Berlin, Sonnabend Vormittag 11 Uhr, den 4. December 1819.
Trübes, noch trockenes Wetter.
Theure, verehrte Gräfin! Liebe treue Freundin! Zwei Mo- nat bin ich schon hier, ohne in Erfahrung bringen zu können, wo Sie leben. Was mir aber -- auch -- sehr auffiel, war, daß es Frau von Humboldt nicht wußte, wo ich es ganz ge- wiß zu erfahren glaubte. Ganz ruhig, und ohne Anstoß, ge- stand sie, es nicht zu wissen. Ich verstummte; wie immer, wenn man Unendliches, und unendlich viel zu sagen hat, und sich im Vortheil glaubt. Endlich überraschte uns diese Woche Graf Keyserling, der ein Erbstück, eine Erbader von Treue in sich hat, und uns jedesmal aufsucht, wo wir nur sein können. Von diesem erfuhr ich, daß Schlesien Sie verbirgt, und daß er mein Merkur sein will. Lassen Sie mich mit dem Aller- nächsten anfangen! Werde ich Sie diesen Winter hier sehen? Oder soll ich ohne diese Genugthuung vielleicht weiter geschickt werden?! Wenn es Ihnen möglich ist, kommen Sie. Was hat man denn in unserm Alter, mit der Schärfe der Überzeu- gung, mit der wir hier auf der Erde ankommen mußten, noch anderes, als dann und wann den Trost, Gleichgesinnte zu se- hen, das Zeugniß von ihnen anzunehmen, daß man nicht ver- rückt ist, und die heilende Gewißheit, daß noch Rechtschaffen- heit wirklich mit Menschengebein auf der Erde umhergeht; daß nicht alles nichtige Kriecherei, alberne Eitelkeit, und straf- bares Ringen, und Angriff, um Macht und Gehalt der Staats- posten sei; und endlich die Freude, miteinander zu lachen, Ge-
An Karoline Gräfin von Schlabrendorf, in Zyrus.
Berlin, Sonnabend Vormittag 11 Uhr, den 4. December 1819.
Trübes, noch trockenes Wetter.
Theure, verehrte Gräfin! Liebe treue Freundin! Zwei Mo- nat bin ich ſchon hier, ohne in Erfahrung bringen zu können, wo Sie leben. Was mir aber — auch — ſehr auffiel, war, daß es Frau von Humboldt nicht wußte, wo ich es ganz ge- wiß zu erfahren glaubte. Ganz ruhig, und ohne Anſtoß, ge- ſtand ſie, es nicht zu wiſſen. Ich verſtummte; wie immer, wenn man Unendliches, und unendlich viel zu ſagen hat, und ſich im Vortheil glaubt. Endlich überraſchte uns dieſe Woche Graf Keyſerling, der ein Erbſtück, eine Erbader von Treue in ſich hat, und uns jedesmal aufſucht, wo wir nur ſein können. Von dieſem erfuhr ich, daß Schleſien Sie verbirgt, und daß er mein Merkur ſein will. Laſſen Sie mich mit dem Aller- nächſten anfangen! Werde ich Sie dieſen Winter hier ſehen? Oder ſoll ich ohne dieſe Genugthuung vielleicht weiter geſchickt werden?! Wenn es Ihnen möglich iſt, kommen Sie. Was hat man denn in unſerm Alter, mit der Schärfe der Überzeu- gung, mit der wir hier auf der Erde ankommen mußten, noch anderes, als dann und wann den Troſt, Gleichgeſinnte zu ſe- hen, das Zeugniß von ihnen anzunehmen, daß man nicht ver- rückt iſt, und die heilende Gewißheit, daß noch Rechtſchaffen- heit wirklich mit Menſchengebein auf der Erde umhergeht; daß nicht alles nichtige Kriecherei, alberne Eitelkeit, und ſtraf- bares Ringen, und Angriff, um Macht und Gehalt der Staats- poſten ſei; und endlich die Freude, miteinander zu lachen, Ge-
<TEI><text><body><divn="1"><pbfacs="#f0622"n="614"/><divn="2"><head>An Karoline Gräfin von Schlabrendorf, in Zyrus.</head><lb/><divn="3"><dateline><hirendition="#et">Berlin, Sonnabend Vormittag 11 Uhr, den 4. December 1819.</hi></dateline><lb/><p><hirendition="#et">Trübes, noch trockenes Wetter.</hi></p><lb/><p>Theure, verehrte Gräfin! Liebe treue Freundin! Zwei Mo-<lb/>
