danken aufzurüttlen, unbefangen zu werden, sein zu dürfen; patriarchalisch, und kindisch all den Schund, miteinander zu vergessen! Ich kann im Winter nicht reisen: Varnhagen darf von hier ohne Grund und Urlaub nicht weg; und unklug wär's ihn hier allein zu lassen, sonst dürften Sie nur befehlen, und ich käme zu Ihnen. Ohne diese Berge von Gründen säßen wir im Wagen, führen erst zu Graf Kalkreuth nach Siegers- dorf, und dann zu Ihnen. Graf Keyserling schmeichelte uns unendlich mit der Aussage, daß sein Onkel auf seiner letzten Reise nach Frankreich ohne ein Hinderniß uns besucht haben würde; und nur eine solche Intention ist des größten Dankes werth, den wir gerne persönlich abgestattet hätten; und ohne alles Weitere hätte ich schon zu Ihnen fahren mögen, um Ihnen besonders für Ihres Bruders Absicht zu danken; Sie nur können so vortheilhafte Gesinnungen in ihm erregt haben! Es sollte nicht; aber Treue gegen sich selbst, und in seinen Meinungen, außer, daß sie die liebenswürdigste Eigenschaft und die Wurzel, der Grund, und Halter aller andern ist, muß noch wie gemeine Dinge ihrer Seltenheit wegen geschätzt werden. So steigen Sie im Werth, liebe Gräfin, da fast Alle im Welt- gewühl sinken, und ihr Innres sich abhanden kommen lassen; anstatt dies, dem Juwel gleich, ewig rein zu erhalten, und neue Facetten daran zu arbeiten, daß der Geist Lohn und Nahrung finde im Erblicken immer mehreren Lichts der Ursonne. Glauben Sie nicht, sehr liebe Freundin, daß Einzelnheiten oder mich betreffende Geschichten mich zu diesen Äußerungen brachten: mit mir geht eigentlich nichts vor; und ich bin sehr ruhig. Weil mir -- zwar nicht am Leibe!! -- alles schon ge-
danken aufzurüttlen, unbefangen zu werden, ſein zu dürfen; patriarchaliſch, und kindiſch all den Schund, miteinander zu vergeſſen! Ich kann im Winter nicht reiſen: Varnhagen darf von hier ohne Grund und Urlaub nicht weg; und unklug wär’s ihn hier allein zu laſſen, ſonſt dürften Sie nur befehlen, und ich käme zu Ihnen. Ohne dieſe Berge von Gründen ſäßen wir im Wagen, führen erſt zu Graf Kalkreuth nach Siegers- dorf, und dann zu Ihnen. Graf Keyſerling ſchmeichelte uns unendlich mit der Ausſage, daß ſein Onkel auf ſeiner letzten Reiſe nach Frankreich ohne ein Hinderniß uns beſucht haben würde; und nur eine ſolche Intention iſt des größten Dankes werth, den wir gerne perſönlich abgeſtattet hätten; und ohne alles Weitere hätte ich ſchon zu Ihnen fahren mögen, um Ihnen beſonders für Ihres Bruders Abſicht zu danken; Sie nur können ſo vortheilhafte Geſinnungen in ihm erregt haben! Es ſollte nicht; aber Treue gegen ſich ſelbſt, und in ſeinen Meinungen, außer, daß ſie die liebenswürdigſte Eigenſchaft und die Wurzel, der Grund, und Halter aller andern iſt, muß noch wie gemeine Dinge ihrer Seltenheit wegen geſchätzt werden. So ſteigen Sie im Werth, liebe Gräfin, da faſt Alle im Welt- gewühl ſinken, und ihr Innres ſich abhanden kommen laſſen; anſtatt dies, dem Juwel gleich, ewig rein zu erhalten, und neue Facetten daran zu arbeiten, daß der Geiſt Lohn und Nahrung finde im Erblicken immer mehreren Lichts der Urſonne. Glauben Sie nicht, ſehr liebe Freundin, daß Einzelnheiten oder mich betreffende Geſchichten mich zu dieſen Äußerungen brachten: mit mir geht eigentlich nichts vor; und ich bin ſehr ruhig. Weil mir — zwar nicht am Leibe!! — alles ſchon ge-
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><p><pbfacs="#f0623"n="615"/>
danken aufzurüttlen, unbefangen zu werden, ſein zu dürfen;<lb/>
patriarchaliſch, und kindiſch all den Schund, miteinander zu<lb/>
vergeſſen! <hirendition="#g">Ich</hi> kann im Winter nicht reiſen: Varnhagen darf<lb/>
von hier ohne Grund und Urlaub nicht weg; und unklug wär’s<lb/>
