie leſen: mein Vorurtheil geht ſo weit, daß ich mir ein Gewiſſen dar- aus mache, einem Freund, wie es doch manchmal kommt, eine Stelle zu zeigen, ehe ich einen Brief zu ſeinem Herrn ſchicke. — Glauben Sie es, liebe Frau von Fouqué, ich war ſehr ſaiſirt, bei der Stelle in Ihrem Briefe, die Sie einen Schrei nennen, und noch ehe Sie ſie ſo nannten. Was verſtehen Sie darunter: „Ich habe mich unzähligemal verloren?“ War Ihr Herz veräußert? Oder konnten Sie ſich lange vor Ih- rem innren Gerichte nicht vorfinden? „Aber ich finde mich wieder. Das iſt gut, aber macht nicht gut.“ (Dies der Schrei.) Iſt meine zweite Frage Ihr Fall, ſo glaube ich, das Wiederfinden macht auch gut.
An ſich arbeiten; klar machen, was uns verwirrt und drückt; und wären es die größten Schmerzen, zum größten Bankrutt führend, heißt ja gut ſein: Faſern und Nerven, Wünſche in uns, können wir doch nicht ausſtreichen: und ſoll- ten dieſe allein nicht heilig ſein, nicht mit der Scheu der Frömmigkeit betrachtet, behandelt werden, als andere Werke und Feſtſtellungen der Natur, ja als der tiefe Hang, das große Bedürfniß, recht zu thun, in uns? Ich fühle ganz, daß es nur Ein unerträgliches Übel giebt: wenn man dies Be- dürfniß nicht befriedigt hat, und das Gewiſſen krank iſt. Na- türlich, dies iſt das uns gelaſſene Gebiet; und wir quälten, hätten wir die Mittel, an ſie zu kommen, wie wir ſie bei uns ſelbſt haben, Andere eben ſo, bis wir hätten, was wir vermiſſen, und was uns recht und ſchön in jedem Falle dünkt.
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einen offenen Brief; mir iſt, als entflöge den Zeilen geiſtiger
Duft, wenn meine Augen nicht die erſten ſind, die ſie leſen:
mein Vorurtheil geht ſo weit, daß ich mir ein Gewiſſen dar-
aus mache, einem Freund, wie es doch manchmal kommt, eine
Stelle zu zeigen, ehe ich einen Brief zu ſeinem Herrn ſchicke.
— Glauben Sie es, liebe Frau von Fouqué, ich war ſehr
ſaiſirt, bei der Stelle in Ihrem Briefe, die Sie einen Schrei
nennen, und noch ehe Sie ſie ſo nannten. Was verſtehen
Sie darunter: „Ich habe mich unzähligemal verloren?“ War
Ihr Herz veräußert? Oder konnten Sie ſich lange vor Ih-
rem innren Gerichte nicht vorfinden? „Aber ich finde mich
wieder. Das iſt gut, aber macht nicht gut.“ (Dies der
Schrei.) Iſt meine zweite Frage Ihr Fall, ſo glaube ich, das
Wiederfinden macht auch gut.
An ſich arbeiten; klar machen, was uns verwirrt und
drückt; und wären es die größten Schmerzen, zum größten
Bankrutt führend, heißt ja gut ſein: Faſern und Nerven,
Wünſche in uns, können wir doch nicht ausſtreichen: und ſoll-
ten dieſe allein nicht heilig ſein, nicht mit der Scheu der
Frömmigkeit betrachtet, behandelt werden, als andere Werke
und Feſtſtellungen der Natur, ja als der tiefe Hang, das
große Bedürfniß, recht zu thun, in uns? Ich fühle ganz, daß
es nur Ein unerträgliches Übel giebt: wenn man dies Be-
dürfniß nicht befriedigt hat, und das Gewiſſen krank iſt. Na-
türlich, dies iſt das uns gelaſſene Gebiet; und wir quälten,
hätten wir die Mittel, an ſie zu kommen, wie wir ſie bei
uns ſelbſt haben, Andere eben ſo, bis wir hätten, was wir
vermiſſen, und was uns recht und ſchön in jedem Falle dünkt.
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Varnhagen von Ense, Rahel: Rahel. Ein Buch des Andenkens für ihre Freunde. Bd. 2. Berlin, 1834, S. 33. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_rahel02_1834/41>, abgerufen am 21.11.2024.
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