nat bin ich ſchon hier, ohne in Erfahrung bringen zu können,<lb/>
wo Sie leben. Was mir aber —<hirendition="#g">auch</hi>—ſehr auffiel, war,<lb/>
daß es Frau von Humboldt nicht wußte, wo ich es ganz ge-<lb/>
wiß zu erfahren glaubte. Ganz ruhig, und ohne Anſtoß, ge-<lb/>ſtand ſie, es nicht zu wiſſen. Ich verſtummte; wie immer,<lb/>
wenn man Unendliches, und unendlich viel zu ſagen hat, und<lb/>ſich im Vortheil glaubt. Endlich überraſchte uns dieſe Woche<lb/>
Graf Keyſerling, der ein Erbſtück, eine Erbader von Treue in<lb/>ſich hat, und uns jedesmal aufſucht, wo wir nur ſein können.<lb/>
Von dieſem erfuhr ich, daß Schleſien Sie verbirgt, und daß<lb/>
er mein Merkur ſein will. Laſſen Sie mich mit dem Aller-<lb/>
nächſten anfangen! Werde ich Sie dieſen Winter hier ſehen?<lb/>
Oder ſoll ich ohne dieſe Genugthuung vielleicht weiter geſchickt<lb/>
werden?! Wenn es Ihnen möglich iſt, kommen Sie. Was<lb/>
hat man denn in unſerm Alter, mit der Schärfe der Überzeu-<lb/>
gung, mit der wir hier auf der Erde ankommen mußten, noch<lb/>
anderes, als dann und wann den Troſt, Gleichgeſinnte zu ſe-<lb/>
hen, das Zeugniß von ihnen anzunehmen, daß man nicht ver-<lb/>
rückt iſt, und die heilende Gewißheit, daß noch Rechtſchaffen-<lb/>
heit wirklich mit Menſchengebein auf der Erde umhergeht;<lb/>
daß nicht alles nichtige Kriecherei, alberne Eitelkeit, und ſtraf-<lb/>
bares Ringen, und Angriff, um Macht und Gehalt der Staats-<lb/>
poſten ſei; und endlich die Freude, miteinander zu lachen, Ge-<lb/></p></div></div></div></body></text></TEI>
[614/0622]
An Karoline Gräfin von Schlabrendorf, in Zyrus.
Berlin, Sonnabend Vormittag 11 Uhr, den 4. December 1819.
Trübes, noch trockenes Wetter.
Theure, verehrte Gräfin! Liebe treue Freundin! Zwei Mo-
nat bin ich ſchon hier, ohne in Erfahrung bringen zu können,
wo Sie leben. Was mir aber — auch — ſehr auffiel, war,
daß es Frau von Humboldt nicht wußte, wo ich es ganz ge-
wiß zu erfahren glaubte. Ganz ruhig, und ohne Anſtoß, ge-
ſtand ſie, es nicht zu wiſſen. Ich verſtummte; wie immer,
wenn man Unendliches, und unendlich viel zu ſagen hat, und
ſich im Vortheil glaubt. Endlich überraſchte uns dieſe Woche
Graf Keyſerling, der ein Erbſtück, eine Erbader von Treue in
ſich hat, und uns jedesmal aufſucht, wo wir nur ſein können.
Von dieſem erfuhr ich, daß Schleſien Sie verbirgt, und daß
er mein Merkur ſein will. Laſſen Sie mich mit dem Aller-
nächſten anfangen! Werde ich Sie dieſen Winter hier ſehen?
Oder ſoll ich ohne dieſe Genugthuung vielleicht weiter geſchickt
werden?! Wenn es Ihnen möglich iſt, kommen Sie. Was
hat man denn in unſerm Alter, mit der Schärfe der Überzeu-
gung, mit der wir hier auf der Erde ankommen mußten, noch
anderes, als dann und wann den Troſt, Gleichgeſinnte zu ſe-
hen, das Zeugniß von ihnen anzunehmen, daß man nicht ver-
rückt iſt, und die heilende Gewißheit, daß noch Rechtſchaffen-
heit wirklich mit Menſchengebein auf der Erde umhergeht;
daß nicht alles nichtige Kriecherei, alberne Eitelkeit, und ſtraf-
bares Ringen, und Angriff, um Macht und Gehalt der Staats-
poſten ſei; und endlich die Freude, miteinander zu lachen, Ge-
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Varnhagen von Ense, Rahel: Rahel. Ein Buch des Andenkens für ihre Freunde. Bd. 2. Berlin, 1834, S. 614. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_rahel02_1834/622>, abgerufen am 23.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.