ihn hier allein zu laſſen, ſonſt dürften Sie nur befehlen, und<lb/>
ich käme zu Ihnen. Ohne dieſe Berge von Gründen ſäßen<lb/>
wir im Wagen, führen erſt zu Graf Kalkreuth nach Siegers-<lb/>
dorf, und dann zu Ihnen. Graf Keyſerling ſchmeichelte uns<lb/>
unendlich mit der Ausſage, daß ſein Onkel auf ſeiner letzten<lb/>
Reiſe nach Frankreich ohne ein Hinderniß uns beſucht haben<lb/>
würde; und nur eine ſolche Intention iſt des größten Dankes<lb/>
werth, den wir gerne perſönlich abgeſtattet hätten; <hirendition="#g">und ohne<lb/>
alles Weitere</hi> hätte ich ſchon zu Ihnen fahren mögen, um<lb/>
Ihnen beſonders für Ihres Bruders Abſicht zu danken; Sie<lb/>
nur können ſo vortheilhafte Geſinnungen in ihm erregt haben!<lb/><hirendition="#g">Es ſollte</hi> nicht; aber Treue gegen ſich ſelbſt, und in ſeinen<lb/>
Meinungen, außer, daß ſie die liebenswürdigſte Eigenſchaft und<lb/>
die Wurzel, der Grund, und Halter aller andern iſt, muß noch<lb/>
wie gemeine Dinge ihrer Seltenheit wegen geſchätzt werden.<lb/>
So ſteigen Sie im Werth, liebe Gräfin, da faſt Alle im Welt-<lb/>
gewühl ſinken, und ihr Innres ſich abhanden kommen laſſen;<lb/>
anſtatt dies, dem Juwel gleich, ewig rein zu erhalten, und<lb/>
neue <hirendition="#g">Facetten</hi> daran zu arbeiten, daß der Geiſt Lohn und<lb/>
Nahrung finde im Erblicken immer mehreren Lichts der Urſonne.<lb/>
Glauben Sie nicht, ſehr liebe Freundin, daß Einzelnheiten<lb/>
oder <hirendition="#g">mich</hi> betreffende Geſchichten mich zu dieſen Äußerungen<lb/>
brachten: mit mir geht eigentlich nichts vor; und ich bin ſehr<lb/>
ruhig. Weil mir — zwar nicht am <hirendition="#g">Leibe</hi>!! — alles ſchon ge-<lb/></p></div></div></div></body></text></TEI>
[615/0623]
danken aufzurüttlen, unbefangen zu werden, ſein zu dürfen;
patriarchaliſch, und kindiſch all den Schund, miteinander zu
vergeſſen! Ich kann im Winter nicht reiſen: Varnhagen darf
von hier ohne Grund und Urlaub nicht weg; und unklug wär’s
ihn hier allein zu laſſen, ſonſt dürften Sie nur befehlen, und
ich käme zu Ihnen. Ohne dieſe Berge von Gründen ſäßen
wir im Wagen, führen erſt zu Graf Kalkreuth nach Siegers-
dorf, und dann zu Ihnen. Graf Keyſerling ſchmeichelte uns
unendlich mit der Ausſage, daß ſein Onkel auf ſeiner letzten
Reiſe nach Frankreich ohne ein Hinderniß uns beſucht haben
würde; und nur eine ſolche Intention iſt des größten Dankes
werth, den wir gerne perſönlich abgeſtattet hätten; und ohne
alles Weitere hätte ich ſchon zu Ihnen fahren mögen, um
Ihnen beſonders für Ihres Bruders Abſicht zu danken; Sie
nur können ſo vortheilhafte Geſinnungen in ihm erregt haben!
Es ſollte nicht; aber Treue gegen ſich ſelbſt, und in ſeinen
Meinungen, außer, daß ſie die liebenswürdigſte Eigenſchaft und
die Wurzel, der Grund, und Halter aller andern iſt, muß noch
wie gemeine Dinge ihrer Seltenheit wegen geſchätzt werden.
So ſteigen Sie im Werth, liebe Gräfin, da faſt Alle im Welt-
gewühl ſinken, und ihr Innres ſich abhanden kommen laſſen;
anſtatt dies, dem Juwel gleich, ewig rein zu erhalten, und
neue Facetten daran zu arbeiten, daß der Geiſt Lohn und
Nahrung finde im Erblicken immer mehreren Lichts der Urſonne.
Glauben Sie nicht, ſehr liebe Freundin, daß Einzelnheiten
oder mich betreffende Geſchichten mich zu dieſen Äußerungen
brachten: mit mir geht eigentlich nichts vor; und ich bin ſehr
ruhig. Weil mir — zwar nicht am Leibe!! — alles ſchon ge-
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Varnhagen von Ense, Rahel: Rahel. Ein Buch des Andenkens für ihre Freunde. Bd. 2. Berlin, 1834, S. 615. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_rahel02_1834/623>, abgerufen am 27.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.