Nichts in der Welt fatiguirt so, als nachlassen und im- mer nachlassen: und unaufhörlich unsre Nachsicht ausüben zu sollen! Wir wollen in Erregung, in Erstaunen gesetzt sein, im Guten oder Schlimmen. Ein Vorurtheil stolz und breit aussprechen zu hören, wird unerträglich, wenn nicht wenig- stens die Person, die damit aufzutreten wagt, es selbst erfun- den hat. Aber wenn unaktive Köpfe, einer nach dem andern, nichts andres thun, als bloß das Überkommene wiederholen, dann fühlt man sich auf's äußerste und bis zur Rachelust gebracht! --
Donnerstag, den 16. December 1824.
Ich war irre, mit Vielen, bis jetzt über Freundschaft, oder vielmehr über Freunde. Nicht muß ein Freund dem andern so viel leisten, als dieser ihm. Solches handelsmäßige Verfahren mag in allen übrigen Verhältnissen Statt finden! Unsre Freunde sind die Gleichgesinnten, die wir, wie uns selbst, müssen ehren können; Freunde sind Menschen, die von einander überzeugt sind; aber bald muß der eine, bald der andere alles leisten, ohne Kalkül anzustellen, und je etwas dafür zu erhalten, noch zu erwarten, noch in sich zu fordern. Und so ist es auch in der Welt; wir haben Freunde, denen wir leisten, und Freunde, die uns leisten; und dies nach den verschiedenen Naturen der Menschen und ihrer Lage gewähren zu lassen, grade darin besteht die Freundschaft. In allen andern Verhältnissen herrscht ja ein offenbarer Handel Ein Freund kann nur ein verehrtes
Sonnabend, den 11. December 1824.
Nichts in der Welt fatiguirt ſo, als nachlaſſen und im- mer nachlaſſen: und unaufhörlich unſre Nachſicht ausüben zu ſollen! Wir wollen in Erregung, in Erſtaunen geſetzt ſein, im Guten oder Schlimmen. Ein Vorurtheil ſtolz und breit ausſprechen zu hören, wird unerträglich, wenn nicht wenig- ſtens die Perſon, die damit aufzutreten wagt, es ſelbſt erfun- den hat. Aber wenn unaktive Köpfe, einer nach dem andern, nichts andres thun, als bloß das Überkommene wiederholen, dann fühlt man ſich auf’s äußerſte und bis zur Racheluſt gebracht! —
Donnerstag, den 16. December 1824.
Ich war irre, mit Vielen, bis jetzt über Freundſchaft, oder vielmehr über Freunde. Nicht muß ein Freund dem andern ſo viel leiſten, als dieſer ihm. Solches handelsmäßige Verfahren mag in allen übrigen Verhältniſſen Statt finden! Unſre Freunde ſind die Gleichgeſinnten, die wir, wie uns ſelbſt, müſſen ehren können; Freunde ſind Menſchen, die von einander überzeugt ſind; aber bald muß der eine, bald der andere alles leiſten, ohne Kalkül anzuſtellen, und je etwas dafür zu erhalten, noch zu erwarten, noch in ſich zu fordern. Und ſo iſt es auch in der Welt; wir haben Freunde, denen wir leiſten, und Freunde, die uns leiſten; und dies nach den verſchiedenen Naturen der Menſchen und ihrer Lage gewähren zu laſſen, grade darin beſteht die Freundſchaft. In allen andern Verhältniſſen herrſcht ja ein offenbarer Handel Ein Freund kann nur ein verehrtes
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><pbfacs="#f0183"n="175"/><divn="3"><dateline><hirendition="#et">Sonnabend, den 11. December 1824.</hi></dateline><lb/><p>Nichts in der Welt fatiguirt ſo, als nachlaſſen und im-<lb/>
mer nachlaſſen: und unaufhörlich unſre Nachſicht ausüben zu<lb/>ſollen! Wir wollen in Erregung, in Erſtaunen geſetzt ſein,<lb/>
im Guten oder Schlimmen. Ein Vorurtheil ſtolz und breit<lb/>
ausſprechen zu hören, wird unerträglich, wenn nicht wenig-<lb/>ſtens die Perſon, die damit aufzutreten wagt, es ſelbſt erfun-<lb/>
den hat. Aber wenn unaktive Köpfe, einer nach dem andern,<lb/>
nichts andres thun, als bloß das Überkommene wiederholen,<lb/>
dann fühlt man ſich auf’s äußerſte und bis zur Racheluſt<lb/>
gebracht! —</p></div><lb/><milestonerendition="#hr"unit="section"/><divn="3"><dateline><hirendition="#et">Donnerstag, den 16. December 1824.</hi></dateline><lb/><p>Ich war irre, mit Vielen, bis jetzt über Freundſchaft, oder<lb/>
vielmehr über Freunde. Nicht muß ein Freund dem andern ſo<lb/>
viel leiſten, als dieſer ihm. Solches handelsmäßige Verfahren<lb/>
mag in allen übrigen Verhältniſſen Statt finden! Unſre Freunde<lb/>ſind die Gleichgeſinnten, die wir, wie uns ſelbſt, müſſen ehren<lb/>
können; Freunde ſind Menſchen, die von einander überzeugt<lb/>ſind; aber bald muß der eine, bald der andere alles leiſten,<lb/>
ohne Kalkül anzuſtellen, und je etwas dafür zu erhalten, noch<lb/>
zu erwarten, noch in ſich zu fordern. Und ſo iſt es auch in<lb/>
der Welt; wir haben Freunde, denen wir leiſten, und Freunde,<lb/>
die uns leiſten; und dies nach den verſchiedenen Naturen der<lb/>
Menſchen und ihrer Lage gewähren zu laſſen, grade darin<lb/>
beſteht die Freundſchaft. In allen andern Verhältniſſen herrſcht<lb/>
ja ein offenbarer Handel Ein Freund kann nur ein verehrtes<lb/></p></div></div></div></body></text></TEI>
[175/0183]
Sonnabend, den 11. December 1824.
Nichts in der Welt fatiguirt ſo, als nachlaſſen und im-
mer nachlaſſen: und unaufhörlich unſre Nachſicht ausüben zu
ſollen! Wir wollen in Erregung, in Erſtaunen geſetzt ſein,
im Guten oder Schlimmen. Ein Vorurtheil ſtolz und breit
ausſprechen zu hören, wird unerträglich, wenn nicht wenig-
ſtens die Perſon, die damit aufzutreten wagt, es ſelbſt erfun-
den hat. Aber wenn unaktive Köpfe, einer nach dem andern,
nichts andres thun, als bloß das Überkommene wiederholen,
dann fühlt man ſich auf’s äußerſte und bis zur Racheluſt
gebracht! —
Donnerstag, den 16. December 1824.
Ich war irre, mit Vielen, bis jetzt über Freundſchaft, oder
vielmehr über Freunde. Nicht muß ein Freund dem andern ſo
viel leiſten, als dieſer ihm. Solches handelsmäßige Verfahren
mag in allen übrigen Verhältniſſen Statt finden! Unſre Freunde
ſind die Gleichgeſinnten, die wir, wie uns ſelbſt, müſſen ehren
können; Freunde ſind Menſchen, die von einander überzeugt
ſind; aber bald muß der eine, bald der andere alles leiſten,
ohne Kalkül anzuſtellen, und je etwas dafür zu erhalten, noch
zu erwarten, noch in ſich zu fordern. Und ſo iſt es auch in
der Welt; wir haben Freunde, denen wir leiſten, und Freunde,
die uns leiſten; und dies nach den verſchiedenen Naturen der
Menſchen und ihrer Lage gewähren zu laſſen, grade darin
beſteht die Freundſchaft. In allen andern Verhältniſſen herrſcht
ja ein offenbarer Handel Ein Freund kann nur ein verehrtes
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Varnhagen von Ense, Rahel: Rahel. Ein Buch des Andenkens für ihre Freunde. Bd. 3. Berlin, 1834, S. 175. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_rahel03_1834/183>, abgerufen am 24.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.